Jugend- Vorwärts
Nr. 5
Beilage zum Vorwärts
28. Mai 1930
Kampf um die Jungarbeiterschaft.
Es gibt in Deutschland rund 9 Millionen Jugendliche im Alter von 14 bis 21 Jahren, das ist ein Siebentel seiner Gesamtbevölte rung. Die übergroße Mehrheit der Jugend ist erwerbstätig, nämlich 7,2 Millionen gleich 80 Broz. In diesen Zahlen liegt eine Erklärung für die Bedeutung der Jugend im Wirtschaftsleben, die noch steigt, wenn man sich erinnert, daß der Weltkrieg im Bevölkerungsaufbau awel starte Lücken gerissen hat: die Toten und die erwerbsbehinderten Berwundeten und den Geburtenausfall, der sich in den nächsten vier Jahren in einer erheblich niedrigeren Zahl der Schulentlassenen auswirken wird. Denken wir auch daran, daß die Mechanisierung und Rationalisierung gerade der wichtigsten Pro. duktionszweige ben jugendlichen Arbeiter heute früher denn je zu einer vollwertigen Arbeitskraft macht.
Die Bedeutung der Jugend im öffentlichen Leben ergibt sich aus der Herabsehung des wahlfähigen Alters auf 20 Jahre. Zwischen zwei Reichstagswahlen mit normalem vier jährigen Abstand wachsen drei Millionen Jungwähler zu. Wir wissen daß die Wahlbeteiligung der Jungwähler schlecht ist; sie beträgt wohl nicht mehr als 60 Broz. Trotzdem: dieje 1,8 Millionen Jungwähler, die sich ihrer Pflicht bewußt sind und abstimmen, schicken 30 Abgeordnete in das Reichsparlament. Bei den vorhandenen Mehrheitsverhältnissen tönnen die Jungwähler durch die von ihnen gewählten Abgeordneten bestimmen, ob Rückständigkeit oder Fort schritt die Politit führen.
Für die sozialistische Bewegung liegt die Bedeutung der Jungarbeiterschaft darin, daß sie das Arbeitervolt von morgen ist. Je mehr Jugend sie in ihren Reihen hat, desto höher sind ihre Zukunftsaussichten. Nicht wegen ber abgegriffenen Rebensart: Wer die Jugend hat, hat die Zukunft", sondern deswegen, weil wir auf demokratischem Wege, also durch die Mehrheit des Volkes den Sozia. lismus erreichen wollen. Außerdem: die moderne Arbeiterbewegung braucht den begeisterten, arbeitsfreudigen und zielstrebigen jungen Menschen, damit sie nicht untergeht in tausenderlei Flickwert. Es ist eine ihrer wichtigsten Fragen, ob sie sich die heilige Unruhe" der Jugend dienstbar machen kann, oder ob sie durch oberflächliche Beurteilung ihres fordernden, draufgängerischen Geistes die Jugend von sich ab und den Extremen zu drängt.
Den Kampf um die Jungarbeiterschaft hat die sozialistische Bewegung im wesentlichen mit vier Gruppen zu führen. Die erste Gruppe ist das Uninteresse breiter Jugendschichten an öffentlichen Angelegenheiten und Auseinandersetzungen, soweit sie geistiger Natur sind. Die Mehrheit der Jugend ist durch keine Bewegung irgendwie organisatorisch erfaßt. Und in der organisierten Minder heit( 40 bis 50 Pro3. im Reichsdurchschnitt) ist die Anteilnahme am politischen und kulturellen Leben und an den Diskussionen über seine Gestaltung sehr verschieden. Stellen wir nur nebeneinander den bürgerlichen Refordsportler und den aktiven sozialistischen Jugendbündler. Die Ursachen dieser Teilnahmlosigkeit sind im wesentlichen der erotisierte und sexualisierte Bergnügungsbetrieb, der Frei zeit, Geld und Kraft der Jugend verschluckt und in vielerlei gute Dividende verwandelt( Brautapital), der Ungeist einer Sensationspresse, wie er besonders in Berlin recht üble Blüten treibt, der das gefamte politische Leben und auch die guten Politiker in den Verruf der Charakterlosigkeit gebracht hat, dann die immer noch weitverbreitete, wirklichkeitsfremde Erziehung und bung der Kinder und Jugendlichen in Schule und Elternhaus.
Die zweite Gruppe ist der Sport; nicht der Sport schlechthin, sondern der Sportfimmel. Der Sport ist eine Großmacht. Dafür einen zahlenmäßigen Beleg. Nach der ersten amtlichen Sportstatistik des Freistaates Preußen betrug am 1. Januar 1929 die Mitgliederzahl der Turn- und Sportvereine in Breußen 2770 745, gleich 7,27 Proz. der Gesamtbevölkerung. Jugendliche im Alter von 14 bis 20 Jahren waren davon 1 278 202, gleich 26,34 Proz. der gefamten Jugend. Wir bejahen am Sport seine Fürsorge für bie Gesundheit gerade der Arbeiterjugend, seine Tendenz zur Steige
rung der Lebensfreude und zur Entwicklung eines natürlichen, sauberen Körpergefühls, die Entwicklung des Arbeitersports zum Massensport, der in seinen großartigen Bundesveranstaltungen beispielhaft beweist, was Massenhandlung und Massenwille leisten tönnen. Wir müssen ablehnen ben Sport als Selbstzweck, der sich losgelöst von seiner Umwelt betrachtet, den neutralen Sport, der in Wirklichkeit nationalistisch und antisozialistisch ist, vor allem aber den passiven Masseniport: ben Rummel bei Bor fämpfen, Sechstagerennen, Fußballspielen. Er züchtet gerade in jungen Menschen die Nelgungen zur Passivität, die sich vom Zuschauen beim Sportkampf auf das Zuschauen bel politischen und wirt schaftlichen Kämpfen der Arbeiterschaft ausdehnt. Er fördert die Gedankenlosigkeit: andere führen den sportlichen Kampf andere führen auch den Kampf ums Arbeiterbrot.
Die dritte und vierte Gruppe sind die Nationalsozia listen und Kommunisten. Ihr politischer Klamaut tommt bem seelischen und förperlichen Zustand der Jugend weitgehend ent gegen; er bietet ihr die Möglichkeit, die Flegeljahre politisch verHeidet ausutoben. Ein anderer Zutreiber ist die Erwerbslosigkeit, die besonders die Jungarbeiterschaft bedrückt und zur Verzweiflung treibt. Tausende und aber Tausende junge Menschen haben nicht einmal die knappe Zukunftsaussicht eines fauren, aber regelmäßigen Arbeitsverblenstes. Da unterjochen das hungrige Gebärm und die Berzweiflung die Vernunft und treiben zu lauten, sinnlosen Handfungen. Damit sollen nicht entschuldigt werden die Bluttaten natio. nalsozialistischer und kommunistischer Rowdys. Mit dieser Feſtstellung wollen wir im Gegenteil Anklage erheben über die gewissen. lojen Hetzer in sicheren Redaktionsstuben und Parteibureaus, die jeden Tag von neuem durch ihre blutrünftigen Artikel und Reden junge, politisch ungeschulte Menschen zu Mördern machen.
Der Kampf um die Jugend erfordert von der sozialistischen Jugendbewegung die Erfüllung einer Reihe dringlicher Gegenwartsaufgaben. Die erste ist verstärkte Werbearbeit, Durch eine vielseitige, plan- und jugendgemäße Jugendarbeit muß es gelingen, noch größere Massen Jugendlicher für den Sozialismus zu gewinnen. Die zweite Aufgabe ist eine enge Zusammenarbeit der sozialistischen Jugendverbände. Bei aller Differenzierung der Er ziehungs- und Schulungsarbeit in den freigewerkschaftlichen Jugendgruppen, der Arbeitersportlerjugend und der Sozialistischen Arbeiter. jugend müssen sie nach außen hin ein geschlossenes Ganzes bilden und dadurch ein einheitliches Handeln ermöglichen. Eine dritte Aufgabe ist verstärkte politische Erziehung. In dem Maße, wie die Jugend feit, politische Schulungsarbeit zu leisten. Die größte Gefahr für die in das politische Leben einbezogen wird, steigert sich die Notwendig. Jugend und für den Sozialismus im Kampf um die Arbeiterjugend ist die politische Unerfahrenheit der Jugend. Dem Mißbrauch der Jugend durch die extremen Parteien müssen wir ein Halt entgegen. setzen durch Weckung des Interesses und Ausbildung des Verständ nisses für politische Fragen.
Ein wichtiges Mittel im Kampf um die Jugend ist auch der Kampf für Jugendschuh und Jugendrecht. Die er werbstätige Jugend leidet große Not. Partei und Gewerkschaften haben die Verpflichtung, auf große Sicht und für jeden Jugendlichen fühlbar diese Not beseitigen zu helfen. Die Jugend braucht die soziale Tat, nicht mehr so sehr die Antlage; denn angeklagt ist genug, es kommt jetzt darauf an, die Anflagen zu beseitigen durch Beseiti gung ihrer Ursachen. Wenn die Jugend in besseren sozialen Ber hältnissen leben kann, dann wird sie nicht mehr so zahlreich der radikalen Phraseologie zum Opfer fallen, dann wird sie vielmehr dem aufbauenden, handelnden Sozialismus zuströmen. In ihrem eigenen Interesse, im Interesse einer politischen Attivierung der Massen und in Interesse der Fortentwicklung des demokratischen Sozialismus. G. W.