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Nummer 46 16. November 1621 _,___ �lnterhaltuntzsbeilatze öe» Vorwärts Nach öem Pogrom. Bon Alfon» P« tz o l d. Juda Nachman, der zwanzigjährige Sohn de» Melameth')«ine» Neinrussischen Landsiädtchen«. war dem wahnwitzigen Pogrom ent» flohen, der in den düsteren Gäßchen des Ghetto die rote Flamm« de» Blutes und die Feuersäulen brennender Wohnstätten aufleuch- ten lieh. Mit schnellen Fluchtschritten hastete der Jüngling über die end« losen Felder, sein junger Leib schlich durch die schweigsamen Wälder und ging den Dörfern und Landstraßen meilenweit aus dem Weg. Noch sah er immerfort Blut, rauchendes, zischendes, schreiend i gewordenes Blut vor seinen Augen. Es floß über die Wiesen, rann von den Besten und Stämmen der Bäume, blendete seinen. Blick, wohin er ihn auch wenden mochte, und tropfte au» Sternen, Mond und Sonne unablässig auf ihn herab. Noch saß kein anderes Geräusch in seinem schmerzdurchtobten Gehirn, wie das Todesgeschrei seiner ermordeten Verwandten und Nachbarn. Im fern verhallenden Geheul eines Hofhundes erkannte Juda diese furchtbaren Laute; sie kamen ihm zugeflogen al» hungriges Gekreisch der Krähen, und da» feuchte Geraschel de» Laubes im Walde sickerte in sein Ohr als das schmerzvolle Jn-den« Tod-weinen eines Kindes. Bis zum schützenden Abend lag er versteckt unter irgendeinem; Strauch  , drückte das verhetzte Gesicht in das mitleidige Gras, schrie innerlich auf vor gewaltiger, aufrasender, nie sich niederduckender Angst, wenn ihn ein harmloses Tier, eine Fliege, ein Käfer oder Wurm berührte, biß in Steine, um der fühllosen Erde seinen Schmerz zuzufügen, stach sich spitze Dornen in sein Jünglinqssleisch, um mit der schwachen Qual des Körpers das grausige Weh der Seele zu erdrosseln. Getrieben von stechendem Hunger ah er die bittere Rinde der Bäume und den Winterfamen verblühter Gebüsche. ' Vor dem bleichen Glanz des Wassers eines Baches oder Tüm- pels scheute er sich und entwich solchen Orten wie ein toller Hund. Sah er doch in der ruhig dahinfließenden oder stillsiehenden Wasserfläche das Spiegelbild seines blutbespritzten, mit Brand- löchern besäten, zerfetzten Kaftans und seines schneebleichen, furcht- verzerrten Gesichtes, über das die noch breitklaffende Hiebwunde eines schartigen Gartenmessers hinlief, die ihm einer der verfluchten Mörder beigebracht hatte, als er feiner Lieblingsschwester Lea zu Hilfe geeilt war. Er band die tiefe Wunde nicht zu, legte weder heilkräftige Kräuter noch kühlenden Lehm darauf; sie sollte nur bluten, immer- fort bluten, rann doch aus ihr das ganze unermeßliche Leid seines unglücklichen Volkes. Und flösse ein Meer Blut aus ihr, ihm sollte es nur recht sein. Dann ersoff wenigstens alles darin; feine Furcht, feine Qual und die Meute der Brandstifter und Mörder. Erst in der Stunde, in der das große Schweigen und Dunkel der Nacht langsam aus dem Boden zu wachsen begann, kroch er aus seinem dürftigen Tagversteck und rannte im Lauf« eines ge- hetzten Tieres durch die trostlose Einsamkeit. Nur der Instinkt des um sein Leben kämpfenden Tieres führte ihn. Wohin führte ihn dieser Instinkt? Er wußte es nicht, fragte nicht Pfad noch Wolke danach. > Es war ihm auch ganz gleichgültig. Nur fort aus diesem vom Entsetzen durchbrüllten, von den Fackeln der Mordbrände durchgrellten, unzählige Male verfluchten Rußland  . Weit, weit weg von der rauchenden Stätte, wo der all- mächtige Gott der Juden im Trümmerhaufen seines zerstörten hei- ligen Hauses auf Erden, im Blutstrom seiner treuen dahingemor- deten Gemeinde versank, ohne seine zum Himmel schreiende Schmach und die grauenhafte Vernichtung der Gläubigen an den Missetätern auf der Stell« furchtbar zu rächen. Und Juda Nachman, der früher so fromme Talmudschüler, der lächelnde Stolz des alten Rabbi, er, der vor wenigen Tagen noch der Weiseste und Stillste unter den jungen Schristenergründern des heimatlichen Ghetto war, spie nun tollen Haß auf diesen jäm- merlichen Gott der Ohnmacht und der Knechte, den diese in blinder *) Bibelschullehrer. Demut und Beschränktheit Adonai  , den starken und gerechten Herrn der Ewigkeit, nannten. Wenn er spürt«, daß er im eiligen Laus» den Dungkot und den Lehm der Felder und Waldwege mit seinen federnden Füßen hinter sich schleuderte, war e» ihm in seinem jetzigen erbärmlichen Zustand eine wütende, ihn ein wenig aufrichtende Freude, zu denken, der Kot und Lehm flöge in da» geschändete Angesicht de» entgötterten Jehooa. Judengott Jnsektenkönigl' Herr der Heerscharen Läusefürstl" Bei jedem Schmutzwurf, der sich von seinen Sohlen löst« und hinter seinem Rücken in da»' Unbestimmte fiel, zischelte er dies» grauenhafte Gotteslästerung vor sich hin. Dabei wagte er aber nicht, sich ein einziges Mal umzudrehen, um nicht in das mißhandelte, geschändete Gesicht de» Gottes seiner Väter zu sehen. Er hätte ihm ja noch mit beiden Fäusten hinein» schlagen müssen in das feige, angefpiene Antlitz und dazu schreien, daß es über die ganze Erde scholl: Die Anklage und das Urteil eines von seinem Gott treulos ver« lasfenen und verratenen Volkes: Judengott Jnsektenkönig!" Herr der Heerscharen Läusefürstl" Und je länger er rannt«, desto mehr Lehm und Flüche warf er hinter sich, und auf einmal hatt« er dos Gefühl, als wäre der Gott hinter ihm von der Menge de» auf ihn geschleuderten Kote» er- stickt. Da stürzte Juda Nachman, der Gottesmörder, auf die Erd« und lag drei Tage und Nächte inmitten eine» wüsten Feldes be- sinnungslos da. Da««rste Kapital au» dem»och ungedruckten RomanDer feuria» W e__ Spracherneuerung. Bon Otto Ernst Hesse  . Die deutsche Sprache hat keine Einheit mehr. Wir haben ein« Sprache des Volts, die Dialekte und Mundarten, und haben das Schriftdeutsch, das Litcraturdeutsch, das Papierdeutsch. Es ist mit der Sprache wie mit einer Familie: erhält sie keine Blutzufuhr von unten, frischt sie sich nicht auf durch Ausnahme von Elementen, die dem Unbewußten des Lebens noch näher sind, wird sie steril. Mit dem schönen Scheine abgeklärter Kultur sängt die Literatursprach« die ein, deren Aufgabe es wäre, diese Erneuerung von unten her, ous dem Barne der Mundarten, der Volkssprache, der Sprache der Masse, zu vollziehen. Das Schicksal der Anpassung hat fast alle jene Dichter betroffen, die aus der Masse des Volkes hervorgegangen sind. Diesen proletarischen Dichtern, diesen Arbeiterdichtern und auch jenen, die aus Bauern- und Kleinbürqermilieu herausgewachsen sind, kann nicht der Vorwurf erspart werden, daß sie diese Aufgabe, die wichtiger als jede inhaltliche Gestaltung ist, überhaupt noch nicht erkannt haben. Man dürfte hoffen, daß diese Dichter und Schrift- steller, die der unliterarischen Masie noch nahe stehen und durch die Kanäle des Bluts und mit den Fasern unverbrauchter Nerven mit ihrer großen und ewig schöpferischen Anonymität verbunden sind, neues, saftigeres Sprachgut in die Literatur mitbrächten und dem verbrauchten Deutsch der alexandrinisch gewordenen Literatur neu« Kräfte zuführten. Aber man ist bisher bitter enttäuscht worden. Diese neuen Menschen wurden rasch, allzu rasch Literaturmenschen. So als ob dies Gehirn nicht aus der Naivität des literaturfernen Volkes käme, sondern sich seit Generationen der Vorväter schon mit den dünnsten Literatursuppen genährt habe, so rollt es die verbrauch- testen und schlechtesten Phrasen ab.' Die Aufgabe, die zu erfüllen wäre, ist gewiß nicht leicht. Di« Verlogenheit gegenüber allem, was derb und saftig Ist, verbietet die Aufnahme von Volksgut. Vor kurzem war in einer- mittleren Prcvinzzeitung ein Bericht über die Arbeit eines Vereins zu lesen, der sich die neu entstandenen und neu entstehenden Sprichwörter und Spruchwahrheiten des arbeitenden Volkes zu sammeln vorgenommen hat. Der Berichterstatter glaubte betonen zu müssen, daß sich leider die meisten dieser gesammelten Sprichwörter und Volksweisheiten nichtöffentlich" wiedergeben ließen, da sie zu derb und zu sehr von gewissen Gegenden des menschlichen Körpers her, dessen Funktio- neu demVolke" eben die nächste Quelle aller Sprachgleichnifse ist, beeinflußt feien. Kann man sich etwas Groteskeres vorstellen, als dieses Versteckspielen und diese Verdrehung der Tatsachen? Man