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Die Gleichheit

Gleichzeitig mit dem Ministerialentwurf lag den Rammern ein Vorschlag des Senators Paolo Strauß vor, der unentgelt­liche ärztliche Behandlung mittelloser Wöchnerinnen aus Ar­beiterkreisen einführen wollte, sowie ein Entwurf der Abgeord neten Agnini, Albertelli und Genossen vom 24. Mai 1901, der die Gründung einer Mutters.haftskasse forderte, damit die ge­setzlichen Bestimmungen über die Schutzzeit der Wöchnerinnen beffer durchgeführt werden sollten.

Strauß' Vorschlag wurde wegen des Almosencharakters der verlangten, unentgeltlichen ärztlichen Pflege für Mittellose" ab­gelehnt. Der Entwurf von Agnini, Albertelli und Genossen fiel feinerseits, weil es noch an jeder Vorarbeit zur Begrenzung der Grundlage und des Umfanges einer Mutterschaftstasse fehle.

Die Parlamentskommission erklärte sich bei der Vorberatung dieses Entwurfes durchaus nicht prinzipiell gegen staatliche Or­ganisierung der Fürsorge für Wöchnerinnen, sondern meinte nur: Es ist zu überlegen, ob eine Kasse für das ganze Land gegründet oder den Provinzen, Distrikten, Berufen die Sache überlassen werden soll; ob die Kaffe obligatorisch oder fakul tativ sein soll; welche Beiträge der Arbeiterin, dem Unternehmer, dem Staate aufzubürden seien usw." Schließlich wandte sich die Parlamentskommission um gütigen Beistand an Herrn Zanardelli, den Präsidenten des Staatsrats. Dieser antwortete unterm 24. Juni 1901:

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Die Schaffung einer Unterstützungskasse für Wöchnerinnen aus Arbeiterkreisen erscheint mir aus doppeltem Grunde wün schenswert. Aus rein sozialem Grunde, und weil sie das prak­tischste Mittel wäre, den Artikel 6( über Arbeitsruhe der Wöchnerinnen) prompt durchzuführen. Doch kann ich mich be­treffs der mir unterbreiteten Einzelheiten des Vorschlags nicht sogleich entscheiden, so zum Beispiel, was die Beiträge von Staat, Arbeiterin und Unternehmer anbelangt. Sehr schwierige und heifle Fragen sind außerdem zu erwägen: ob die unver­heiratete Arbeiterin gleich der verheirateten beisteuern und ob

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die verheirateten Frauen die Arbeit aufgeben; über das Höchst­alter, in dem die unverheirateten Arbeiterinnen gewöhnlich die Erwerbstätigkeit einstellen.

Das Arbeitsamt vollendete seine fleißige Untersuchung in etwa anderthalb Jahren und überreichte seine Denkschrift Tech­nische Grundlage einer Mutterschaftstaffe"( Basi Techniche di una Cassa di Maternità) dem Minister 1904. Wir werden später einzelnes daraus in den Motiven" zu den Regierungs­vorlagen finden.

Der Minister( Rava) legte nun den ersten Entwurf zur Mutterschaftstasse am 27. Mai 1905 der Abgeordnetenkammer vor. Wie üblich ging das Dokument zunächst an die hierfür bestimmte Kommission des Hauses zur Vorberatung, und von ihr ward es am 20. Dezember 1907 mit wesentlichen Verbesse­rungen und Verschlimmerungen zurückberichtet.

Ehe die Kammer selbst im Plenum zur Beratung der beiden Entwürfe gelangte, machte Minister Nava einem Nachfolger, Cocco- Ortu, Plaz; dieser zog Ravas Entwurf zurück und reichte am 29. März 1909 der Kammer einen neuen ein. Zu Beginn des Sommers vertagte sich das Parlament, ohne unserem Gegenstand nähergetreten zu sein. Wenn in der bevorstehenden Herbst- und Wintersession Cocco- Ortu noch im Amte ist, käme demnach seine Vorlage zur Verhandlung falls nicht aber­mals durch Verweisung an die Kommission" die Beschluß­faffung um zwei Jahre verzögert wird.

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Wir haben demnach drei Entwürfe vor uns: a. den Ent­wurf Rava vom 27. Mai 1905; b. den der Kommission vom 20. Dezember 1907; c. den Entwurf Cocco- Ortu vom 29. März 1909. Wir werden sie im folgenden mit A, B, C bezeichnen und Entwurf C als das jüngste Kind" im Wortlaut vor­führen. Die Abweichungen dieses Gesetzprojektes von A und B vermerken wir in einem Klammerabsaz().

Die Arbeiterbewegung

bie unverehelichte Wöchnerin an der Unterſtüßung teilnehmen in der Portefeuilleindustrie Deutschlands  .

soll. Eine Wöchnerinnenunterstützungskaffe hat in unserer Ge­setzgebung feinen Präzedenzfall; der Gegenstand muß daher gründlich studiert werden, und das unter spezieller Zuhilfe­nahme des Materials, das die freiwilligen und philanthropischen Wöchnerinnenfassen bieten. Im Ausland wird diese Materie nach Maßgabe der allgemeinen gesetzlichen Krankenkassenbestim­mungen behandelt."

Die Parlamentskommission empfahl nun in dem Bericht, den sie der Kammer erstattete:

" Das dem Ackerbau-, Industrie- und Handelsministerium unterstellte Arbeitsamt( Ufficio del Lavoro  ) möge durch seine Inspektoren Daten sammeln zur ungefähren Berechnung der für eine Mutterschaftskasse nötigen Einnahmen und ihres ver­mutlichen Ausgabenetats."

Im Einverständnis mit der Regierung nahmen dann Kam­mer und Senat zusammen mit dem Kommissionsbericht eine Resolution an, in der der Minister für Ackerbau, Industrie und Handel ersucht ward, die Unterlagen für die Errichtung einer Mutterschaftskasse herbeizuschaffen. Darauf wurde das Frauen- und Kinderschutzgeset" vom 19. Juni 1902 vom Barlament angenommen. Es ist seither am 10. November 1907 abgeändert worden, jedoch nicht in seinem Artikel 6, der sich auf die Ruhezeit der Wöchnerinnen bezieht.

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II.

Der Ackerbau-, Industrie- und Handelsminister erteilte dem Arbeitsamt den Auftrag, für den sich das Parlamentskomitee ausgesprochen hatte: Materialien zur Schaffung einer Mutter­schaftstasse zu sammeln. Er verlangte ferner von den diplo­matischen Vertretern Italiens   im Ausland Bericht über die etwa dort bestehenden ähnlichen Einrichtungen. Sodann richtete er an die bedeutendsten Fabrikunternehmungen Italiens   An­fragen über die Anzahl der bei ihnen beschäftigten Arbeite­rinnen von 15 Jahren und darüber; über die Anzahl der ver­heirateten Arbeiterinnen, über das Alter, in dem gewöhnlich

2. Die Organisationsbestrebungen der Portefeuille­arbeiter bis zum Jahre 1900.

Die Offenbacher   Portefeuilleindustrie erwarb sich bald Welt­ruf und zog in starkem Maße die ausländischen Berufsarbeiter an. In ansehnlicher Zahl famen Wiener Portefeuiller auf der Walze nach Offenbach  , von der langen Reise fast mittellos ge­worden. Die Arbeiter einer Offenbacher   Firma entschlossen sich daher schon im Jahre 1856, eine Kasse zu gründen, um sowohl die Zugereisten, wie auch sich untereinander in Notfällen zu unterstützen. Bei den Zusammenkünften der Mitglieder sollten außerdem Berufsfragen erörtert werden. Da die Portefeuiller anderer Betriebe indifferent blieben, mußte diese Miniatur­organisation wieder eingehen. Doch die Verhältnisse drängten auf Zusammenschluß. Im Jahre 1860 wurde die Buchbinder­und Portefeuillergesellschaft" gegründet, die die obengenannten Zwecke verfolgte und noch Krankenunterstützung gewährte. Diese Organisation hatte mit den Zielen und Bestrebungen der mo­dernen Gewerkschaften wenig gemein, sie trug vorwiegend einen zünftlerischen Charakter. Nach dem Inkrafttreten des Kranken­versicherungsgesetzes( 1884) wandelte sich die Gesellschaft in eine Zuschußkasse um, der heute noch 250 Mitglieder ange­hören.

Nach dem Deutsch  - Französischen   Kriege von 1870/71 lag dic Offenbacher   Portefeuilleindustrie völlig danieder. Ihre Arbeiter­schaft geriet in eine furchtbare Notlage. Die Stadtgemeinde sah sich veranlaßt einzugreifen und zog eine große Anzahl Portefeuiller zu Gartenarbeiten heran. Noch heute heißt eine da­mals geschaffene Anlage im Volksmunde Portefeuillerwäldche". Die noch im Gewerbe tätigen Arbeiter ergriff der Gedanke, eine gewerkschaftliche Organisation der Portefeuiller zu gründen, die sich über ganz Deutschland   erstrecken sollte. Dieser Gedanke fand lebhaften Anklang, und am 17. April 1871 wurde er in die Tat umgesetzt. Als Präsident wurde ein überzeugter Lassalleaner gewählt, und die Organisation segelte von