Nr. 3

Die Gleichheit

gönnen kann, schädigt ihren Körper noch mehr; die Folgen machen sich bei kommenden Geburten bemerkbar.

Wenn das proletarische Kind, ein schwächliches Geschöpf, in den Kissen liegt, wird es von weiteren Ursachen des Siech­tums bedroht. Wie ein Gespenst steht der Tod vor der Türe. Er ist schon lange kein gerechter Richter, mehr. Gerade aus den Scharen der Kinder des Proletariats holt er mit Vor­liebe seine Opfer; Hunderttausende rafft er hin, kaum daß sie begonnen haben zu leben. Von 100 Lebendgeborenen star­ben 1909 im Säuglingsalter durchschnittlich 17, weit mehr aber als das in proletarischen, weit weniger in den Kreisen des Bürgertums. Im Wedding  , einem Proletarierviertel Berlins  , starben 42 von 100 Säuglingen, im Tiergarten­viertel nur etwa 5. ähnlich hohe Zahlen wie der Wedding  weisen unter anderem die Tertilbezirke Sachsens   und Schle­fiens auf. Diese Zahlen lassen uns deutlich die Ursache der hohen Säuglingssterblichkeit erkennen. Die proletarische Mutter hat sehr oft ein schwächliches Kind geboren, sie muß den langen Tag über an ihre Arbeit und kann ihr Kleines nicht liebevoll warten und pflegen, sie kann ihm nicht ihre Brust reichen; und so trinkt es sich aus der Flasche den Tod. Aber auch dann, wenn die Mutter selbst das Kind nährt, leidet es unter den Sünden der kapitalistischen   Ausbeutung. Wie kann ihr ausgefogener Körper gesunde, kräftige Milch hergeben? Woher soll in dem Hinterhaus einer Großstadt der Säugling Luft und Licht erhalten, deren er so sehr zu seinem Gedeihen bedarf? So sterben denn Hunderttausende proletarischer Kinder frühzeitig dahin. Der Sprößling aus bürgerlichen Kreisen hat durchschnittlich sechsmal so viel Aus­sicht, am Leben zu bleiben, als der proletarische. Trotzdem haben wir eine göttliche" Weltordnung, und ein allgütiger und allgerechter Gott hält das Schicksal aller Menschen in seiner Hand.... Besonders zahlreich verfallen uneheliche Kinder frühem Tode. Während von 100 ehelichen Rindern 18,6 vor Ablauf des ersten Lebensjahres starben, wurden von 100 unehelich Geborenen 31,4 dahingerafft. Die ungünstige wirtschaftliche Lage, in der die ledige Mutter sich meist be­findet, und die ihr nicht gestattet, sich ihrem Kinde nur not­dürftig zu widmen, verschuldet diese hohe Sterblichkeitsrate. Weiter ist sie dadurch bedingt, daß die unehelichen Kinder auch sonst unter dem Makel" ihrer Geburt leiden. Mangel­hafte Ernährung, nicht selten vollkommene Vernachlässigung, ja Mißhandlungen sind nur zu oft ihr Teil.

Langsam wächst das Proletarierkind heran. Zäh hängt es am Leben. Aber was ist das für ein Dasein! Millionen mis­sen die treusorgende Mutterliebe entbehren; tagaus, tagein bleiben sie sich selbst oder der Aufsicht einer abgehärmten, selbst mit Kindern reich gesegneten Nachbarin überlassen. Bom Vater hat das proletarische Kind noch weniger. Der Segen des Gemeinschaftslebens, wie er sich einst in der Fa­milie zeigte, ist heute für Millionen kaum mehr vorhanden. Die fapitalistische Entwicklung reißt die Familie auseinander und läßt das proletarische Kind von frühester Jugend an verwahrlosen. Die dumpfe Wohnstube, das düstere Etagen­haus, die schmußige Terrasse, die lärmdurchtobte Straße: das ist die Welt des Arbeiterkindes, das ist das goldene Märchenland" proletarischer Jugend. Wen darf es erstaunen, daß Lehrer und Schulärzte bitter klagen, wenn nach voll­endetem sechsten Lebensjahr die proletarischen Kinder in die Schule einziehen. Was ist für sie Ordnung? Was verstehen sie unter geregelter Lebensführung? Wer erzieht sie zu Sauberkeit, Pünktlichkeit, ernsthafter Pflichterfüllung? Wie soll ein Kind unter solchen Verhältnissen körperlich gedeihen? Wie soll in dieser liebearmen Sphäre eine Gemütsbildung möglich sein? Und wie eine Erziehung zur Sittlichkeit, zur Willensstärke, zum Charakter?"

Wie schlecht es um die Gesundheit der Proletarierjugend bestellt ist, lehren zahlreiche Untersuchungen von Ärzten. Ge­radezu erschreckend ist der Prozentsatz der Schüler, die unter­ernährt sind. In Offenbach   wurden von 100 Volksschülern 37 als mangelhaft ernährt bezeichnet; in anderen Orten ist

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der Prozentsaz noch höher. Man sieht ordentlich beim Lesen solcher Zahlen die bleichen, mageren, schmalbrüftigen Kinder vor sich. Und was sind die Ursachen? Der ganze Jammer der kapitalistischen   Wirtschaftsordnung taucht bei dieser Frage vor einem auf. Proletarierkinder stehen hinter ihren bürgerlichen Altersgenossen an Gewicht und Körpergröße zurück. Zahlreiche Krankheiten sind gerade unter ihnen stark verbreitet: Ohrenleiden, Augenkrankheiten, 3Zahnerkrankun­gen, Blindheit, Taubstummheit. Vor allem wütet eine Krank­heit unter ihnen: die Tuberkulose. In München   wurde ihre Häufigkeit im Kindesalter bis zu 48,8 vom Hundert festge­stellt. 89 782 jugendliche Strüppel gab es in Deutschland  , fast alles Kinder aus proletarischen Familien. Wer kann sich auch wundern, daß das Kind schon verkrüppelt zur Welt kommt, wenn die Mutter während der Schwangerschaft im Fabrik­saal gebückt arbeiten, auf dem Bau schwere Lasten schleppen muß oder in chemischen Fabriken der Einwirkung fressender Gifte ausgesetzt ist? Auch der Geist der proletarischen Kinder leidet unter dem Verhängnis ihrer Geburt. Es gibt in Deutschland   etwa 60 000 bis 70 000 Schwachsinnige und Idioten. Auch diese Zahl gehört in der Hauptsache aufs Konto der sozialen Verhältnisse; namentlich ist es der Alkoholismus  , diese schwere Seuche, deren Einfluß auf die Erzeugung geistig nicht gesunder Kinder ganz gewaltig ist.

Es sind traurige Tatsachen, die uns beim Betrachten der Gesundheitsverhältnisse proletarischer Jugend vor Augen treten. Was aber tut die bürgerliche Gesellschaft gegen diesen Jammer? Sie sucht ihr Gewissen zu beschwichtigen. Sie klebt Pflästerchen auf die klaffenden Wunden, die dem Volkskörper geschlagen werden. Feste, Bälle, Basare mit Seft und Flirt, Blumentage werden für die armen Kinder" veranstaltet, die Brosamen des Ertrags von Stunden, die in tosendem Jubel verrauschen, werden großmaulig für Säuglingsschutz aufgewendet. Im Reichstag   dagegen sperren sich dieselben Herrschaften gegen eine durchgreifende gesetzliche Fürsorge für Mutter und Kind! Man geht auch weiter und tut Besseres. Man richtet Hilfsschulen ein, Kinderhorte, Kinder­hospitale, Krüppelheime, Schulspeisungen. Alles das sind gute Dinge, aber, ganz davon abgesehen, daß von ihnen lange nicht genug geschieht, sie packen das übel nicht an der Wurzel. Wollte man das tun, so müßte man an den Grundfesten der gegenwärtigen Gesellschaftsord­nung selbst rütteln, man müßte sich wenigstens zu durch­greifenden sozialen Reformen auf allen Gebieten ent­schließen. Auf welche Widerstände aber solche Bestrebungen stoßen, das zeigt der Kampf gegen die erwerbstätige Kinder­arbeit. Sie steht noch in Blüte, obgleich sie ungeheuerliche Schädigungen der gesunden Kraft unserer proletarischen Ju­gend zur Folge hat. Die Zeiten sind ja heute vorüber, wo man sechsjährige Kinder elf Stunden lang an die Maschine stellte, wo man vierjährige Kinder im dunklen Schachte arbeiten ließ. Das Kinderschutzgesetz von 1839, entstanden in Preußen, weil die Ziffer der Tauglichen bei der Aushebung zum Militärdienst in industriellen Gebieten fortwährend sank, verbot die Fabrikarbeit für Kinder unter 9(!) Jahren und beschränkte die tägliche Arbeitszeit für Kinder von 9 bis 16 Jahren auf 10 Stunden täglich. Diese dürftigen Bestim­mungen blieben außerdem nur papierene. Dann geschah Tange Jahrzehnte nichts zum Schuße der ausgebeuteten Rin­der. Die Berufszählung von 1895 stellte etwa 215 000 Kinder unter 14 Jahren als Erwerbstätige im Hauptberuf fest. Diese Zahl umfaßte jedoch lange nicht alle kleinen Proletarier, die der Barbarei der Kinderarbeit" ausgeliefert waren. Eine Enquete aus dem Jahre 1898 fand 532 000 Kinder unter 14 Jahren außerhalb der Fabriken beschäftigt. Das Kinder­schutzgesetz von 1903 brachte endlich einen fleinen Fortschritt, blieb aber auch nur eine Halbheit, da es die in der Landwirt­schaft ausgebeuteten Kinder ganz unberücksichtigt ließ. Die Durchführung des Gesetzes geschieht so lar, es wird mit solcher Frivolität umgangen, daß noch im Jahre 1907 allein in Fa­briken nach den Angaben der Gewerbeinspektoren über 13 000