324
Die Gleichheit
Stelle in Europa , unmittelbar hinter Rußland , ÖsterreichUngarn und Rumänien . Auch Leben und Tod der Neugeborenen stehen in der Hand der Hebamme, hängen in weitgehendem Maße ab von dem Verständnis, das die Geburtshelferin für die Bruststillung besitzt, und von dem Eifer und der Geduld, die sie entwickelt, um auch unter schwierigen Verhältnissen dem Kinde zur Milch der Mutterbrust zu verhelfen. Wie kann man aber volles Verständnis und Können für alle diese wissenschaftliches Denken voraussetzenden Leistungen von den heutigen Hebammen verlangen? In ihrer übergroßen Mehrzahl find dies Frauen, die den ärmsten und
-
-
dank unserer Klassenschule ungebildetsten Schichten unseres Volfes entstammen. Frauen, die nur zu oft nicht aus Neigung ihren schweren, verantwortungsreichen Beruf ergriffen haben, sondern aus Not, die nicht selten gegen ihren Willen von irgendeiner knauferigen ländlichen Gemeinde oder Gutsverwaltung zur Ausbildung gepreßt worden sind, damit diese sich um eine etwaige Armenunterstützung herumdrücken können.
Am Hebammenwesen unserer Zeit ist nicht weniger als alles reformbedürftig. An der mangelnden Auswahl wirklich geeigneter Kräfte ist zunächst die soziale Geringschäzung schuld, die dem Beruf heute anhaftet. Die schwerste Schuld daran trägt aber die unglaublich niedrige Bezahlung, die in feinem Verhältnis steht zu den vielen und schweren Mühen des Berufs. Die letzte vor etwa zehn Jahren aufgenommene Einfommenstatistik der preußischen Hebammen ergab, daß fast ein Fünftel aus ihrem Beruf unter 200 Mr., ein Drittel unter 400 Mt. Jahreseinkommen erzielten. Mehr als die Hälfte der Hebammen hatte also unter 400 Mt. Jahresverdienst. Einer kleinen Zahl leidlich oder auch gut bezahlter Kräfte in den Großstädten stehen Tausende mit einer ganz unzureichenden Besoldung gegenüber. Deren Lebensführung steht infolgedessen auf so tiefer Stufe, daß die Hygiene des eigenen Körpers notwendig darunter leiden muß. Klingt es da nicht wie Hohn, wenn das Hebammen- Lehrbuch vorschreibt, daß die Hebamme keine grobe, schmußige Arbeit verrichten darf, durch die ihr Körper, besonders ihre Hände für den Hebammenberuf weniger geeignet oder unbrauchbar werden? Die Hebamme ist durch ihre Dienstvorschrift verpflichtet, jedem Rufe 311 einer Gebärenden Folge zu leisten. Für die Entbindung Unbemittelter, die selbst nichts zu zahlen imftande sind, erhält sie aber von der Gemeinde gewöhnlich eine kaum nennenswerte Entschädigung, oft nicht einmal das, nämlich gar nichts.
Nicht die einzelne Hebamme, auch nicht der Stand der Hebammen ist schuld an dem niedrigen Sciveau, auf dem die heutige außerärztliche Geburtshilfe steht, das heißt die Geburtshilfe, die für die Mehrheit des Volkes in Betracht kommt. Schuld daran ist das staatliche System, das den Hebammen für eine unzureichende, elende Bezahlung Pflichten aufläd, sie diesen aber weder durch ihre Vorbildung noch durch ihre spezielle Berufsschulung gewachsen sein läßt. Ein amtliches Eingeständnis der Unzulänglichkeit der heutigen Hebammen liegt darin, daß jene Pflichten immer mehr eingeschränkt werden. Daraus ergeben sich dann nicht selten verzweifelte Situationen am Bette der Gebärenden, wenn die Dienstvorschrift es der Hebamme verbietet, einen rettenden Eingriff vorzunehmen, den nur der Arzt machen darf, ärztliche Hilfe aber gar nicht oder' nur mit gefährlichem Zeitverlust aufzu treiben ist. Nach allem ist das vernichtende Urteil vieler Ärzte über das Hebammenwesen erklärlich. Dr. Eckstein Teplit, der seit Jahrzehnten für eine moderne Umgestaltung der Geburtshilfe kämpft, erklärt das heutige Hebammenwesen, dem mindestens drei Fünftel aller Geburten allein überlassen sind, für eine staatlich konzessio. nierte Kurpfuscherei. In seiner Schrift.Die puerperale Infektion in forensischer Beziehung" meint er, daß es ebenso sträflich ungerecht ist, die Hebammen für Versehen im Beruf zu bestrafen, als wenn man Kindern geladene Schußwaffen zum Gebrauch gibt oder einem Handlanger die Aus
Nr. 21
führung einer schwierigen Deckenkonstruktion überläßt und dann Kinder oder Handlanger schwer straft, wenn ein Unglück geschehen ist. Das Verständnis des weitaus größten Teiles unserer Hebammen steht im Niveau dessen eines Kindes zur geladenen Schußwaffe oder des Handlangers zur Deckenkonstruktion. Allein das Gesez gestattet in ebenso leichtsinniger Weise den Hebammen, auf dieser mangelhaften Wissensbasis Geburtshilfe zu treiben, wie es in rücksichtsloser Weise straft, wenn die Hebamme in ihrer Praxis ein Verschulden trifft."
Die Hebammen sind aber nicht nur in ihrem Können ungenügend, sondern auch an Zahl unzureichend. Besonders in dem kulturell zurückgebliebenen Osten Deutschlands gibt es ärzte- und hebammenarme Kreise, in denen ein erschreckend hoher Prozentsatz der Geburten ohne Hilfe von Hebammen erfolgt. Die Hebammenpfuscherei steht hier in Blüte und hat natürlich eine Menge von Erkrankungen im Kindbett zur Folge. Im Jahre 1911 gingen in Preußen nicht weniger als 116254 von 1225091 Entbindungen ohne den Beistand von Hebammen vor sich. Rechnet man hiervon die 21 758 in Hebammenlehranstalten erfolgten Entbindungen ab sowie die Zahl der von nichtpreußischen Hebammen und die von Ärzten allein geleiteten Geburten, so bleiben schäßungsweise noch immer rund 80 000 Entbindungen übrig, die jedes sachgemäßen Beistandes entbehrten. Ein furchtbares Armutszeugnis für einen Kulturstaat! Im Kreise Pleschen erfolgten 33,4 Prozent, in Schrimm 44,6 Prozent, in Schroda 45 Prozent, in Schildberg 51 Prozent, in Adelnau 53,6 Prozent der Geburten ohne Hebammenhilfe, also unter Leitung von Pfuscherinnen. In Posen hat die Hebammenpfuscherei 1911 im Vergleich zum Vorjahr noch zugenommen. Die für derlei Pfuschereien verhängten Bestrafungen standen in keinem Verhältnis zu den schweren durch jene bewirkten Schädigungen an Leben und Gesundheit. So erhielt im Kreise Oletko eine Hebammenpfuscherin wegen eines tödlich verlaufenen Falles 1 Mk.(!) Polizeistrafe, in anderen Fällen gab es Strafen von 5 bis 10 Mt., in einem Falle 2 Wochen Haft. Diese Angaben beleuchten die vollendete Hilflosigkeit der Verwaltungsorgane gegenüber einem vom Staate selbst verschuldeten Notstand. Mit Strafen wird auch keine Besserung solcher entsetzlichen Zustände erreicht. Auch die nicht seltenen Fälle, in denen Gebärende und Wöchnerinnen ohne Schuld der Geburtshilfe erkranken und sterben, weil sie in unsauberer, unhygienischer Umgebung niederkommen, zeigen, wie von Grund aus reformbedürftig die Fürsorge für die Mütter des Volfes ist. Es fehlt vor allem auch an modernen Entbindungsanstalten für diese Armsten der Armen.
-
Die Verwahrlosung der Geburtshilfe ist für Einsichtige so offenbar geworden, daß nicht nur von hervorragenden Medizinalbeamten und Hebanımenlehrern, sondern auch aus den Kreisen der Hebammen selbst nicht zuletzt natürlich im eigenen Interesse der Ruf nach einer Reform der Geburtshilfe erhoben wird. Wiederholt haben die 32 200 organisierten Hebammen beim Reichstag schon um eine reichsgesetzliche Regelung der Materie petitioniert. Im Jahre 1908 erklärte der damalige Staatssekretär des Innern v. Bethmann Hollmeg der erstaunt aufhorchenden Mitwelt, daß nach seiner Auffassung das Hebammenwesen sich nicht zur allgemeinen reichsgefeßlichen Regelung eigne. Dabei schreit die Buntscheckigkeit der einschlägigen gefeßlichen Bestimmungen zum Himmel. Fast jedes der deutschen Baterländer hat andere Bestimmungen über die Dauer der Ausbildung, von der Verschiedenheit dieser Ausbildung ganz abgesehen. Es gibt Hebammenlehranstalten, in denen die Schülerin - wie in Mar burg nur 7 oder wie in Gumbinnen 9 Entbindungen während der Ausbildungszeit zu sehen bekommt, während in Berlin und Bonn 122 und 136 Entbindungen auf eine Schülerin kommen. Dann die Ungleichheit der Besoldung und der Altersversorgung. Einige Bundesstaaten gewähren alten oder invaliden Hebammen Benfionen, die allerdings sehr färglich bemessen sind. Die meisten lassen aber ihre betagten Hebammen im Notfall der Armen
-
-
-
nur