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Die Gleichheit

für Rüstungen zu pumpen, Eisenbahnen, Brücken, Kanäle für strategische Zwecke zu bauen und modernste Produktions­mittel nicht der Lebensfürsorge, sondern des Massenmordes einzuführen.

Die Losung von dem größeren Vaterland" mußte in Griechenland  , Bulgarien  , Serbien   usw. berauschend flingen. Konnte sie nicht im Namen von Volks- und Glaubensgenossen vorwärts treiben, die von den stammesfremden, christen­hassenden Mohammedanern geknechtet wurden? und hatte es die Diplomatie der Großmächte nicht als ihre vornehmste Aufgabe betrachtet, die nationalen Gegensätze auf dem Balkan  zu vertiefen, je nach dem eigenen Vorteil die kleinen Staaten bald zum Schmause an der Türkei   zu locken, bald in ihre Grenzen mit der Mahnung zurückzuscheuchen, daß die lebendige Leiche des Statusquo- des bestehenden staatsrechtlichen Zu­standes heilig sei? Es ist das Geheimnis des Hanswurftes, wie eifrig zumal Rußland   und Österreich   seit langem bemüht sind, das Feuer der nationalen Feindschaften auf dem Balkan zu lichterlohen Flammen anzublasen, an denen sie ihre Suppe kochen wollen. Die Annexion von Bosnien   und der Herze­gowina durch Österreich  , die Erhebung Bulgariens   zu einem selbständigen Königreich von des russischen Zarismus Gnaden: das sind Vorgänge aus den letzten Jahren, die unstreitig den Appetit der kleinen Balkanstaaten nach Brocken von der Türkei  mächtig gereizt haben. Ein letter Stachel für diesen Appetit mag die Rebellion der Albanesen gegen das jungtürkische Re giment mit seinen zentralistischen Bestrebungen gewesen sein, eine Rebellion, die Albanien   ein gewisses Maß von Selbstver­waltung und Reformen brachte. Die nicht minder reformbedürf­tige Lage Mazedoniens   ist das gegebene Objekt, an dem sich die vorhandenen Gegensäße bis zur drohenden Entzündung stoßen. Dieser Teil des türkischen Reiches gleicht einem Sam­melbecken der verschiedensten Nationen. Mit 1/2 Millionen bilden die Türken die Minderheit der Bevölkerung in Maze­ donien  , wo 1 Millionen Albanesen, 1 Million Bulgaren  , 1 Million Griechen, 1/2 Million Serben und 4 Million Wal­lachen heimisch sind und größtenteils bunt durcheinander ge­würfelt wohnen. Hier verquickte sich die Notwendigkeit einer gründlichen Reform der Agrarverhältnisse, des Steuerwesens, der Gewerbeentwicklung mit nationalen und religiösen Be­dürfnissen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Hier ver­schlingen sich Aufgaben miteinander, von denen jede einzelne in reinlicher Scheidung auch von einem geordneten Staate nicht zu lösen wäre, die aber in ihrem Durcheinander und Miteinander die Türkei   geradezu vor die Quadratur des Birkels stellen. Die von den fäbelrasselnden Balkanstaaten ge­forderte Selbstverwaltung Mazedoniens   könnte freilich eben sowenig mit diesen Aufgaben fertig werden. Diese Forderung ist nichts als das bei Kriegen übliche ideologische Feigenblatt der Interessen, um die es geht.

Die Vorgänge auf dem Balkan   gehören zu den Erschei­nungen, die im Gefolge der wirtschaftlichen und politischen Auflösung des alten Türkenreiches austreten, dessen Grund­lage die feudale Gutsherrschaft und Bauernwirtschaft war. Diese Grundlage wird zermürbt, seitdem die Geldwirtschaft mehr und mehr die Naturalwirtschaft verdrängt und der Kapitalismus sich durch alle Spalten und Nigen des morschen fozialen Gebäudes einschleicht und festsetzt. Solange die Nachfahren der osmanischen   Eroberer, die türkischen Grund­herren und ihre politischen Organe, die Unterworfenen mur   in Naturalabgaben und Frondiensten zinsen ließen, war auch deren Ausbeutung Grenzen gezogen. Naturalabgaben lassen sich nicht maßlos, unendlich anhäufen, sie bergen daher auch nicht den Anreiz zum barbarischsten Bauernschinden und Bauernlegen in sich. Jahrhundertelang hatten so die unter­jochten Griechen, Bulgaren  , Serben usw. unter dem Halbmond nicht schlechter wohnen, als die hörigen Bauern Westeuropas  im frühen Mittelalter unter Krummstab und christlichem Schwert. Dazu kam noch, daß sie vom Kriegsdienst befreit waren, kein Ungläubiger" durfte die Waffen für Allah   und seinen Pro­pheten tragen. Ungefähr seit dem Ende des achtzehnten Jahr

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hunderts hat der Wandel der Dinge begonnen. Nußland drang gegen die Türkei   vor, Ägypten   suchte sich unabhängig zu machen, bald war der eine, bald der andere Teil des Reiches bedroht. Die Notwendigkeit, das Heer auszubauen und zu moderni­fieren, erzeugte ein riesig steigendes Bedürfnis der Regierung nach Geld und schuf Beziehungen zu den westeuropäischen Staaten. Von Süden und Nordwesten her zog die Geldwirt­schaft auf dem Balkan   ein. Seit die Abgaben der bäuerlichen Massen gegen klingendes Geld verkauft werden konnten, wuchsen sie ins Ungeheuerliche bis zur nackten Erpressung und Aus­plünderung. Aber der Umschwung der Verhältnisse zwang auch die Bauern selbst, nicht allein für den Verbrauch der Familie zu produzieren, sondern für den Verkauf. Mit dem allem zusammen gewannen die nationalen Gegensäge zwischen den Türken und den unterworfenen Völkern an Bitterkeit und Kraft.

Die Zeit der Aufstände und Befreiungskämpfe von Griechen, Serben, Rumänen, Bulgaren   usw. brach an, und sie ist noch nicht abgeschlossen. Denn die kleinen Nationalstaaten haben ihre Un­abhängigkeit nur mit dem Segen und der Hilfe der europäischen  Großmächte errungen. Ihre Grenzen sind weder nach großen wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Gebiete, noch nach nationalen Gesichtspunkten gezogen worden. Sie sind so will­fürlich festgesetzt, wie es die diplomatischen Vertreter der Großmächte für gut befanden, in Eifersucht und Mißtrauen gegeneinander die politische Landkarte zurechtzuftümpern. Die ökonomische Entwicklung aber brandet immer stür­mischer gegen diese sie einengenden künstlichen Schranken. Vom profitlüsternen internationalen Kapital gespeist, be­ginnt in den weltabgelegenen Gebirgstälern und in den weiten Ebenen eine kapitalistische Industrie emporzublühen. Aus Bauernschaft, städtischem Handwerk und Handel steigt eine junge Bourgeoisie mit robusten Begierden nach Gold und Macht empor. Es bildet sich eine städtische Intelligenz, die ein größeres Betätigungsfeld zum Wettlauf um die so­ziale Position bedarf. Die Hochschutzöllnerei der großen euro­ päischen   Staaten wirft lähmend auf die Entfaltung der wirt­schaftlichen Kräfte in den kleinen Balkanstaaten zurück und läßt es stark und stärker empfinden, daß Serbien   der freie Zu­gang zum Meere durch eigene Seehäfen fehlt, daß für alle diese Länder die Türkei   keinen aufnahmefähigen Markt stellt.

Der nationale Chauvinismus findet einen üppigen Nähr­boden und wird von den regierenden Dynastien gehätschelt, die in Kriegsgeschrei, Schlachten, Erweiterung der Staats­grenzen das sicherste Mittel erblicken, sich auf ihren schaufeln­den Thrönchen zu halten. Hat doch der König von Gottes Gnaden in Serbien   seine Krone aus dem Blute von Ver­schwörungen und Attentaten emporgehoben, und in Griechen­ land   wie in Bulgarien   ermangeln die Herrscher der Heili­gung durch einen echten nationalen Stammbaum, sintemalen sie beide zu jenem Geschlecht arbeitswilliger, pardon regie­rungswilliger deutscher   Fürsten   gehören, das unser Vater­land gern und billig an das Ausland abgibt, wie früher Frankreich   seine Tanzlehrer und Friseure, die Schweiz   ihre Zuckerbäcker und Italien   seine lyrischen Tenöre.

Die friegsheßenden Tendenzen, die aus diesem Stande der Dinge auf dem Balkan   selbst hervorbrechen, mögen sich jedoch noch so lärmend gebärden, sie sind der Türkei   und dem Welt­frieden letzten Endes weniger gefährlich als die Bedeutung, die der Orientfrage" für die europäischen   Großmächte zu­kommt. Durch sie erst erhalten sie ihrerseits durchschlagende Kraft und weltpolitische Tragweite. Das Interesse der Großmächte aber an der Lösung der Orientfrage wächst, je reifer sich der Kapitalismus in ihnen austobt, je unaufhalt­samer er von seinen alten Wirkungsstätten aus die ganze Welt in den hastenden Strom seiner Entwicklung reißt und die wirtschaftlichen und politischen Bedürfnisse der einzelnen Staaten hier gegeneinander stellt, dort miteinander verknüpft.

Heiß begehrend wie je hat der russische Zarismus seine Blicke auf die Dardanellen gerichtet, und heimlich wie offen arbeitet seine Politik daran, durch einen festen Riegel slawi­scher Balkanstaaten Österreich   den Weg nach Osten und Süd­