Nr. 21
Die Gleichheit
und so verwachsen. Sechs Wochen war der Schaden schon alt. Ferner war das Nasenbein gebrochen und das Rückgrat verkrümmt. Schuld an diesen Verlegungen trug die Ziehmutter, bei der das Mädchen früher untergebracht gewesen war und die keinen Arzt zugezogen hatte, als das Kind zu Schaden gekommen war. Das Kindchen wurde sofort in ein Krankenhaus überführt, wo das arme Geschöpf starb. Der Fall gab uns Anlaß, die Behörden auf die ungenügende Kontrolle der Ziehkinder aufmerksam zu machen. Gleich uns hatte sich auch der von uns zu Rate gezogene Arzt mit einer Eingabe an die Behörden gewandt. Die Kontrolle über die Ziehfinder wird von den Damen des Frauenvereins im Ehrenamt ausgeübt. Viel Teilnahme für Proletarierkinder kann die betreffende Aufsichtsdame offenbar nicht besessen haben, sonst müßte sie bei Erfüllung ihrer Pflicht die Verlegungen des Kindes bemerkt haben. Unmenschliche Ausbeutung war das Los von drei Kindern, die von der Stiefmutter mit Sticken bis Mitternacht beschäftigt wurden und auch oft nachts um 2 Uhr aufstehen und bis kurz vor Schulbeginn sticken mußten. Schliefen die Kinder bei der Arbeit ein, so erhielten sie Schläge über den Kopf; häufig hatten sie nicht Zeit, vor der Schule etwas zu essen. Die Bedauernswerten waren so verängstigt, daß es schwer war, in Gegenwart des Schuldirektors von ihnen die Wahrheit zu erfahren. Die Eltern waren zu einer Unterredung mit uns nicht zu bewegen, und der Vater erging sich gegen eine der Genoffinnen in gemeinen Beschimpfungen. Wir erstatteten daher Anzeige, wodurch Abhilfe geschaffen wurde. Wie verkehrt manche Eltern ihre Kinder behandeln, zeigt folgender Fall: Ein zwölfjähriges Mädchen war von seinem Vater fürchterlich geschlagen worden, weil es sich auf einer Aufwartestelle einen Diebstahl hatte zuschulden kommen lassen. Als wir die Sache untersuchten, zeigte sich, daß die Eltern selbst an diesem Vorkommnis Schuld trugen. Sie bestanden darauf, daß das zwölfjährige Mädchen sich selbst sein Brot verdiene, gaben ihm nichts zu essen und verlangten, es solle auf der Aufwartestelle sagen, daß es zu Hause nichts bekomme. Das Kind, das von der Arbeitsstelle dreiviertel Stunden nach Hause zu gehen hatte, fam oft hungrig heim. Es ftahl 82 Pfennig und kaufte sich für das Geld Eßwaren und das Material zu Handarbeiten in der Schule. Durch eine lange Unterredung gelang es einer Genoffin, den Eltern klar zu machen, wie unrecht sie gegen ihr Kind gehandelt hätten. Sie erklärten sich bereit, fünstighin anders zu verfahren, und Nachforschungen ergaben, daß sie ihr Wort hielten. Die Kinderschutzkommission war eifrig be= strebt, das Schicksal solcher Kinder zu mildern, die unter Ausbeutung und schlechter Behandlung zu leiden hatten. Opferfreudig widmeten fich die Genossinnen jederzeit dieser Aufgabe. So ward es uns möglich, im verflossenen Jahre 26 Kindern zu helfen. Ein großes Arbeitsfeld steht noch der Kommission offen. Es gilt, gegen die Ausbeutung der Kinder durch Zeitungsaustragen und in der Heimarbeit vorzugehen. Die regere Beteiligung der Frauen an unseren Diskussionsabenden läßt die in der Kinderschutzkommission tätigen Genossinnen hoffen, auch neue Mitstreiterinnen im Kampfe gegen das Kinderelend zu gewinnen. J. A.: Marta Forchel.
Politische Rundschau.
Zwischen Frankreich und Deutschland ist wieder einmal ein Konflikt um Marokko entstanden und hat die Gefahr eines Weltkrieges näher gerückt. Die deutsche Regierung hat plößlich entdeckt, daß in Südmarokto deutsche Bürger und bedeutsame wirtschaftliche Interessen Deutschlands bedroht sind. Und so hat fie denn ein Kanonenboot nach dem Hafen Agadir entsandt und dieses alsbald durch einen Kreuzer ersehen lassen. Und zum Schutze deutscher Bürger und Interessen wird nötigenfalls eine Landung von Truppen erfolgen. Angeblich soll das Schiff die marokkanischen Gewässer wieder verlassen, sobald die dem Deutschen Reich dort drohende Gefahr vorüber ist. Natürlich findet die Versicherung ebensowenig Glauben wie die wiederholten Erklärungen der Franzosen , daß sie ihre Stellungen in Marokko räumen werden, sobald Ruhe im Lande eingetreten ist. Zumal die Behauptung, daß in Südmarokko Gefahr für Leben oder Güter von Deutschen bestünde, schon durch die Meldungen auch solcher deutscher Zeitungen als unwahrheit entlarvt wird, die für das Vorgehen der deutschen Regierung in Marokko eintreten. Und überdies ist es sehr zweifelhaft, ob auch nur ein Deutscher sich zurzeit in der bewußten Gegend befindet. Niemand ist denn auch im unflaren darüber, daß die angebliche Gärung in Südmarokko nur ein Vorwand ist, daß der Schritt der deutschen Regierung nichts weiter ist als die Einleitung eines Versuchs, ein Stück Marokkos oder größere Vorrechte in diesem Lande zu erlangen. Daß große Gebiete Marokkos bald nichts anderes sein würden als eine französische Kolonie, wenn auch
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die Herrschaft des Sultans dem Scheine nach aufrecht erhalten wer den mag, daß andere Teile des Landes den Spaniern anheimfallen würden, war durch das Vorgehen dieser beiden Nationen in letter Zeit ziemlich sicher geworden. Die kleinen Gruppen der Großkapitalisten, der Finanzmänner und Schwerindustriellen, die aus der kapi talistischen Erschließung des Landes große Gewinne münzen, mit ihrem Gefolge von fleineren Geschäftemachern und Beutepolitifern treiben die Regierungen der beiden Staaten zu immer intensiverer ,, friedlicher Durchdringung" Marokkos an, wobei ein Punkt nach dem anderen mit Waffengewalt besetzt wird. Der Aufstand ver schiedener Stämme gegen den Sultan, als den Verräter des Landes an die Fremden um seine finanziellen Verpflichtungen gegen die mit Anleihen freigebigen Franzosen zu erfüllen, mußte er die Steuerforderungen erhöhen, gab den Franzosen den Vorwand für ihren Marsch nach der Hauptstadt Fez und anderen Orten. Das Vorgehen der Franzosen ließ die Spanier nicht ruhen, und sie warfen gleichfalls Truppen nach Marokko . Daraufhin erklärt die deutsche Regierung, daß durch diese Vorgänge der Vertrag von Algeciras verletzt sei, der die Souveränität des Sultans und die Selbständigfeit Marokkos sichern sollte. Und Deutschland fordert nunmehr auch ein Stück von dem zur Verteilung gelangenden marokkanischen Kuchen oder eine Entschädigung. Die Blätter der Eisen- und Kohlenbarone und der großen Bankleute jubeln über diese„ Tat" und suchen die Regierung auf dem betretenen Wege durch wildes Säbelgeraffel wider Frankreich und England vorwärts zu treiben und die öffentliche Meinung durch Kriegsgeheul und Appell an die nationale Ehre" für solche verbrecherische Abenteurerpolitik zu gewinnen. Die Presse der Konservativen und des Zentrums hält mehr zurück, ihr Enthusiasmus ist nicht so groß, weil die Landjunker und Großbauern, deren Interessen diese Parteien vertreten, von dieser Weltpolitik weniger Vorteil zu erwarten haben als Hochfinanz und Schwerindustrie. Aber beide Parteien sind Regierungsparteien und fönnen natürlich nicht still bleiben, wenn es die nationale Ehre" gilt. Der Fortschritt aber läßt sich seit Bülows Zeiten vom Zentrum an nationaler Zuverlässigkeit nicht mehr übertrumpfen, er hat alle Widerstandskraft gegen Militarismus und Kolonialpolitik verloren, und ein Teil seiner Presse stimmt mit aller Kraft in den ,, nationalen" Chorus ein, während der andere Teil gedämpfter dieselbe Melodie anstimmt. Das Kleinbürgertum, das von dieser Politik nichts als die Erhöhung der Militär-, Flotten- und Koloniallasten zu erwarten hat, folgt der Trommel, die die Knechte des großen Kapitals für dessen Zwecke skrupellos zu rühren wissen. Die gesamte bürgerliche Welt fällt auf jeden nationalen Rummel herein, so schlecht sich hinter diesem die Profitinteressen des Finanzund Schwerindustriekapitals und die Spekulationen der Reaktionäre verbergen. Allein das klassenbewußte Proletariat leistet diesem Schwindel Widerstand; die Sozialdemokratie als Gegnerin jeder Weltmachtspolitik ist die einzige Partei, die das Agadirabenteuer ernsthaft und grundsätzlich bekämpft. Daß sie in ihrem Kampfe ganz allein steht, zeigt der Umstand, daß kein einziges bürgerliches Blatt die Forderung der Sozialdemokratie auf Einberufung des Reichstags unterstützt hat; daß fein einziges bürgerliches Blatt dagegen protestiert hat, daß der sozialdemokratischen Maroffo- Interpellation, die in dem einzigen zurzeit in Deutschland tagenden Parlament, im württembergischen Landtag, eingebracht wurde, vom Ministerpräsidenten die Antwort versagt wurde. Die Kapitalisten wollen kein Hineinreden des Reichstags in die Marokkopolitik. Sie wissen ihre Interessen bei der Regierung gut geborgen, und sie können dieses ihr Werkzeug weit bequemer nach ihrem Willen lenken als die viellöpfigen bürgerlichen Parteien. Vor allen Dingen aber wollen sie auch die sozialdemokratische Kritik an dem gefährlichen Unternehmen unterbinden und verhindern, daß die Sozialdemokraten die Parlamentstribüne benüßen zur Aufklärung über die Natur und die Folgen des Schrittes von Agadir . So wird der Absolutismus in Deutschland aufs neue gestärkt, und dem schaut das genasführte Kleinbürgertum ruhig zu.
Die Gefahren des Abenteuers aber haben sich inzwischen schon deutlich genug gezeigt. England hat sich entschieden auf die Seite Frankreichs gestellt. England wäre die Festsetzung Deutschlands in Marokko schon deswegen ungelegen, weil es darin eine Gefährdung seines Seewegs nach Indien und Südafrika erblickt. Die Erklärung, die der englische Premierminister im Unterhause gab, flingt ernst. Eine plötzliche Verschärfung des Konfliktes, der bisher verhältnismäßig ruhig verlief, ist daher durchaus nicht ausgeschlossen- jedenfalls ist die Gefahr eines Weltfriegs beträchtlich gestiegen. Das Proletariat der zunächst in Betracht kommenden Länder Deutsch land , England, Frankreich und Spanien wird alles aufbieten müssen, um eine solche Zuspigung zu verhindern. Die Berliner Arbeiter haben bereits in verschiedenen der 32 Wahlrechtsversammlungen,