Nr. 6

Die Gleichheit

sondern auch des Zentrums der Polizei das Zeugnis ausstellt, daß sie ihre Pflicht getan hat, das versteht sich von selbst. Es ist schon erstaunlich, daß der Philosoph" auf dem Kanzlerstuhl der Anklage schrift nicht das blöde Märchen von der planmäßigen Leitung, von der sozialdemokratischen Proberevolution usw. nachgeschwätzt hat aber das ging nun, nachdem diese Märchen zum allgemeinen Ges spött geworden sind, doch wohl nicht mehr an. Um so fräftiger hat dafür der Kanzler die Paufe gerührt, um der Sozialdemokratie wenigstens die mittelbare, die moralische Verantwortung für die Unruhen aufzuhalsen. Eine beliebte Methode- wenn man jemandem die Schuld an irgendeinem Malheur nicht geben kann, so schiebt man ihm wenigstens die moralische Schuld zu.

Es hat indes nicht den Anschein, daß das Mittel des roten Wahlschrecks verfängt und daß die Wähler infolge des verlogenen Geschreis von der sozialdemokratischen Revolution zu Moabit   ge neigt sind, die Sünden der Reaktion wieder zu vergessen. Die Lasten der Finanzreform und die Folgen der gesamten Wirtschafts­politik sprechen eine zu eindringliche Sprache. Das zeigt die Nach wahl in Labiau  - Wehlau  , die im ersten und zweiten Gang mit einer schweren Niederlage der Konservativen geendet hat.

Die Moabiter Räubergeschichten haben nicht gezogen, und mit jedem Verhandlungstag des Prozesses schwindet die Aussicht darauf mehr und mehr. Die freiwilligen Zeugen, die sich auf den Notruf Jagows gemeldet haben, haben sich bereits mit unsterb licher Lächerlichkeit bedeckt und schon sind Kriminalbeamte als Lock­spizzel bei den Krawallen entlarvt worden. Herr v. Jagow will den Vorwärts", der die letztere Tatsache entsprechend kommentiert hat, verklagen. Die Polizei hat an einem Moabiter Prozeß noch nicht genug. Die Wahlen in England haben bisher keine Überraschungen gebracht, das Verhältnis der Parteien hat sich kaum verschoben.

Gewerkschaftliche Rundschau.

H. B.

Die Errichtung von Fabritwohnungen pflegt der deutsche Unternehmer als einen Ausfluß seiner überquellenden Fürsorge für die Arbeiter zu preisen. Doch ist der Pferdefuß dieser Uneigen­nüßigkeit zu offensichtlich: der Arbeiter gerät in starke Abhängig feit vom Unternehmer, und das allein schon macht das Mieten folcher Fabrikwohnungen zu feiner reinen Freude. Außerdem ist aber erwiesen, daß diese Art Wohnungen sehr oft den hygienischen Anforderungen durchaus nicht entsprechen. Das ist zwar keine Neuigkeit, denn besonders der erbärmliche Zustand der Werkwoh­nungen auf den Gruben war längst bekannt. Jetzt hat aber eine statistische Erhebung der Kommission zur Beseiti gung des Kost- und Logiszwanges ein weitschichtiges Be­weismaterial zusammengetragen. Die betreffenden Ergebnisse sind in einer Broschüre enthalten: Die Zustände im deutschen Fabrik­wohnungswesen", die im Verlag der Generalkommission erschienen ist. In dem Schriftchen sind die Untersuchungen von 8066 Fabrik wohnungen zusammengestellt. Wir können natürlich hier unmöglich die Ergebnisse im einzelnen besprechen. Vor allem ist durch die Umfrage erwiesen, daß die meisten Fabrikwohnungen in bezug auf Größe und Höhe und Anzahl der Räume, Beleuchtung und Heizung noch nicht einmal den geringen hygienischen Anforderungen ents sprechen, die einige bürgerliche Sozialreformer stellen. Bezeichnend für den feudalen Herrenstandpunkt der Fabrikanten aber ist es, daß nicht weniger als 92,95 Prozent der Mietverträge die Bestimmung enthalten, daß nur an Leute abvermietet werden darf, die im Be trieb beschäftigt sind, und daß von 3033 Verträgen 3009 mit der Lösung des Arbeitsverhältnisses zugleich ablaufen. Bei Streifs muß die Wohnung laut Vertrag sofort, bei Lösung des Arbeits­vertrags innerhalb 24 Stunden, spätestens innerhalb dreier Tage geräumt werden. Die Unternehmer, die ihre Arbeiter mit Fabrik wohnungen beglücken, fennen genau den Grund ihrer Wohlfahrts einrichtung". Wie der Hörige an die Scholle gefesselt war, so soll der Arbeiter an die Fabrit gefesselt werden. Und dafür ver­langen die Herren noch den Ruhm der Arbeiterfreundlichkeit".

Die Vergarbeiter im Ruhrgebiet   haben Ernst gemacht und dem Zechenverband ihre Forderungen eingereicht. In einer Ein­gabe an diese Scharfmacherorganisation haben sie die einzelnen Punkte ihrer Forderungen eingehend begründet. Das ständige Sinfen der Löhne im Bergbau, das zahlenmäßig nachgewiesen wird, rechtfertigt allein schon die Forderung auf eine Lohnerhöhung von 15 Prozent ab 1. Januar 1911, zumal die Werte größere überschüsse erzielen als im Vorjahr. Nach dieser Forderung ist die wichtigste die, daß der im vorigen Jahre errichtete 3wangsarbeitsnachweis in cinen Arbeitsnachweis auf paritätischer Grundlage umgewandelt wird. Des weiteren verlangen die Bergarbeiter eine erhöhte Leistung der Knappschaftstasse und Extrabezahlung

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der Nebenarbeiten, wie Verbauen der Grube usw. Heute werden diese Arbeiten in den Lohn eingerechnet, ein Stand der Dinge, der zu fieberhafter Haft mit ihren Folgen treibt und das durch Gesundheit und Leben der Bergarbeiter schädigt. Die Berg­herren haben alle Forderungen glatt abgelehnt. Die große Berg­arbeiterbewegung hat wieder eine bemerkenswerte und beschämende Erscheinung gezeitigt: das Verhalten des christlichen Gewerkvereins. Während die Organisation der Polen und die der Hirsch- Duncker­schen gemeinsam mit dem alten Verband vorgingen, lehnte das der christliche Verband ab. Besonders gut nimmt sich die Begrün­dung dafür aus: der alte Verband bekämpfe stets die christliche Organisation, und die Bewegung solle nur politischen Zwecken, der Agitation zu den Reichstagswahlen dienen. Die christlichen Ge­werkschaftsführer mühen sich im Schweiße ihres Angesichts, durch die Presse diese Auffassung zu verbreiten und zu begründen. Eine Mohrenwäsche das. Aus dieser Erkenntnis heraus hat der Gewerks verein sich veranlaßt gesehen, auch seinerseits" Forderungen" ein­zureichen. Sie sind auch danach. So maßvoll sind die Forderungen ausgefallen, daß die Bergherren den Christlichen bestätigten, ihre Eingabe sei in höflicher, beinahe unterwürfiger Form ge­halten. Ob sich die drohenden Gewitterwolfen im Ruhrfohlenbecken in einer langverhaltenen Streitbewegung entladen werden, wird die nächste Zeit Tehren. Geschieht es, so bekommen wir in Deutschland  einen Streit, der schon seinem Umfang nach von größter Bedeutung wäre, sind doch im Revier rund 350 000 Bergleute beschäftigt. Jedenfalls dürfen die Grubenproletarier versichert sein, daß der Kampf um ihre vollauf berechtigten Forderungen von der gesamten deutschen   Arbeiterklasse tatkräftigst unterstützt werden wird.

In der Pirmasenser Schuhindustrie ist eine Einigung erzielt worden. Die Arbeitszeit, die jetzt meist 60 Stunden wöchent lich beträgt, wird ab Juli 1911 auf 57 Stunden und ab Juli 1912 auf 54 Stunden verkürzt. Überstunden sollen im Jahre 40 zulässig sein, darüber hinaus müssen sie mit 10 Pf. besonderem Zuschlag pro Stunde vergütet werden.

Der Streit der Buchbinder, Kontobuch- und Karton­nagenarbeiter und arbeiterinnen in Hannover   mußte abgebrochen werden, weil die Unternehmer eine namhafte Zahl von Arbeitskräften von auswärts erhalten hatten. Geringe Lohn­erhöhungen von etwa durchschnittlich einer Mark pro Woche wurs den dennoch erreicht. Auch der Streit in Braunschweig   wurde mit ähnlichem Resultat beendet.

Die erfolgreiche Lohnbewegung der Einnehmer in der Ham burger Vittoria" hat weitere Kreise gezogen; daß in der Lohnfrage bei allen Inkassostellen der Gesellschaft Zugeständnisse erzielt wurden, ist dem Eintreten des Verbandes der Bureauange­stellten zu verdanken.

Die Lohnbewegung der Berliner   Gasarbeiter ging ebens falls günstig aus; für etwa 2750 Arbeiter wurde eine Stunden­lohnerhöhung von 8 Pf. erreicht; es macht dies eine Mehraufwen­dung von rund 230 000 Mt. im Berliner   Stadtetat aus.

Nach elfwöchiger Dauer führte der Seemannsstreit in Stettin   zu einem befriedigenden Ergebnis. In Verhandlungen mit dem Oberbürgermeister wurde der Monatslohn ab 1. Januar auf 63 Mt., ab 1. April auf 65 Mt. erhöht. Die Seeleute hatten eine sofortige Erhöhung auf 65 Mr. verlangt.

Eine Lohnbewegung bereitet sich in einer Industrie vor, deren Arbeiterschaft mit zu den elendesten gehört, in den Rohglas= schleifereien der Oberpfalz  . Durch einen Gewerkschafts. vertreter wurden dort geradezu grauenhafte Zustände aufgedeckt. Die Arbeitszeit ist völlig unbeschränkt, oft bringen die Arbeiter die Turzen Ruhepausen im Betrieb selbst zu, in einem Winkel schlafend. Die Arbeitsräume sind wahre Gifthöhlen. Infolge des Glas­schleifens mit Sand find sie ewig verstaubt, das nötige fortwährende Waschen erhält die Fußböden stets naß. So wirken verschiedene Umstände zusammen, um die Gesundheit der Arbeiter zu brechen. Die Werkwohnungen spotten jeder Beschreibung. Es kommt vor, daß ein Raum fünf Familien beherbergt. Und in solchen Höhlen sind die Frauen als Heimarbeiterinnen tätig, sie polieren die Spiegelscheiben mit Schmirgel. Die Traulichkeit" solcher Wohn­räume" läßt sich denken. Die Männer verdienen bei 17 bis 18 stündiger täglicher Arbeitszeit wöchentlich 10 bis 12 Mt., die Frauen in der Hausarbeit dazu 3 bis 5 Mf. pro Woche. Der be rühmte Entbehrungslohn" hat den Unternehmern Millionen ge­bracht. Es ist eine Zentrumsdomäne, in der die kurz stizzierten menschenunwürdigen Zustände herrschen. Sie konnten sich nur her­ausbilden, weil es dort an politischer und gewerkschaftlicher Auf­flärung der Arbeiter bisher so gut wie gefehlt hat. Die Dunkel­männer haben zu Nuh und Frommen des Geldsacks der modernen Arbeiterbewegung jeden zoll Boden streitig gemacht.