Nr. 22

Die Gleichheit

den freiwillig Versicherten 0,3 Prozent. Ich möchte hierbei auch hervorheben, daß die Personen, die zu früh zur Welt gekommen sind, in der Regel zu denen gehören, die für die Krankenkassen die größten Versicherungsrisiken bilden, daß also auch dadurch die Krankenkassen bedeutend belastet werden. Alle diese Lasten für die Krankenkassen würden sich vermindern in dem Augenblick, wo all­gemein den Frauen die Möglichkeit gegeben wäre, sich in der letzten Zeit vor der Entbindung genügend auszuruhen und nach der Nieder­funft nicht sofort wieder erwerbstätig sein zu müssen.

Die Krankenkassen werden nach Einführung der Mutterschafts­versicherung sicherlich dieselben Erfahrungen machen, die sie mit dem vorbeugenden Heilverfahren gemacht haben. Die Mutterschafts­versicherung soll ja im Grunde genommen nichts anderes sein, als ein vorbeugendes Heilverfahren. Immerhin würde ihre Einführung eine Belastung der Krankenkassen bedeuten und sicher auch erhöhte Beitragsleistungen notwendig machen. Trotzdem aber muß die Mutterschaftsversicherung eingeführt werden, und zwar im allge meinen Interesse, und sie ist auch durchzuführen. Die Ausdehnung der Gehaltsgrenze für die Versicherungspflichtigen würde einmal schon den Krankenkassen erhöhte Mittel geben und ferner würden ficher auch die weiblichen Mitglieder gern mehr zahlen, wenn ihnen ein solches Aquivalent geboten würde. Ebenso würden dies auch die männlichen Mitglieder für eine Versicherung tun, die ihnen nicht direft, aber doch der Allgemeinheit zugute fommt. Daß übrigens auch die Männer zur Aufbringung der Mittel für eine Mutter­schaftsversicherung herangezogen werden, ist wohl nur gerecht. Selbst auf die Gefahr hin, daß der Beitragssatz auf über 6 Prozent, bisher bekanntlich der höchste Satz, der auch im Entwurf der Reichsver ficherungsordnung beibehalten ist, erhöht werden müßte, muß eine Mutterschaftsversicherung durchgeführt werden, und die Arbeiter­schaft würde sich nicht weigern, wenn ihr dadurch erhöhte Beitrags­leistungen aufgebürdet würden.

Trotzdem bin ich überzeugt, daß die Frage der Einführung einer Mutterschaftsversicherung auf großen Widerstand, nicht in unseren Reihen natürlich, aber an anderen Stellen, stoßen wird. Das kann uns aber nicht hindern, auf ihre Einführung mit allem Nachdruck hinzuarbeiten. Die Größe und Leistungsfähigkeit der Nation hängt ab von der Volksgesundheit, und diese wird nur garantiert durch einen ausreichenden Mutterschutz.

Johann Gottfried Seume  .

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Von Dr. W. Hausenstein. II.

Nach dem Versailler   Frieden von 1783, der die Unabhängig­keit der Vereinigten Staaten   besiegelte, wurde Seume   nach Europa   zurücktransportiert. In Bremen   gelang ihm die Flucht, aber preußische Werber schleppten den hessischen Deserteur nach Emden  . Dort hatte Seume   drei Jahre lang die preußische Muskete zu tragen. Man mag ihm gerne glauben, daß seine Seele damals schwärzer war als Shakespeares schwär­zestes Trauerspiel". Zwei verzweifelte Desertionsversuche mißglückten. Bloß die moralische überlegenheit der Persönlich feit Seumes, der Fürspruch der bürgerlichen Bevölkerung in Emden  , bei der Seume äußerst populär war, und die Sym­pathie des trefflichen Generals Courbière   haben den Deserteur gerettet. Das Kriegsgericht hatte nach der zweiten Deſertion der Form halber immerhin die Strafe des Spießrutenlaufens aussprechen müssen, die jedoch ganz wider preußischen Brauch in eine sechswöchige Arreststrafe verwandelt wurde. Nach diesen Vorfällen erhielt Seume   von einem Emdener Bürger eine Kau tionssumme, mit der er sich Urlaub verschaffte. Er kehrte nicht zurück, sandte aber dem wackeren Bürger vom nächsten Schrift stellerhonorar das Geld wieder.

Nach Leipzig   zurückgekehrt, begann Seume   wieder wissenschaft­lichen Arbeiten nachzugehen. Anfang 1792 schloß er seine philo­sophischen, philologischen und juristischen Studien mit dem philo­sophischen Magisterexamen ab. Dann habilitierte er sich mit einer Arbeit über Bewaffnungsgeschichte. Aber Seume   war zum aka­demischen Leben nicht gemacht; er selber empfand es deutlich. Als Hauslehrer eines jungen livländischen Adligen gewann er Be­ziehungen zu dem Gouverneur von Russisch- Polen, dem Freiherrn  Otto Heinrich von Jgelström. Dieser Mann, ein Vollbluttypus aus der russischen Verwaltungs- und Militäraristokratie, üppiger,

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prachtliebender, sinnlicher, verständiger" Diplomat, tüchtiger politischer Despot", dabei aber großmütig und gutmütig", ver­sorgte Seume   mit einem russischen Leutnantspatent und be­schäftigte ihn, den" Philosophen", den imponierenden sittlichen Ausnahmemenschen, mit achtungsvoller Herzlichkeit als diplo­matischen Sekretär. Zu der Zeit, in der Seume in russische Dienste trat, bereiteten die Höfe von Berlin   und Petersburg gerade eine Aufteilung polnischen Gebietes vor. Ein gewaltiger Teil der diplomatischen Korrespondenz lag in Seumes Händen. Mit einer Verschwiegenheit, einem Pflichtgefühl und einer per­sönlichen Unbestechlichkeit, die einer besseren Sache wert gewesen wären, tat Seume   seinen wichtigen Sekretärdienst; ein trefflicher Mensch diente einer unedlen Sache. Die polnische Revolution vom Frühjahr 1794, halb demokratische Auflehnung der unteren Klassen gegen jede Unterdrückung, halb gemeinsame Angelegen­heit aller nationalpolnischen Geister gegen die Fremdherrschaft, Folge der preußischen und russischen Raubpolitik in Polen   und zugleich feudaler Mißwirtschaft des polnischen Adels, hätte Seume   beinahe den Tod gebracht. Er überlebte die gräßlichen Straßenkämpfe, geriet aber in polnische Gefangenschaft und wurde erst November 1794, nach der blutigen Einnahme des revolutionären Warschau   durch Suworow  , wieder befreit.

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Nach der Befreiung ging Seume   mit Urlaub nach Leipzig  . Seine Sympathie für den Staatsdienst war endgültig gebrochen. In seinem Leben begann eine neue Periode. Keinen Augen­blic war Seume   ein Freund des Militarismus gewesen. Hatte er den russischen Militärdienst gesucht, so hatte er es mit einem humanen, menschenfreundlichen Programm getan. Er sah die Fruchtlosigkeit nur geschriebener und gesprochener Ge­danken über den Krieg und den Kriegsdienst. Solange man nicht Aufklärung und Humanität unter die Armeen bringt, fann man am Pulte mit Aufwand von Geistesfraft alle Gänses fiele stumpf schreiben, die brutale Kraft der Kartätschenwerfer und Bajonetteträger wird immer die Oberhand behalten." Seume   hatte gehofft, den Militarismus von einer unmittelbar aktiven militärisch- staatsdienstlichen Stelle aus zu überwinden. Der Irrtum war verzeihlich, zumal da es sich um einen Frr­tum seines Temperaments handelte, das den kraftvollen Körper und den kraftvollen Geist zu Abenteuern hinausriß. Seume  hat ihn fein zweites Mal begangen. Eine ungeheure Selbst­überwindung war für einen Mann von seinem Tätigkeitstrieb und seinen Kenntnissen der Verzicht auf ein Amt. Aber Seume  hat diesen Verzicht seit der Rückkehr nach Deutschland   bewußt geleistet. Ihm standen viele Wege offen. Wiewohl er seinen Urlaub überschritten hatte, erhielt er doch vom Zaren Paul die Einladung, in den russischen Militärdienst zurückzukehren. Der Dichter Maximilian Klinger  , der am russischen Hofe viel galt, bot Seume   eine Dorpater Professur an. Seume   fonnte eine Lehrkanzel für englische Literatur und Sprache in Leipzig  erhalten. Er hat, so armselig er lebte, feine Stelle angenommen. Auch der Gedanke, in den preußischen Staatsdienst zu treten, war rasch überwunden. Seume   sah voraus, daß er vor jedem " Strohkopf von Junker, dessen Tante oder Onkel etwas übers Herz genäht hat", würde zurücktreten müssen. Die Bes gründung, die er sich selber gab, war klar und bitter: das ist System". Seit Herbst 1794 lebte Seume   programmatisch das Leben des oppositionellen Privatmannes, der sein Amt nur als Anwalt der gedrückten Menschheit, nur als Verkünder des Evangeliums der politischen Vernunft, der politischen Freiheit finden konnte. Diese Wandlung geschah nicht ohne Übergang. Vier Jahre seines Lebens, die Zeit von 1797 bis 1801, mid­mete Seume als Korrektor im Dienste des Verlegers Göschen, seines Freundes, der Herausgabe der Werke Klopstocks  . Wäh rend dieser Jahre schärfte sich sein politischer Verstand im stillen. Zweimal trieb unglückselige Liebe den Mann ganz in den Umkreis seiner privatesten Empfindungen zurück; zweimal stand Seume  , der fein Erlebnis erlebte, ohne seine ganze Per­sönlichkeit darin zu verbrauchen, dicht vor dem Selbstmord. Und zweimal trieb ihn innere Unrast in ferne Länder. 1802 bereiste Seume   während neun Monaten Österreich  , Italien   und Frankreich  ; das war der noch heute berühmte Spaziergang