Nr. 18
21. Jahrgang
Die Gleichheit
Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen
Mit den Beilagen: Für unsere Mütter und Hausfrauen und Für unsere Kinder
Die Gleichbett erscheint alle vierzehn Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pfennig; unter Kreuzband 85 Pfennig.
Jahres- Abonnement 2,60 Mart.
Inhaltsverzeichnis.
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5. Juni 1911
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Für
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Witwen- und Waisenverhöhnung.- Bon den italienischen Proletarierinnen. Von den italienischen Proletarierinnen. Von Angelita Balabanoff. Bürgerliche Reformversuche. Bon Gertrud Hanna . Von einem anderen Lande. Von Elisabeth Pabst. Mutter und Säuglingsschutz.( Fortsetzung.) Aus der Bewegung: Von der Agitation. Von den Organisationen. Ein eigenes Heim der Nürnberger Jugendorganisation. Von der Kinderschutzkommission in Rüstringen . Politische Rundschau. Von H. B. Gewerkschaftliche Rundschau. Aus der Holzindustrie. Von fk. Solidarität unorganisierter Arbeiterinnen. Von h. sch. Aufruf des Transportarbeiterverbandes. Genossenschaftliche Rundschau. Von H. F. Notizenteil: Dienstbotenfrage. Soziale Gesetzgebung. Sozialistische Frauenbewegung im Ausland. Frauenstimmrecht. Frauenbewegung. Verschiedenes.
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Witwen- und Waisenverhöhnung.
„ Sieh meine Hände, die der Mord gerötet,
Mein Auge, das von Blutgier funkelt!
In manchem Winkel meiner Höhle häuft sich Verwesend Menschenfleisch und moderndes Gebein. Komm, folge mir und schau! Dein Vater ward mein Fraß, Und deine Kinder werde ich verschlingen."
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Eugène Pottier ist es, der heldenkühne Kommunekämpfer, der große Dichter des sozialistischen Proletariats in Frankreich , der also die„ uralte Menschenfresserin" sprechen läßt, das als „ Gesellschaft vermummte" Privateigentum. Diese Verse klingen in der Seele, wenn man aufmerksam die Behandlung der Reichsversicherungsordnung verfolgt.
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Die Reichsversicherungsordnung selbst wirft mittels der sozialen Aufgaben, die sie anerkennt, ein unbarmherzig scharfes Licht auf das Wesen der kapitalistischen Ordnung, dessen menschenvernichtende Wirkungen es abzuschwächen gilt. Wie aber das geschehen soll, wie die Gesellschaft die ihr entgegenstarrenden Aufgaben lösen möchte, das läßt unzweideutig ein Weiteres in die Erscheinung treten: Das ausbeutende Eigentum hat in den besitzenden und herrschenden Klassen und ihrer politischen Vertretung der Regierung und den bürgerlichen Mehrheitsparteien die Fähigkeit und den Willen getötet, die Sünden des Kapitalismus auch nur soweit gut zu machen, als es im Rahmen der bürgerlichen Ordnung möglich wäre. Diese beute gierige, machttolle Gesellschaft ist im Taumel des Sichbereicherns und Genießens nicht einmal einer leidlich anständigen Reform politik fähig, die das krachende. Gebäude ihrer Herrschaft für einige Zeit stützen könnte. Was in dieser Hinsicht die Verhandlungen über die Mutterschafts- und Säuglingsfürsorge erwiesen haben, das ist durch die parlamentarischen Entscheidungen über die Witwen- und Waisenfürsorge eindringlichst bestätigt worden. Witwen und Waisen, der Kapitalismus schafft sie in großer, in erschreckender Zahl! Sein Verschulden ist um so himmel schreiender, als Wissenschaft und Technik Mittel und Wege geschaffen haben, Gesundheit und Leben gegen drohende Schädi gungen zu schützen, die die Menschen früherer Zeiten als un abwendbares Schicksal hinnehmen mußten. In Frische und Rüftigkeit tönnte heute ein mildschöner Lebensabend Millionen
Buschriften an die Redaktion der Gleichheit find zu richten an Frau Klara Zetkin ( Zundel), Wilhelmshöhe, Poft Degerloch bei Stuttgart . Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furtbach- Straße 12.
beschieden sein, die vorzeitig ins Grab sinken oder siech und bresthaft sich durch qualvolle Tage schleppen. Diese Möglichkeit wird jedoch zertrümmert durch die Herrschaft des Privateigentums, das ausbeuten will und ausbeuten muß und dank dieser seiner Eigenschaft Lohnsflaven erzeugt, die unter Gefahren für Leib und Leben lange Stunden des Tages oft noch der Nacht eine übermäßige Arbeitsbürde tragen und entbehren müssen, was die Kräfte zu erhalten und zu erneuern vermöchte. Die blutigsten Kriege bleiben mit ihren Menschenopfern bei weitem hinter der Zahl der Verletzten, Verstümmelten, Getöteten zurück, die jahraus jahrein dem kapitalistischen Profit auf dem Schlachtfeld der Arbeit fallen. Im Laufe eines Jahres sind es ungefähr 1 Million deutscher Proletarier, die bei ihrer Erwerbstätigkeit verunglücken, rund 150000 beträgt die Zahl der Schwerverwundeten und 10000 die der Toten. Man geselle diesen Opfern die Hunderttausende zu, die von der Proletarierfrankheit dahingerafft werden, die Berufskrankheiten oder einem der vielen Leiden erliegen, die unvermeidliche Folgen von chro nischer Überarbeit, Unterernährung, von Wohnungselend und anderem Jammer sind: und man sieht, wie sich in der Höhle der„ uralten Menschenfresserin" verwesend Menschenfleisch und moderndes Gebein" auftürmen. Was will die Reichsversiche rungsordnung tun, um den hilfsbedürftigsten Opfern dieses Standes der Dinge zu helfen: den Witwen und Waisen? Be antworten wir diese Frage zuerst für die Hinterbliebenen der bei ihrer Arbeit verunglückten Proletarier.
Nach der Reichsversicherungsordnung hat die Witwe solcher Lohnsflaven bis zu ihrem Tod oder ihrer Wiederverheiratung Anspruch auf eine Rente, die ein Fünftel des Jahresarbeitsverdienstes ihres verunglückten Gatten beträgt. Ebenso hoch be läuft sich die Rente für jedes hinterbliebene Kind bis zum vollendeten fünfzehnten Lebensjahr; das uneheliche Kind ist jedoch nur insoweit rentenberechtigt, als der Verstorbene ihm nach gesetzlicher Pflicht Unterhalt gewährt hat". Die werktätigen Massen kennen die Renten bereits, die auf Grund dieser Bestimmungen den Witwen und Waisen tödlich Verunglückter zufallen. Es sind die berüchtigten„ Bettelrenten" von 50, 35 und 20 Pf. pro Tag. Nach der gewerblichen Unfallversicherung erhielt 1908 eine Witwe durchschnittlich 188 Mt. Rente, ein Kind 163 Mr. Diese Säße erscheinen aber noch üppig" im Vergleich zu den entsprechenden Durchschnittsrenten, welche die landwirtschaftliche Unfallversicherung für das gleiche Jahr ausweist. Sie stellten sich auf 86 und 66 Mt. Die Zahl der Kinder mag noch so groß sein, der eine Witwe den Tisch bestellen muß, sie kann für ihren Unterhalt nie mehr als den doppelten Betrag ihrer eigenen Rente erhalten. Das Gesetz bestimmt nämlich, daß die Renten der Hinterbliebenen zusammen drei Fünftel vom Jahresarbeitsertrag des verunglückten Mannes nicht übersteigen dürfen. Nach den angegebenen Durchschnittsrenten für 1908 kann also die Familie eines durch Berufsunfall getöteten gewerblichen Arbeiters höchstens 564 Mt. Jahresrente erhalten, die eines landwirtschaftlichen Proletariers aber gar nur 258 Mt. Das ergiebt noch nicht ganz 1,58 Mt. bezw. 71 Pf. pro Tag, um mindestens für drei Personen, vielleicht aber auch für sechs