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Die Gleichheit

Stelle in Europa  , unmittelbar hinter Rußland  , Österreich­Ungarn und Rumänien  . Auch Leben und Tod der Neu­geborenen stehen in der Hand der Hebamme, hängen in weit­gehendem Maße ab von dem Verständnis, das die Geburts­helferin für die Bruststillung besitzt, und von dem Eifer und der Geduld, die sie entwickelt, um auch unter schwierigen Ver­hältnissen dem Kinde zur Milch der Mutterbrust zu verhelfen. Wie kann man aber volles Verständnis und Können für alle diese wissenschaftliches Denken voraussetzenden Lei­stungen von den heutigen Hebammen verlangen? In ihrer übergroßen Mehrzahl find dies Frauen, die den ärmsten und

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dank unserer Klassenschule ungebildetsten Schichten un­seres Volfes entstammen. Frauen, die nur zu oft nicht aus Neigung ihren schweren, verantwortungsreichen Beruf er­griffen haben, sondern aus Not, die nicht selten gegen ihren Willen von irgendeiner knauferigen ländlichen Gemeinde oder Gutsverwaltung zur Ausbildung gepreßt worden sind, damit diese sich um eine etwaige Armenunterstützung herum­drücken können.

Am Hebammenwesen unserer Zeit ist nicht weniger als alles reformbedürftig. An der mangelnden Auswahl wirklich geeigneter Kräfte ist zunächst die soziale Geringschäzung schuld, die dem Beruf heute anhaftet. Die schwerste Schuld daran trägt aber die unglaublich niedrige Bezahlung, die in feinem Verhältnis steht zu den vielen und schweren Mühen des Berufs. Die letzte vor etwa zehn Jahren aufgenommene Ein­fommenstatistik der preußischen Hebammen ergab, daß fast ein Fünftel aus ihrem Beruf unter 200 Mr., ein Drittel unter 400 Mt. Jahreseinkommen erzielten. Mehr als die Hälfte der Hebammen hatte also unter 400 Mt. Jahresverdienst. Einer kleinen Zahl leidlich oder auch gut bezahlter Kräfte in den Großstädten stehen Tausende mit einer ganz unzu­reichenden Besoldung gegenüber. Deren Lebensführung steht infolgedessen auf so tiefer Stufe, daß die Hygiene des eigenen Körpers notwendig darunter leiden muß. Klingt es da nicht wie Hohn, wenn das Hebammen- Lehrbuch vorschreibt, daß die Hebamme keine grobe, schmußige Arbeit verrichten darf, durch die ihr Körper, besonders ihre Hände für den Hebammen­beruf weniger geeignet oder unbrauchbar werden? Die Heb­amme ist durch ihre Dienstvorschrift verpflichtet, jedem Rufe 311 einer Gebärenden Folge zu leisten. Für die Entbindung Unbemittelter, die selbst nichts zu zahlen imftande sind, er­hält sie aber von der Gemeinde gewöhnlich eine kaum nen­nenswerte Entschädigung, oft nicht einmal das, nämlich gar nichts.

Nicht die einzelne Hebamme, auch nicht der Stand der Heb­ammen ist schuld an dem niedrigen Sciveau, auf dem die heu­tige außerärztliche Geburtshilfe steht, das heißt die Geburts­hilfe, die für die Mehrheit des Volkes in Betracht kommt. Schuld daran ist das staatliche System, das den Hebammen für eine unzureichende, elende Bezahlung Pflichten aufläd, sie diesen aber weder durch ihre Vorbildung noch durch ihre spezielle Berufsschulung gewachsen sein läßt. Ein amtliches Eingeständnis der Unzulänglichkeit der heutigen Hebammen liegt darin, daß jene Pflichten immer mehr eingeschränkt werden. Daraus ergeben sich dann nicht selten verzweifelte Situationen am Bette der Gebärenden, wenn die Dienstvor­schrift es der Hebamme verbietet, einen rettenden Eingriff vorzunehmen, den nur der Arzt machen darf, ärztliche Hilfe aber gar nicht oder' nur mit gefährlichem Zeitverlust aufzu treiben ist. Nach allem ist das vernichtende Urteil vieler Ärzte über das Hebammenwesen erklärlich. Dr. Eckstein Teplit, der seit Jahrzehnten für eine moderne Umgestal­tung der Geburtshilfe kämpft, erklärt das heutige Heb­ammenwesen, dem mindestens drei Fünftel aller Geburten allein überlassen sind, für eine staatlich konzessio. nierte Kurpfuscherei. In seiner Schrift.Die puer­perale Infektion in forensischer Beziehung" meint er, daß es ebenso sträflich ungerecht ist, die Hebammen für Versehen im Beruf zu bestrafen, als wenn man Kindern geladene Schuß­waffen zum Gebrauch gibt oder einem Handlanger die Aus­

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führung einer schwierigen Deckenkonstruktion überläßt und dann Kinder oder Handlanger schwer straft, wenn ein Unglück geschehen ist. Das Verständnis des weitaus größten Teiles unserer Hebammen steht im Niveau dessen eines Kindes zur geladenen Schußwaffe oder des Handlangers zur Deckenkon­struktion. Allein das Gesez gestattet in ebenso leichtsinniger Weise den Hebammen, auf dieser mangelhaften Wissensbasis Geburtshilfe zu treiben, wie es in rücksichtsloser Weise straft, wenn die Hebamme in ihrer Praxis ein Verschulden trifft."

Die Hebammen sind aber nicht nur in ihrem Können un­genügend, sondern auch an Zahl unzureichend. Besonders in dem kulturell zurückgebliebenen Osten Deutschlands   gibt es ärzte- und hebammenarme Kreise, in denen ein erschreckend hoher Prozentsatz der Geburten ohne Hilfe von Hebammen erfolgt. Die Hebammenpfuscherei steht hier in Blüte und hat natürlich eine Menge von Erkrankungen im Kindbett zur Folge. Im Jahre 1911 gingen in Preußen nicht weniger als 116254 von 1225091 Entbindungen ohne den Beistand von Hebammen vor sich. Rechnet man hiervon die 21 758 in Hebammenlehr­anstalten erfolgten Entbindungen ab sowie die Zahl der von nichtpreußischen Hebammen und die von Ärzten allein ge­leiteten Geburten, so bleiben schäßungsweise noch immer rund 80 000 Entbindungen übrig, die jedes sachgemäßen Beistandes entbehrten. Ein furchtbares Armutszeugnis für einen Kulturstaat! Im Kreise Pleschen   erfolgten 33,4 Prozent, in Schrimm   44,6 Prozent, in Schroda   45 Prozent, in Schildberg 51 Prozent, in Adelnau  53,6 Prozent der Geburten ohne Hebammenhilfe, also unter Leitung von Pfuscherinnen. In Posen hat die Hebammen­pfuscherei 1911 im Vergleich zum Vorjahr noch zugenommen. Die für derlei Pfuschereien verhängten Bestrafungen standen in keinem Verhältnis zu den schweren durch jene bewirkten Schädigungen an Leben und Gesundheit. So erhielt im Kreise Oletko eine Hebammenpfuscherin wegen eines tödlich verlaufenen Falles 1 Mk.(!) Polizeistrafe, in anderen Fällen gab es Strafen von 5 bis 10 Mt., in einem Falle 2 Wochen Haft. Diese Angaben beleuchten die vollendete Hilflosigkeit der Verwaltungsorgane gegenüber einem vom Staate selbst verschuldeten Notstand. Mit Strafen wird auch keine Besse­rung solcher entsetzlichen Zustände erreicht. Auch die nicht sel­tenen Fälle, in denen Gebärende und Wöchnerinnen ohne Schuld der Geburtshilfe erkranken und sterben, weil sie in unsauberer, unhygienischer Umgebung niederkommen, zeigen, wie von Grund aus reformbedürftig die Fürsorge für die Mütter des Volfes ist. Es fehlt vor allem auch an modernen Entbindungsanstalten für diese Armsten der Armen.

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Die Verwahrlosung der Geburtshilfe ist für Einsichtige so offenbar geworden, daß nicht nur von hervorragenden Medi­zinalbeamten und Hebanımenlehrern, sondern auch aus den Kreisen der Hebammen selbst nicht zuletzt natürlich im eigenen Interesse der Ruf nach einer Reform der Geburts­hilfe erhoben wird. Wiederholt haben die 32 200 organisierten Hebammen beim Reichstag schon um eine reichsgesetzliche Re­gelung der Materie petitioniert. Im Jahre 1908 erklärte der damalige Staatssekretär des Innern v. Bethmann Holl­meg der erstaunt aufhorchenden Mitwelt, daß nach seiner Auffassung das Hebammenwesen sich nicht zur allgemeinen reichsgefeßlichen Regelung eigne. Dabei schreit die Bunt­scheckigkeit der einschlägigen gefeßlichen Bestimmungen zum Himmel. Fast jedes der deutschen   Baterländer hat andere Be­stimmungen über die Dauer der Ausbildung, von der Ver­schiedenheit dieser Ausbildung ganz abgesehen. Es gibt Heb­ammenlehranstalten, in denen die Schülerin  - wie in Mar­ burg   nur 7 oder wie in Gumbinnen  9 Entbindungen während der Ausbildungszeit zu sehen be­kommt, während in Berlin   und Bonn   122 und 136 Ent­bindungen auf eine Schülerin kommen. Dann die Ungleich­heit der Besoldung und der Altersversorgung. Einige Bun­desstaaten gewähren alten oder invaliden Hebammen Ben­fionen, die allerdings sehr färglich bemessen sind. Die meisten lassen aber ihre betagten Hebammen im Notfall der Armen­

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