42

Die Gleichheit

Kinder beschäftigt wurden. Das Kapital fennt nur Rücksicht auf den Profit; wenn der Unternehmer recht billige Arbeits­kräfte erhalten kann, so mag seinetwegen die Gesundheit des Bolkes zugrunde gehen. Siechtum, Krüppelhaftigkeit, blasse Gesichtsfarbe, Bleichsucht, Engbrüstigkeit, Bruſtleiden, Kurz­sichtigkeit, Verkrümmung des Rückgrats, Schiefwuchs usw.- das sind die Leidensmale, womit die armen Opfer gezeichnet find." Zu den förperlichen Schädigungen treten dann noch geistige und sittliche. Um die ganze Schmach, das ganze Ver­brechen dieses Standes der Dinge zu ermessen, vergegenwär­tige man sich, wie sorglich behütet die Kinder der Besitzenden Heranwachsen, bei denen die Schwächsten und Unfähigsten mit Zärtlichkeit und Kunst aufgepäppelt werden. Die gesunde Kraft der Proletarierjugend hingegen läßt die Gesellschaft frühzeitig verkümmern. Bedarf es noch eines anderen Zeug­nisses, daß wir im Klassenstaat leben? Im Klassenstaat die Klaffenbildung. Für den Sprößling der Besitzenden die mannigartigen höheren Schulen, für die Proletarierbrut die Armenschule, die Volksschule. Leipzig   zahlte 1907 für einen Volksschüler 500 Mk., für einen höheren Schüler 3000 Mark aus öffentlichen Mitteln. Das Verhältnis dieser beiden Zahlen beleuchtet scharf, wie die Dinge in ganz Deutschland  liegen. Der Klassencharakter unseres Schulwesens tritt in den Schönheiten" der Volksschule klar hervor: den überfüll­ten Klassen, dem Lehrermangel, der hohen Zahl einklassiger Schulen, den zahlreichen Schulpalästen", der schlechten Be­soldung der Lehrer, dem System der körperlichen Züchtigung, den rückständigen Lehrplänen und Lehrmitteln. Von alledem fennt man im höheren Schulwesen nichts. Die Volksschule soll aus den Proletarierkindern gefügige Lohnfklaven und ge­treue Untertanen machen. Darum werden ihre Schüler mit Religion und patriotischer Phrase überfüttert. Darum herrscht das Prügelsystem, der ödeste Lernbetrieb, der geist­lose Drill, der jede geistige Selbständigkeit vernichten soll. " Dem proletarischen Rinde ist die Schule nur eine Station mehr in der großen Leidensschule dieses Lebens."

Die farge Zeit, die Schule und Lohnarbeit dem proleta­rischen Kinde lassen, bringt es meistens auf der Straße zu. Hier darf es spielen und sich austoben und für Augenblicke all seine Sorgen und Leiden vergessen. Aber kann die Ju­gend von heute überhaupt noch spielen? überall in den Groß­städten drohen Gefahren in den Straßen mit ihrem täglich wachsenden Verkehr; überall sind die Großen bereit, sich dem Betätigungsdrang der Klcinen entgegenzustellen. Das Spie­Ten unserer Rinder heute ist gar nicht zu vergleichen mit dem ungebundenen Spiele der Kinder in früheren Zeiten. Kinder aber, die nicht spielen können, beraubt man damit einer vor­züglichen Gelegenheit, ihre nach Betätigung rufenden Kräfte zu entwickeln. Ganz natürlich, daß die Kinder auf andere Dinge verfallen, daß das Lesen von Schundliteratur unter ihnen überhand nimmt, daß die Kinder in den Kinos siben und zu den grausigen, aufregenden Bildern auf der weißen Leinewand hinüberstarren. Die Straße wirkt aber auch noch anders auf des Kindes empfänglichen Geist. Er erhält hier viele häßliche, verrohende Eindrücke. Das Laster und der Schmutz machen sich in den Straßen breit. Gemeine Bilder und Bücher in den Schaufenstern, Betrunkene, die übers Pflaster taumeln, geschminkte Dirnen, zotige Schimpf­worte, brutale Handlungen: das sind Dinge, die die proleta­rische Jugend viel zu früh sehen muß.

In hohem Maße entsittlichend und verwildernd wirken auch die Schlafverhältnisse bei den Ausgebeuteten. Eine Untersuchung in Berlin   ergab, daß von den Schulkindern nur 40 vom Hundert ein Bett allein hatten, daß 6 vom Hundert so­gar mit mehr als einer Person das Bett teilen mußten. In engen Rammern haust zuweilen die ganze Familie; alle In­timitäten des Familienlebens spielen sich vor den Augen der neugierig lauschenden Kinder ab. Gefährdend wirkt auch das Schlafgängerwesen, das wildfremde Menschen in das Heim bringt. Die Prostitution hauſt oft inmitten ehrlicher Arbeiterfamilien. Schon früh geraten die Kinder in ihren verderblichen Bannkreis.

Nr.3

So wachsen denn unter den proletarischen Kindern jene bedauernswerten Geschöpfe heran, gegen die sich die Gesell­schaft nicht anders zu helfen weiß, als daß sie sie der Für­sorgeerziehung" übergibt. Ach, wenn's nur eine Erziehung wäre! Aber der Zögling, der draußen nur verdorben ward, weil er keine Liebe spürte, wird als Sträfling behandelt; mit Härte und Zwang will man ihn bessern. Die Erfolge sind darum nur winzig. In wenigen Anstalten nur herrscht ein anderer Geist, wird erzogen, in manchen dagegen sind Zu­stände vorhanden, von deren Greueln uns die Blomsche Wild­nis und Mieltschin Proben gegeben haben. In die Für­sorgeerziehung" werden aber in Preußen auch Kinder ge­geben, die sich keiner strafbaren Tat schuldig gemacht haben, die aber daheim einer rechten Erziehung ermangeln. Es sind ja proletarische Kinder; mit denen macht man nicht viel Federlesen. Für jene jungen Proletarier, die gegen die Geseze ver­stoßen haben, die zugunsten der Neichen da sind, öffnet sich die Türe des Kerkers. Alljährlich werden in Deutschland  etwa 50 000 Jugendliche verurteilt, und diese Ziffer steigt! Das Wohnungselend, der Mangel an Erziehung, die Kinder­arbeit, der Alkoholismus  , die schlechten Schulverhältnisse treiben viele schon im Kindesalter auf die Bahn des Ver­brechens. Was die Justiz als Straftaten" ansieht, sind häufig nur unüberlegte Handlungen, die sich aus der Umwelt des proletarischen Kindes erklären, aus seinem sonnenlosen Da­sein. Noch immer gelten die Goetheschen Verse:

Ihr führt ins Leben ihn hinein, ihr laßt den Armen schuldig werden, dann überlaßt ihr ihn der Bein.... Voller Entsetzen werden wir gewahr, daß immer mehr die Zahl der Kinder anschwillt, die aus eigenem Antrieb still und entschlossen sich aus dieser Welt fortstehlen. Eine stummie und doch beredte Anklage.....

"

Unsere Wanderung durch das Jugendland des Proleta­riats, unternommen an der Hand des sehr lesenswerten Rühleschen Buches, ist zu Ende. Es ist eine Wande­rung durch Wii sten, rung durch Wüsten, Abgründe und Moräste.... eine Welt des Schmerzes und der Qual, die sich vor entsegten Blicken ausbreitet." Wir fonnten auf ihr nur das Allgemeine überblicken; Einzelhei­ten, die erst die Behauptungen belegen und tiefere Einblicke gewähren, mußten beiseite bleiben. An ihnen ist das Rühlesche Buch reich, überreich. Sein Studium ist allen denen zu emp­fehlen, die an den Kindern arbeiten, mit ihnen fühlen, vor allem außer der Lehrerschaft den Genossinnen, namentlich solchen, die ihr besonderes Wirkungsfeld in den Kinderschuß­kommissionen und in der Jugendbewegung haben. Gewiß. es ist kein fröhliches Studium, wir fönnen nicht lächeln, wenu unsere Augen über die Seiten huschen. Unsere Faust ballt sich, unsere Augen füllen sich mit Tränen. Es ist das Schick­sal unseres Volfes, das wir miterleben. Und doch ist das St11­dium des Nühleschen Buches nicht niederdrückend. Denn hin­ter dem Traurigen, das die Zeilen uns melden, spüren wir auch die Hoffnung, leuchtet hell und klar die Gewißheit, daß es anders wird, daß der Kapitalismus, der alle diese Schrecken schafft, auch der Totengräber seiner eigenen Ordnung ist. Der Sozialismus, der sich im Schoße der kapitalistischen   Gesell­schaft vorbereitet und der das Proletariat im Klassenkampf zum Siege tragen muß, wird allen Menschen geben, was der Kapitalismus   den meisten vorenthält: ein heiteres, sonniges Jugendland. M.

Aus der Bewegung. Resolutionen

des Sozialdemokratischen Parteitags zu Chemniz. III. Jugendbewegung.

Der Parteitag der deutschen   Sozialdemokratie wiederholt mit Nachdruck den schon von früheren Parteitagen erhobenen Einspruch gegen die Verfolgungen, die sich staatliche Behörden aller Art gegen die proletarische Jugendbewegung herausnehmen.