Nr. 22

Die Gleichheit

bei oder kurz nach der Geburt sterben. Unzweifelhaft ist aber die Zahl jener Frauen viel größer, die durch schwere Ent bindungen einem Siechtum verfallen, das zum frühzeitigen Tode führt. Man nimmt allgemein an, daß die Zahl der Frauen, welche an den Folgen des Wochenbettes sterben, größer ist als die Zahl der Männer, die im Kriege fallen. Nach den Be­rechnungen Flammarions find im letzten Jahrhundert 15 Mil lionen Menschenleben in Kriegen vernichtet worden, haben seit Beginn der indoeuropäischen Zivilisation in einem Zeitraum von etwa dreißig Jahrhunderten 1200 Millionen Menschen in Schlachten den Tod gefunden. Diese Schäßungen geben uit gefähr eine Vorstellung davon, wie groß die Zahl der Frauen ist, die bei der Mutterschaft, bei der Fortpflanzung der Art ihr Leben einbüßen. Die Hygiene der Geburt, der Entbindung, hat also eine überragende Bedeutung.

Die Internationale Hygieneausstellung   in Dresden  , die ein Gesamtbild von der modernen Hygiene geben soll, weiß jedoch nichts von einer speziellen Hygiene des Weibes. Sie zeigt in ihren wissenschaftlichen Abteilungen in Wachspräparaten, Ab­bildungen, unter Mikroskopen und in graphischen Darstellungen den Aufbau des Lebens, die Zelle, und wie sich Zelle an Zelle reiht; die Organe, den Aufbau und die Lebensalter des Menschen; ferner die gesundheitschädlichen Unfitten, die Volts- und Berufs frankheiten. Sie gibt ein Bild von der Geschichte der Hygiene, von der Säuglingsfürsorge, der Schulhygiene, der Arbeiter versicherung, den Zahnerkrankungen, den Geschlechtskrankheiten, den Infektionskrankheiten, dem Krebs usw. Sie veranschaulicht auch die Kommunalhygiene: die Wasserversorgung, Kanalisation, das Wohnungswesen. Sie führt den Besuchern eine Gefängnis hygiene und eine Hygiene der Bestattung vor Augen; dem Spiel und dem Sport sind die größten Hallen und freien Plätze zur Verfügung gestellt; eine sehr große Halle ist angefüllt mit Dar bietungen über die Armee, Marine- und Kolonialhygiene. Aber die Hygiene der Schwangerschaft und Entbindung wird nicht besonders gezeigt, für die Internationale Hygieneausstellung  existiert sie nicht. Nur gelegentlich werden Schwangerschaft und Entbindung furz erwähnt in den Tabellen der Krankenkassen, Tabellen, aus denen hervorgeht, daß unter den berufstätigen Frauen mehr Früh, Fehl- und Totgeburten zu verzeichnen find als unter den nichtarbeitenden Frauen. In einer Spezialaus stellung über Raffenhygiene wird der Einfluß der Krankheiten der Eltern auf die Kinder gezeigt. In einer anderen Halle find zwei Zimmereinrichtungen der Dresdener   Entbindungsanstalt ausgestellt, ferner Bücher und Tabellen über das Hebammen­wesen und in der wissenschaftlichen Abteilung- die Erstlings wäsche Seiner Majestät des Königs von Sachsen  !" Das ist aber auch so ziemlich alles.

Lächerliche Prüderie, aber auch die ganze Tendenz dieser Ausstellung sind die Ursachen, daß die besondere Hygiene der Frau unbeachtet geblieben ist. Der menschliche Samen wird den Besuchern in Mikroskopen gezeigt und dann das Kind nach der Geburt. Wie sich seine Entwicklung im Mutterleib vollzieht, das zu zeigen ließ offenbar die Sittlichkeit" nicht zu. Nach der Internationalen Hygieneausstellung wachsen auch allen Menschen vom zwölften Lebensjahr an Feigenblätter. Und damit sie ja nichts zur seruellen Belehrung beitrage, hat die Ausstellungs­leitung acht Tage nach der Eröffnung angeordnet, daß die speziell für die Jugend bestimmte Sonderausstellung der Ge­sellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten" Personen unter 21 Jahren nicht offen steht, obwohl die akuten Erkrankungen mur Interessenten in einem besonderen Raume gezeigt werden. Die Hygiene der Schwangerschaft und der Entbindung wurde aber wohl auch noch aus anderen Gründen unbeachtet gelaffen. Bekanntlich wurde den Gewerkschaften eine Heimarbeitausstellung unmöglich gemacht, weil sie in dem Verdacht standen, nur die Schattenseiten der Heimarbeit zeigen zu wollen, sintemalen es offenbar keine Lichtseiten an dieser zu entdecken und auszustellen gibt. Aus der gleichen Auffassung und Tendenz heraus hat es die Ausstellung vermieden, irgendwo Schattenseiten der bürger­lichen Gesellschaft zu enthüllen, die sozialen Ursachen, aus denen die meisten verheerenden Krankheiten entstehen, durch die sie

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genährt und gefördert werden. Wohl werden die unhygienischen Wohnungsverhältnisse in China   zur Darstellung gebracht; es wird veranschaulicht, wie der Neger in Afrika  , wie der In­dianer und der Eskimo in Amerika   wohnt. Wie der Arbeiter meist in Deutschland   haust, das wird uns dagegen nicht vor­geführt. Die Hygiene der Schwangerschaft und Entbindung hätte aber nicht verständlich gemacht werden können, ohne daß man die elenden Wohnungs- und Lebensverhältnisse aufgedeckt hätte, unter denen die proletarischen Mütter einem neuen Erden­bürger das Leben schenken.

Die Ausstellung über die Säuglingsfürsorge ist inter­essant und lehrreich, freilich ohne daß sie die Schattenseiten" des sozialen Lebens zeigte oder etwas Neues brächte. Mit einer in Deutschland   noch wenig bekannten Einrichtung macht uns indessen die Sonderausstellung von Ungarn   bekannt: mit dem ungarischen System der staatlichen Fürsorge für ver­lassene Kinder. Auch wenn die Einrichtung in der Praxis viele Mängel aufweisen sollte was sich aus der Ferne nicht beurteilen läßt, nach der Ausstellung erscheint sie als eine Neuerung, die Beachtung verdient. In Ungarn   hat das ver­lassene Kind das Recht auf Erhaltung durch den Staat. Jedes einzelne staatliche Kinderasyl ist deshalb verpflichtet, das Kind aufzunehmen, sei was immer die Ursache seiner Verlassen­heit und entstehe sie wo immer im Lande. Verlassen" ist jedes vermögenslose Kind unter 15 Jahren, für dessen Erhaltung und Erziehung die Seinigen nicht sorgen können. Deshalb gilt als verlassen und hat den rechtlichen Anspruch, durch den Staat erhalten zu werden, das Kind einer jeden armen ledigen Mutter, das Kind einer armen Witwe und der Säugling, dessen Mutter gestorben ist, ferner das Kind arbeitsunfähiger oder er­werbsloser Eltern und das verwahrloste Kind. Recht sympathisch scheint die Art, wie die verlassenen Kinder in die staatliche Ver sorgung aufgenommen werden. Ungarn   unterhält für die ver lassenen Kinder in den verschiedenen Teilen des Landes siebzehn staatliche Kinderasyle. Nach den Darstellungen in Dresden   sind es den Anforderungen der modernen Hygiene entsprechende Gebäude, deren Tore Tag und Nacht für jedes verlassene Kind offen stehen. Der Begleiter des zugeführten Kindes wird vom Direktor- Chefarzt eines Asyls verhört, und wenn aus dem Vor­gebrachten hervorgeht, daß das Kind des sofortigen Schutzes bedürftig ist, so nimmt er das Kind ohne jede weitere For­malität in Versorgung. Zu der Aufnahme sind auch keine Schriftstücke nötig, und selbst die Landeszugehörigkeit des Kindes kommt nicht in Betracht. Im Jahre 1910 wurden 16372 Kinder in die staatlichen Kinderasyle aufgenommen, davon 8441 gleich 51,7 Prozent durch den Chefarzt auf Grund einfacher Zuführung. Die ganze Einrichtung steht unter Leitung von Ärzten. Die von einem staatlichen Kinderasy! aufgenommenen Rinder bleiben, wenn sie frank oder schwach sind, in den Krankenhäusern dieser Anstalten. Gefunde Kinder werden zu Pflegeltern gebracht, welche die Arzte in ganz bestimmten Gemeinden aussuchen, deren gesundheitliche und soziale Verhältnisse geeignet erscheinen. Diese Gemeinden, deren Zahl 374 beträgt, werden als staat­liche Kinderkolonien" bezeichnet. Die Gemeindeärzte und beruf­lichen Pflegerinnen, von denen eine in jedem Orte fest angestellt ist, überwachen ständig die Pflegerinnen und sorgen dafür, daß sie einen regelmäßigen Schulunterricht und später eine Berufs­ausbildung erhalten. Soll ein Säugling staatliche Fürsorge erhalten, so wirkt der Chefarzt des Kinderasyls darauf hin, daß die Mutter mit dem Kinde zusammenbleibt. Hat die Mutter eine eigene Wohnung, so verbleibt der Säugling bei ihr und sie erhält eine monatliche Unterstützung als Stillprämie. Hat Die Mutter keine Wohnung, so kommt sie samt den Säugling zu Pflegern, und der Staat zahlt auch für sie das Pflegegeld und gewährt ihr die notwendigen Kleider. Kommen die Eltern später in bessere Verhältnisse, so können sie ihr Kind wieder zurückerhalten; ob dem betreffenden Ansuchen stattgegeben wird, das wird von Fall zu Fall entschieden. Am 31. Dezember 1910 standen 54478 Kinder in Versorgung des ungarischen Staats. Dieses System ist streng vom Armenwesen geschieden arme Eltern bekommen in Ungarn   ebenso kommunale Armen­