Suenss /�ires.Von Alfons Goldschmidt.*)Diese Stadt ist alt und doch nicht geworden, st« hat eine Ge-schichte, aber keine Tradition. Sie kam von außen, mit dem Landeselbst hat sie kein« Gemeinschaft. Es ist das Prohkem Petersburgin Argentinien, das Problem kapitalistische Küstengroßstadt, Mo-bilisierungsmaschine, die gegen das Land stößt. Sie ist Handels-europäisch und handelsnordamerikamsch, sie ist gehetzt und schwül,schlecht hingelagert und ungesund, Steinschachbrett mit eingekitschtenund angekitschten Park- und Villengeschmacklosigkeiten. Die Meer-winde hier sind nicht gut, senkrechte Sonnen, Feuchtigkeit und sprin-oende Kälten. Eine Architektur und ein Wetter ohne Klima. Esist keine Stetigkeit in dieser Stadt. Sie ist quadriert, aber nichtorganisch. Welä)« Stadt gefällt Ihnen besser, Buenos Aires oderCordoba? fragte mich der Präsident des Landes. Cordobal sagteich, denn Cordoba gehört zu diesem Boden, Buenos Aires gehörtzum internationalen Rummel.Eine schwüle Raserei stürzt dir entgegen, ein Autokatarokt amEingang der A v e n i d a d e M a y o. Es ist die Stolzstrah« derZivilisierten, ein furchtbarer Druck gegen die Kultursehnenden. Anden Enden Offizialpaläste der Regierung und des Parlamentes,und gleich hörst du, was bei ihrem Bau gestohlen wurde. InGoldpesos geschätzt. Es ist«ine Genugtuung in dieser offenenHeimlichkeit. Sie sagen: Nicht wahr, wie reich ist dieses Land, daßleine Ober- und Unterhalunken Millionen Goldpesos stehlen können?Brüderfreude speichelt aus dieser Mitteilung und der GeschäftsneidAbseitiger.Sie führen dich durch quetschende Straßen und zeigen dir mitBrustwurf die Brillanten der Calle Florida. Sofort weißtdu: hier wird teures Fleisch gehandelt, der Prostitutionsruhm derStadt ist berechtigt. Wo Brillanten blitzen, stinkt die Bürgerehe.Nicht die Organisierung der Lustreserve überrascht dich, das„re-sormierte" Fleifchausbeutungssystem, das System der Einzelhäus-chen in jeder Ouadra, mit einer Frau und einer reizlosen Alten.Sie wollen so die Truckerpressung, den Verkauf von Brunstarbeitgegen Schuldknechtschaft bekämpfen, den Kehldruck des Zuhälters,den wüsten Kuppelmord der Massenbordelle. Aber es ist nur einFormwechsel, kein Wesenswechsel. Die Abhängigkeit bleibt, derZuhälter wird jetzt Grundstücksspekulant, Hochmieten fordern ein«entsetzliche Arbeit bis zum Verrecken. Fünfzehn Mann in einerStunde sah ich in einen solchen Käfig schleichen. Und wieder erlebteich dieses: je geschniegelter, humanitätsblasender die Technik, umso entsetzlicher die Ausbeutung. Es ist nur eine neue Regelungdes Geschäftes, das Geschäft selbst wird intensiviert, aber nicht ge-ändert. Sie sprechen im Lande von den Kaftans, von einemMassenmädchenhändler Makrofs. Damit benennen sie die Vam-pyre. Ich weiß nicht, ob die Stinksag« von dem fliehenden Lust-spekulanten begründet ist: sicher nutznießen nicht nur Kaftane undMakroff, es nutznießt der danz« Terrainwucher bis hin zu denSalbungsvollen, die eine geschmierte Moral frech vom Oelberg ver-künden.Diese Stadt verbraucht Menschen. Sie stößt Menschen nachdem Peso, sie raubt ihnen den letzten Besinnungsaugendlick. EsJachtert durch die engen Parallelen, du merkst doch nichts von demleisen breiten Dröhnen der Produktion: es ist Handelskapitalismus.Es ist Reklame, Zioilisationsreklame, d. h. Reklame für denGeldbeutel. Handelskapitalistische Stadtverwaltungen sorgen zuerstfür Paläste und dann für Wohnungen. Zuerst für Parks und dannfiir Erholungswege, zuerst für den Prosit und dann noch lang«Nicht für die Arbeit. Man nennt das„Wahrzeichen" einer Stadt.Es sind Generalsdenkmäler, Regierungspaläste, architektonischeOrgien nutzloser Parlamente, es ist frisierte, gepfropfte, beschnitteneNatur. Es sind Plätze, aber keine Räume. Es gibt zwei Straßen.Das übrige sind Beengungen.Der Park Palermo in Buenos Aires ist weit angelegt.Aber es ist kein« organische Weite, es ist keine Atemweite, dieLungen jauchzen nicht, du bleibst gedrückt auf einem vielfach breitenWege, auf diesem Kunstrasen, an diesen Kunstseen. Du flüchtestdich in Gärtchen, wo du kuhwarme Milch schlucken kannst. Kuh-warme Milch, das ist Natur, nicht aber dieser Korsoasphalt, wonachmittags die Beperlten mit hängenden Herrschermienen im Autofahren, wo die Faulen.zer sich beneiden, wo eine ekle Mischungvon Benzin-, Asphalt- und Parfllindüften dir das Gehirn vernebelt.Abseits, fern von den Geschniegelten, findest du ein Wasser, vonstilleren Bäumen umzärtelt, ohne Kriegsschiffimitationen, ohne ver-drechselte Brücken, ohne Tümpelhafttgkeit, ein wirkliches Wasser.Hier konnte ich eine Stund« lang Luft holen, hier durste ich dieStadt ausatmen. Hier war es abseits und gottlob nicht mittendrin.Aber den Zoologischen Garten der Stadt muß ichloben. Es ist ein Prachtgarten in einem andern Sinne. Hier istGefiederpracht, Fellvracht, Hautpracht, hier ist ein Zwitschern,Brüllen, Hacken. Juchtern. Schnarren, daß du auflebst. Eine Klein-kinderbahn kreiselt, auf Maultieren sitzen Pausbäckchen und Fett-*) Anfang 1922 wurde Alfons G v ld s ch m i d t von derargentinischen Universität Cordoba gebeten, dort Vorlesungen überdie Wirtschaft zu halten. Er lehrt« bis Oktober 1922, erst in Cor-doba, dann an den Universitäten Santa Fe, Rosario, La Plata undBuenos Aires. Was er von den Menschen und dem Lande sah,hat er in einem kleinen Buche„Argentinien" erzählt, das imVerlag von Ernst Rowohlt Berlin, erschienen ist. Wir entnehmendem vorttxfslichen Werke, dessen Lektüre wir unseren Lesern warmempfehlen, das Kapitel„Buenos Aires".>waden. Es kostet rvenla. Jeder kann sich den Gang, die Fahrt,den Ritt durch diesen Wundergarten leisten.In diesen Garten mußt du dein Söhnchen, dein Töchterchenführen. Zu den Pelikanen, den Flamingos, den unsagbar fettenKarnjckeln, zu den trägschleimigen Schlangen und zu den Affen.Auch in Berlin gibt es diese Tiere, aber dort, unter jenem ttopen»näheren Himmel sind sie aufgekratzter oder noch träger. Sie schnat-lern unartikulierter und lusttger, sie stelzen organischer, sie plumpsenund krächzen insttnktmäßiger, sie sind nicht so ausgestellt wie inden Tiergarten Europas. Du empfindest nicht den Herzdruck auchvor dieser Knechtschaft.Selbstverständlich hat die Stadt ihre Villenoororte.Belgrano insbesondere. Es ist ganz die kapitalistische Stadtbil»dung: die Armen bleiben gepfercht oder müssen sich in schmutzigenSondervororten ansiedeln. Die Mehrwertler ruhen in Garten»villen, dustumschwebt. Die Mehrwertler haben ihre Spezialnatur,Spezialfahrt, Spezialpapageien, Spezialsrngvögel und Spezialpalmen. Man nennt das„vornehme Zurückgezogenheit". Es istAngst, Trennung von den Mahnenden, es ist Kraftansammlung,während man den Vielen„Hygiene" widmet. Der Mehrwertlerißt yut, atmet gut, reitet, fährt und ruht gut, der Proletarier erhältHygiene. Hygiene ist die sozial-medizinische Firma des Pauperis»mus, Hygiene ist die billig« Humanität, das dreckige Massenbad,das Wasserklosett in der Zweizimmerwohnung mit zwölf Mietern.Hygiene und Villenvorort. Schmierseif« und Älumenduft, Chlorkalkauf Gräbern und Hautpflege nach dem Warmbad und vor demKraftfrühstück.Buenos Aires ist ein Einwanderergemengsel, ein fürchterlichesGegeneinander der Banken aller Länder, der Exporthäuser, Lädenund Menschen. Es ist keine Heimat, es ist ein Gewirbel. Es gibtkeine Traulichkeitsecke, alles hat Warenhauscharakter: Unisatz, Umsatz ist die Parole. In den Hafenbassins pökeln sich die Schiff«, diePalmen sind verkehrsbestaubt, die Illuminationen, Parteireklame-Verschwendungen, sind grell und nicht festlich, es gibt Restauratio-nen und keine Gasthäuser, du wirst gesättigt und nicht gespeist.Ohne den Amigo, ohne ein« Herzinsel kannst du dort nicht leben.Ich fand und landete. Freunde, Genossen fand ich, einige Lachende,Herzoffene, einige Gütige, Hilfsrasche, einig« Warmpulsende, Ehr-lichhösliche, anders als die Glatten mit der Phrasentünche. Wiedanke ich euch andern guten Herzen, Hilfsbegeisterte, Trunkene,wahre Freunde. Ihr wart mir wie Frischluft in dieser furchtbarschwülen Stadt, Stationen des Gehetzten, inimer bereit mit Ratund Tisch. Ihr wirbelt nicht mit, um euch wirbelt es, und Ich weiß,daß ihr und euresgleichen zur freien Zukunft Argentiniens gehört.Sprichwörter öer firmen.Von Friedrich Wendel.Wie die Katze um den heißen Brei, so geht die zünftigePhilogi« um die bedeutsame Tatsache herum, daß die gesamteProduktion der anonymen Volksdichtung in ihren Märchen.Li« der, Schnurren, Spottworten, und Sprich.Wörtern scharf ausgeprägte Merkmale der Klassenideo-l og i« der Armen und Unterdrückten aufweist. KeinMärchen ist bekannt, mag es in den Wäldern des Nordens oder inden Wüsten des Orients entstanden sein, das in seinen Tendenzenherrschenden Klassen zu Munde redete. Die Begriffe, mit denenes arbeitet, sind wie die Bgriffe der Ideologie der herrschendenKlassen. Der lieb« Gott des nordischen Märchens beispielsweiseoder der Allah der Scheherazade entsprechen nicht dem Gottbegrifsder herrschenden Priesterkasten: der König oder Kaiser des deutschenMärchens ist immer jener seltsame mystisch-unpersönliche„heimlicheKaiser", ist nie die Zitation eines Fürsten, wie er real dem Volkim Nacken saß. Das Volkslied ist immer da am stärksten, pochtimmer da am eindringlichsten an die Pforten unserer Seele, woes ganz Lied der Armen und Einfältigen ist— die letzte große Be-schwörung dieser Art war das bekannte Zwanzigerlied der hungern-den Weber von Peterswalde und Langen bi«lau. Die Schnurre istfast durchgängig Abrechnung mit den Unterdrückern und Ausbeutern,epigrammatisch zugespitzt erscheint das Wesen dieser Gattung imSpottwort. In den Sprichwörtern aber ringt der sich be-kennende Völkergeist um die letzte, beste, erschöpfende Formulierungseiner klassen«ig«nen Ideologie. Nicht zu leugnen, daß in diesemBenmhen der Selbstverständigung dann und wann letzte Sch.'ackenklassenstemden Wesens auftauchen. Wo jedoch die Emanzipationsiegt, und sie siegt in den Sprichwörtern der Armen, da offenbartsich der Sieg als deutliche, saubere Abgrenzung der klasseneigenenAnschaungen der„Nichtshäbigen" gegenüber den Anschauungen derHerrschenden und Ausbeutendem Es ist bezeichnend, daß die meistenSprichwörter dieser Gattung um die Wende des 16. Jahr»Hunderts, in der Zeit des kapitalistischen Er»wachens also, entstanden sind.„Armut ist des Reichtums Hand und Fuß", das ist ein Sprich-wort, dos getrost als Motto vor jede Tlntersuchunq kapitalistischerAusbeutemechanik gesetzt werden kann.�Daß das Geld, der Reich-tum, die Ausbeutung, die Welt in leider vollkommener Macht re-giert, sprechen die bitteren Sprichwörter aus:„Wo Geld r«det, dagilt alle Rede nicht",„Geld kann nie Unrecht tun",„Geld wirdnicht gehangen",„Die großen Diebe hängen die kleinen". Aberman hat auch richtig erkannt:„Goch hat einen feigen Hals". Unge-lehrte, doch richtige Geschichtseinsicht äußert sich in folgendem Wort:„Ein Reicher ist ein Schelm oder eines Schelmen Erbe", nicht min-der treffend konstatiert„Kleiner Leute wegen ward noch nie ein