Nr. 20

Die Gleichheit

ferung gegen 1897 allmählich auf 30,2 im Jahre 1911 und 28,7 im Jahre 1912 gesunken. Das bedeute eine Abnahme um fast ein Drittel. Der Vergleich mit der Geburtenzahl anderer Länder zeige auch dort im allgemeinen einen Geburtenrüdgang. Allerdings betrage zurzeit in Österreich   die Geburtengiffer noch 84 auf 1000 der Bevölkerung, in Rußland   hatte sie 1905 sogar die Höhe von 44. Die Slawen vermehren sich andauernd besonders start. Die Groß­städte hätten eine verhältnismäßig weit geringere Geburtenzahl als die kleinen Plätze und das flache Land, wo der Neumalthusia­nismus sehr langsam, aber doch auch schon deutlich erkennbar ein­gezogen sei. Die Herabsetzung der Sterblichkeit habe Grenzen. Es wäre daher höchste Zeit, daß Geburtenpolitik getrieben würde. Wenn 1908 85 000 Knaben weniger geboren worden seien als 1904, so bedeute das einen um so viel schlechteren Jahrgang für das Mi­litär. In Berlin   sei beispielsweise die eheliche Fruchtbarkeit von 240 pro Tausend auf 90 pro Tausend gesunken. Degeneration könne für den Geburtenrüdgang höchstens bei den jugendlichen Arbeite­rinnen geltend gemacht werden. Der Arbeiter ahme das Vorbild der Gebildeten nach, die Arbeiterin wolle auch nicht nur Ge­schlechtswesen oder Dienstbote bleiben. Vor allen Dingen müsse dem Geburtenrüdgang durch eine bessere Wirtschaftspolitik entgegengewirkt werden, die Teuerung sei zu beseitigen, die Mütter aller Stände sollten besser geschützt werden. Die Hebung der wirt­schaftlichen Zustände sei die Hauptsache, mit gesetzlichen Maß­regeln gegen die Schutzmittel würde nichts erreicht. Die Bekämp­fung der Geschlechtskrankheiten könne zur Bevölkerungsvermeh­rung etwas helfen, aber man müsse bedenken, daß es Geschlechts­frankheiten gegeben habe, lange ehe der Geburtenrückgang einsetzte.

In der Diskussion sprachen sich die meisten Redner für die Be­schränkung der Kinderzahl aus. Dieser Umstand veranlaßte Herrn Profeffor Silbergleit zu der Äußerung: Wenn ich geahnt hätte, daß ich mich hier in einem Bund zum Schuße vor der Mutterschaft befände, so hätte ich den Vortrag gar nicht über­nommen!" Der Vorsißende stellte daraufhin fest, daß er jeder Mei­nung das Wort zu gestatten habe. So brach ein Dr. Bornstein in der Debatte eine Lanze für die Intelligenz der Sozialdemo fratie und betonte, daß die Slawen durch die Kirche beeinflußt würden, so viel Kinder wie möglich zu zeugen. Er hob hervor, daß sich niemand über den Geburtenrückgang aufgeregt habe, solange nur die Gebildeten den Geburtenstreit betrieben hätten. Erst jetzt, wo auch die Arbeiter, von bitterer wirtschaftlicher Not gedrängt, die Kinderzahl einzuschränken begännen, hebe das große Lamento an. Eine Diskussionsrednerin wies auf die vielen deutschen   Mäd­chen hin, die in Paris   entbinden und ihre Kinder in Frankreich  zurückließen. Sie hätte hinzufügen können, daß zahlreiche deutsche Mädchen nach England gehen, um die Abtreibung vornehmen zu lassen, weil diese dort während der ersten Hälfte der Schwanger­schaft nicht gefeßwidrig ist. Frauenrechtlerinnen griffen natürlich in die Debatte ein, insbesondere auch, um die Angriffe gegen die moderne Frauenbewegung zurüdzuweisen.

Am zweiten Abend sprachen ein Ethiker, ein Jurist und ein Arzt zur Prostitutionsfrage. Sie kamen im Grunde genommen alle drei zu den gleichen Schlüssen. Die Prostitution sei wohl zu bekämpfen, besonders durch bessere Entlohnung, und unsere Zeit fönne vielleicht in dieser Beziehung erfolgreich den Kampf auf­nehmen. Der Ethiker vertrat dabei die Ansicht, daß der Staat durch seine Reglementierung und Kasernierung der Prostitution nur das Prostitutionselend gesteigert habe. Solange er das weiter tue, sei keine Hilfe zu erwarten, dann möge er aber auch die Unglücklichen unterstützen, die er schafft. Der Landgerichts­rat Rupprecht- München   betonte, daß im allgemeinen immer die Hälfte aller Dirnen eines Ortes minderjährig sei; die Hälfte dieser Minderjährigen aber sei in der Regel tranf. Jm Hinblick auf die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten müßten die Jugendlichen, die nicht der Kontrolle unterstehen, nicht ärztlich be­handelt werden, als besonders gefährlich angesehen werden. Aber andererseits sei es verkehrt, gegen diese Kinder die Schärfe des Gesetzes anzuwenden, ihnen das ewige Schandmal als Dirnen aufzudrücken. Das Gesetz über Jugendgerichtshöfe biete die Mög­lichkeit, ihnen beizuspringen. Auch in Frankreich   und Belgien   ginge man milde gegen die Jugendlichen Prostituierten vor. Diese rekru­tieren sich in der Mehrzahl aus den jung in die Stadt gekommenen Dienstmädchen, ihnen reihten sich die Kellnerinnen und die Fabrik­arbeiterinnen als nächstgroße Gruppen an. Die Dienst herr­schaften versäumen es meist, sich um diese halben Kinder zu bekümmern, darum das große Elend. Hier könnten Frauenvereine helfend eingreifen. Auch sei die Polizeiärztin mit Ent schiedenheit zu fordern, und in den Krankensälen solle man jugend­liche und ältere Prostituierte streng getrennt halten. Die Großstadt

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mit ihren Verführungen, ihrem Glanz, die Aufsichtslosigkeit der jungen Mädchen wären meist die Ursache zu dem Unglüd. Dr. Rup­precht fordert eine Landeszentralfürsorge. Polizei und Gericht allein wären nicht imstande zu helfen. Der dritte Redner ,. Dr. Magnus Hirschfeld  , sprach über männliche und weibliche jugendliche Prostituierte und beleuchtete besonders scharf die Kreise, die sie umgeben: Wirte, Juwelenhändler, Vermieter, Ver­gnügungslokalin haber usw., kurz, das Kapital", das die Unglück­lichen ausbeutet. Er will den Prostituierten gegenüber Milde an­gewendet wissen. Viele, die meisten würden nur durch wirtschaft­liche Not ins Laster gestoßen. Viele in der Jugend, die sich gern aus dem Sumpf herausretten möchten und denen das erschwert wird, weil Polizei oder Gesetz ihnen ein Brandmal aufgedrückt hätten. Der Vortragende schilderte, wie die männlichen Prostituierten- die er in Gelegenheitsprostituierte und gewerbsmäßige Prosti­tuierte einteilt sich in Konditoreien und ähnlichen Lokalen ihre weiblichen Opfer suchen, oft durch Heiratsschwindel gewinnen und dann durch die Forderung von Schweigegeldern ausbeuten. Unter den Homosexuellen befänden sich viele ganz normal Veranlagte, die nur des Geldes wegen sich zu homosexuellem Verkehr hergäben. Auch für diese Art der Prostitution sei die Wurzel oft in unglüd­lichen Familienverhältnissen, in wirtschaftlicher Not zu suchen. Von Gewaltmaßregeln zur Bekämpfung des homosexuellen Ver­fehrs erhofft Dr. Hirschfeld   nichts, nichts von der Prügelstrafe, die England dafür wieder eingeführt hat. Die moderne Frauenbewe­gung in Deutschland   möge sich hüten, wie in Neu- Seeland   zur Schaffung strenger Geseze gegen solche Unglückliche beizutragen, sie solle die in Betracht kommenden Fragen eingehend prüfen. Not­wendig sei wissenschaftliche Durchforschung des Problems, Auf­flärung der so verhängnisvoll veranlagten Personen, bessere Er­ziehung, Sport, vor allen Dingen aber ebung der sozialen Notlage. In der Diskussion betonten viele Redner, daß es an der Zeit sei, den Kampf gegen den unsittlichen Mann im allge­meinen" zu eröffnen.

Am dritten Abend wurde die Segualfrage international behan­delt. Professor v. Wiese- Düsseldorf sprach eingehend über die indischen Familienverhältnisse. Er kam zu dent Schluffe, daß England aus Kolonialinteresse bei ihrer notwendigen Umgestaltung bersage, daher müsse eine internationale Studien­vereinigung eingesetzt werden, die im Verein mit den Asiaten selbst die Emanzipation der Frauen dort in die Wege leite. Die reli­giösen Anschauungen, die Macht des Priestertums machen die Lage der indischen Frauen zu einer trostlosen. Die Witwenverbren­nungen sind zwar abgeschafft, aber das Elend der unzähligen Witwen, denen das Brahmanentum einen Makel aufdrückt, spottet jeder Beschreibung. Gegen 500 000 Witwen, von denen 20 000 unter 5 Jahren alt find, bilden die Opfer der Priesterkaste. Das Abendland habe die Pflicht, einzuschreiten. Der letzte Vortragende Dr. med. Jwan Bloch Berlin   legte seinen Ausführungen die nachfolgenden Thesen zugrunde: 1. Die sexuelle Frage ist als Kulturfrage heute eine internationale Frage geworden und kann nur durch die Solidarität aller Kulturvölker in einheitlichem Sinne gelöst werden. 2. Da die sexuelle Energie ein wichtiges und wesent­liches Element der allgemeinen Kultur und des Fortschritts bildet, hat die Kulturmenschheit ein solidarisches Interesse an ihrem Schuhe und ihrer Förderung. 3. Da der Begriff der Kultur­menschheit" durch die Heranziehung fast aller Rassen zur Kultur­arbeit sich immer mehr erweitert, muß auch die nationale Sexual­ethit immer mehr einer allgemeinen kulturellen Segualethit Platz machen. 4. So müssen auch die eminent praktischen Fragen der Rassenmischung, der Bekämpfung der Prostitution und der Ge­schlechtskrankheiten einzig und allein vom Standpunkt dieser grö­Beren" Kulturmenschheit beurteilt werden.

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Die anwesenden internationalen Delegierten der Vereinigung nchmen in der Diskussion das Wort. Frau Steenhoop Stock­holm, Frau Heiberg Norwegen, Frau Hohenterwart= Israels Amsterdam erklärten, daß sie eintreten wollten für ben realen und idealen Mutterschuß und für die sexuelle Solidari­tät der Kulturmenschheit. Mit herzlichen Dankesworten und noch­maliger Betonung der Internationalität der Bewegung schloß Dr. Helene Stöcker   die Tagung.

Aus der Bewegung.

a. n.

Von der Agitation. In Ostpreußen   sprach die Unterzeichnete in Wehlau  , Ponarth, Juditten, Königsberg  , Tilsit, Memel  , Schmelz, Billau und ufen. Die Versammlungen sollten namentlich der Organisierung und Auf­

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