Nr. 19
Die Gleichheit
Dieses Anwachsen der Krankheitsfälle bei den weiblichen Mit gliedern ist um so auffälliger, als das Verhältnis der Erkrankungsziffer zur Gesamtmitgliederzahl sich etwas günstiger stellt als 1908. Die Ermittlung der einzelnen Krankheiten ergab unter anderem einen Rückgang der Infektionsfrankheiten, der wohl darauf zurückzuführen ist, daß die Influenza im Winter 1909 nicht so schlimm haufte wie im vorhergehenden Jahre. Dagegen sind die Krantheiten der Haut, Knochen, Muskeln und Sehnen bei Männern und Frauen häufiger aufgetreten. Auch die Erkrankungen des Nervensystems find in steter Zunahme begriffen. Diese Erscheinung ist zurückzuführen auf die immer größer werdende Anspannung der Arbeits- und Nervenkraft durch die steigende Hast und Intensität des Betriebs, wie sie im Wesen unserer tapitalistischen Zeit liegt. Bei den Männern fonstatiert der Bericht einen Rückgang der Krant heiten der Haut- und Geschlechtsorgane. Bei den Frauen dagegen, wo diese Krankheiten ohnedies häufiger sind, ist auch in diesem Jahre eine weitere Zunahme zu verzeichnen. Besondere Beachtung verdient ferner der Umstand, daß 1909 bei den Handlungsgehilfen 7,96 Prozent der Erkrankungen gegen 7,34 Prozent im Jahre 1908 auf Verletzungen zurückzuführen sind. Diese Tatsache ist ein schla gender Beweis dafür, wie dringend notwendig es ist, die Handlungsgehilfenschaft in die Unfallversicherung einzubeziehen. Die Handlungshilfsarbeiterinnen leiden vor allem an Erkrankungen der Respirationsorgane, auf die 17,87 Prozent aller Krankheitsfälle kommen. Bei den Handlungsgehilfinnen find Krankheiten des Verbauungsapparats am häufigsten aufgetreten mit 18,98 Prozent, dann Erkrankungen der Respirationsorgane mit 15,88 Prozent. Auffallend ist die Erscheinung, daß bei den männlichen Mitgliedern die größte Zahl der Krankheitsfälle sowie der Krankheitstage auf die obersten Lohnklassen entfällt, bei den Frauen umgekehrt auf die untersten. So entsteht durch die bekannte schlechte Entlohnung der Frauenarbeit im Handelsgewerbe eine bedeutende Mehrbelastung ber Krankenkassen. In bezug auf die Krankheitsdauer ist es besonders auffällig, daß sie bei den Frauen bedeutend länger ist als bei den Männern. Bei 25 Prozent aller erfrankten weiblichen Mitgliedern beanspruchte die Heilung 4 bis 13 Wochen, während dieselbe Krankheitsdauer nur bei 19 Prozent der erkrankten männlichen Mitglieder fonstatiert wurde. Dabei ist zu beachten, daß die durchschnittliche Dauer jedes mit Erwerbsunfähigkeit verbundenen Krankheitsfalles betrug bei den
in der ersten Lohnklasse.
%
fünften
.
.
Männern 27,69 Tage 20,66
Frauen 31,68 Tage 29,76#
Aus diesen Feststellungen geht hervor, daß die Angehörigen der untersten Lohntlasse, die täglich 50 Pf. Krankengeld erhalten und infolge ihres geringen Verdienstes außerstande sind, sich etwas zn ersparen, noch vor ihrer völligen Wiederherstellung zur Arbeit zurückkehren müssen. Daß unter solchen Umständen häufig Rückfälle eintreten oder ein dauernder Schaden zurückbleibt, liegt auf der Hand. Interessante Tatsachen erhellen schließlich auch aus der Statistik der Krankheitsfälle nach Altersklassen. Bei Männern wie bei Frauen treten die meisten Erkrankungen im Alter von 16 bis 20 Jahren auf. Auf die Jahresdurchschnittsziffern entfallen bei den Männern bei den Frauen 11,15 Prozent
16
21
26
bis 15 Jahren # 20
$
V
25
30
31# 35 36$ 40
=
•
24,82
•
.
23,00
13,93
10,05
6,78
17,14 Prozent
33,87 V
19,58
=
10,47 7,04 4,48
%
Diese Ziffern beweisen, wie notwendig es ist, daß das Schuh alter für jugendliche Arbeitskräfte heraufgesetzt wird, damit der Organismus nicht durch überanstrengung dauernden Schaden zu ber Zeit erfahre, wo die Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Am eindringlichsten spricht jedoch der enorme Unterschied von fast 10 Prozent zwischen der Häufigkeit der Erkrankungen beim männ= lichen und beim weiblichen Geschlecht gerade im Alter von 16 bis 20 Jahren. Diese wie die oben hervorgehobenen Erscheinungen lassen erkennen, daß die Frau infolge der ihr eigentümlichen Körperlichen Veranlagung, die im engsten Zusammenhang mit der Erfüllung der Mutterschaft steht, auch im Handelsgewerbe eines besonderen weitreichenden gefeßlichen Schutzes gegen das Übermaß der kapitalistischen Ausbeutung bedarf. Wo dieser Schutz fehlt, wo das Profitbegehren des Handelstapitals sich fast schrankenlos durchsetzt, da führt die berufliche Tätigkeit der Handelsgehilfinnen und hilfsarbeiterinnen so gut wie die ausgebeutete industrielle Lohnarbeit zu schweren gesundheitlichen Schädigungen. Der Berband der Handelsgehilfen, der seinen Mitgliedern ohne
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Unterschied des Geschlechts den Schuß der gewerkschaftlichen Selbsthilfe gegen die kapitalistische Ausbeutung gewährt, kämpft daher mit Fug und Recht auch für ausgiebigen Schutz der Lohnsklavinnen im Handelsgewerbe durch die Gesetzgebung. Die vorliegenden Ergebnisse der Berliner Ortsfrankentasse sind für unsere Genossinnen treffliche Waffen, den Verband in diesem seinem doppelten Kampfe zu unterstützen.
Fürsorge für Mutter und Kind.
Säuglingsfürsorge in Nürnberg . In Nürnberg fanden eine Reihe von Versammlungen für Arbeiterinnen und Hausfrauen statt, in denen Arzte über„ Die Ernährung und Pflege des Kindes von der Geburt bis zum ersten Lebensjahr" sprachen. Die Versammlungen waren von der Unterzeichneten einberufen worden. Die Roften trugen die Mutterberatungsstellen. Als Haupterforder nis für das Gedeihen des Kindes bezeichneten die Redner übereinstimmend, daß das Kind in den ersten sechs Monaten von der Mutter genährt werde. Durch Unreinlichkeit, so führten sie des weiteren aus, sind die Säuglinge mehr tödlichen Erkrankungen aus gesetzt als durch sonstige Einflüsse. Strengste Reinhaltung der Kinder, Sauberkeit der Betten, Eß- und Trinkgefäße ist unerläßlich. Schon von Geburt an muß das Kind an Regelmäßigkeit gewöhnt werden. Von 8 Uhr abends bis 5 Uhr morgens braucht, ja soll das Kind feine Nahrung erhalten. In dieser Zeit ist Ruhe nicht nur für das Kind von größtem Wert, sondern vor allem für die Mutter, die häufig tagsüber schwer arbeiten muß. Die Wohnungsverhält nisse, die ein so wichtiges Moment für die Gesundheit der Erwachsenen sind, üben erst recht auch einen entscheidenden Einfluß auf das Gedeihen der Säuglinge aus. Frische Luft, Ruhe, viel Schlaf und Nahrung, das sind die Hauptbedürfnisse eines Kindes im ersten Lebensjahr. Ein Säugling braucht kein Spielzeug, keinerlei glitzernde Gegenstände. Die dadurch bewirkte Zerstreuung ist unnötig, ja schädlich, weil sie nur nervös macht. Auch sollte man bei ganz kleinen Kindern das viele Herumtragen, Schütteln und Wiegen vermeiden. Einer der Ärzte wies noch besonders auf die städtischen Einrichtungen für Säuglingspflege hin und ermunterte die Arbeiterfrauen, davon Gebrauch zu machen, da das keine Armenunterstützung sei. Es bestehen in Nürnberg sechs Mutterberatungs. stellen, die unentgeltlich Auskunft erteilen. An stillende Mütter wird auf Antrag Unterstüßung von 40 bis 60 Pf. pro Tag auf die Dauer von 26 Wochen gewährt. An Mütter, die nicht stillen tönnen, wird Flaschenmilch verabreicht, und zwar auf Antrag unentgeltlich oder aber zum Preise von 10 Pf. für eine Tagesnahrung, die aus sechs Flaschen Säuglingsmilch besteht. Zum Schlusse stellte die Einberuferin diesen gewiß sehr anerkennenswerten Einrichtungen die viel weitgehenderen sozialdemokratischen Forderungen betreffs Säuglingsfürsorge gegenüber und betonte, daß die Frauen durch politische und gewerkschaftliche Organisation sehr viel zur Ver wirklichung dieser Forderungen beitragen können. Die beste Förde rung der Säuglingsfürsorge ist Hebung der wirtschaftlichen Lage der Arbeitssklaven im allgemeinen, der Frauen im besonderen und ausreichende Fürsorgemaßregeln durch die Krankenkassenversicherung in Kommune wie Staat. Helene Grünberg .
N
Frauenstimmrecht.
Damenwahlrecht, Freifinn und Sozialdemokratie. In der Sigung vom 6. Juni des preußischen Abgeordnetenhauses gelangten zwei Petitionen bürgerlicher Frauenvereine zur Verhandlung, die sich auf die kommunalen Rechte des weiblichen Geschlechts bezogen. Der Schlesische Frauenverband" in Breslau forderte die Einführung des fommunalen Stimmrechts für Frauen und der„ Schlesische Verein für Frauenstimmrecht" verlangte die selb= ständige Ausübung des Gemeindewahlrechts durch die grundbesitzenden Frauen. Grundbesitzende Frauen haben bereits in manchen Landesteilen Preußens das kommunale Wahlrecht, nach der Landgemeindeordnung dürfen sie aber nicht persönlich stimmen, sondern ein Stellvertreter muß mit der Ausübung ihres Wahlrechts betraut werden, eine Bevormundung, die den Gutsherrinnen nicht paßt. Die Petitionskommission des Dreiklaffenparlaments hat sich bereits vor kurzem mit den beiden Forderungen befaßt, welche von den frauenrechtlerischen Organisationen erhoben wurden. Wir haben darüber berichtet und geben nun das wichtigste aus den Verhandlungen des Plenums wieder, die in mehr als einer Hinsicht interessant sind. Die Fortschrittliche Volkspartei wünschte die Petition für die selbständige Ausübung des Rechts der Grundbesitzerinnen der Regierung zur Berücksichtigung zu überweisen. Ihr Redner, Dr. Schepp, schilderte den„ Terrorismus", der auf die grundbesitzenden Frauen dank der Stellvertretung ausgeübt