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schreiten, löschen sie allmählich aus.- Die allzu zahlreichen und zu heiteren Pilgerschaaren lassen uns nicht lange auf der Roß­trappe weilen und das Auge an den zerklüfteten Granitkolossen ringsum weiden. Eine solche großartige, wilde Natur, wie die des Bodethals, kann nicht, in dem Lärmen und Schwärmen der Menge genossen werden. So stiegen wir denn den Bergabhang, die sogenannte Schurre, auf bequemem Pfade nach der Teufels­brücke und dem Bodekessel hinab.

Die Schurre ist ganz mit kleinen Scherben und Trümmern von Granit und Grauwade bedeckt, den Resten zweier Felsen­gipfel, die einst der Blitz zerschmettert haben soll. Ueber diese Scherben, die ganz lose neben- und aufeinandergeschichtet daliegen, und deren Lage sich fortwährend änderte, indem untere Geröll­schichten nachgaben und obere herabstürzten, führte früher der Steig, so daß man wohl Acht zu geben hatte, um den Fuß feinem verrätherischen Steine anzuvertrauen. Gegenwärtig hat es damit keine Gefahr mehr, und ein schöner Fußweg läuft neben der Bode   nach der starken Teufelsbrücke und durch die engen Wege bis zu dem anderthalb Stunden entfernten Treseburg  .

Dank der Eisenbahngesellschaft, welche diesen Weg hat brechen lassen! Vielleicht der schönste Theil des Bodethals ist dadurch dem Besuch geöffnet worden. Der an den Bergwänden auf- und ablaufende Pfad, welcher den unzähligen Windungen der Bode  folgt, bildet einen köstlichen Spaziergang. Je weiter man zwischen den Bergen vordringt, je ruhiger und breiter fließt die Bode, bald tief unter dem Wanderer, bald neben seinem Pfade, bald dem Blicke frei, bald unter Laubpartien verschwindend. Steile Klippen und nackte Felsenwände wechseln mit belaubten Höhen. Der Charakter des Thales ist durchaus ernst; erst in der Nähe von Treseburg  , wo sich das Thal erweitert, mildert sich seine Strenge.

Die meisten Besucher des Bodethales am zweiten Pfingst­tage waren wohl keine sonderlichen Fußgänger, oder zogen es vor, auf der Chaussee nach Treseburg   zu fahren. Wenigstens wurde der Pfad mit der Entfernung vom Bodekessel immer menschen­leerer. Um so belebter war es wieder in Treseburg  , das sich schon aus der Ferne durch ein Chaos von Musik ankündigte. Vor allen Wirthshäusern wurde trompetet, klarinettirt und ge­fiedelt. Tanzlustige Paare hatten die breite Brücke, welche die vom Thale   kommende Fahrstraße mit der nach der Viktorshöhe führenden verbindet, zum Tanzplan auserlesen. Sonst überall ein Klappern von Tellern und Gläsern. Gruppen von Land­leuten im Sonntagsstaat lagerten an der schattigen Berglehne und verzehrten die mitgebrachten Speisen, welche der von Hand zu Hand wandernde Bierkrug netzte und würzte.

Auf dem Tische, an dem wir Platz nahmen, lag zufällig ein Speisezettel. Ich nahm ihn mechanisch zur Hand, und mein Blick fiel auf ,, Wildschweinbraten". Das Gericht beschwor ein kleines Männchen mit kahlem Haupte vor mir herauf. Er war einer von den drei Reisegesellen aus Schleswig   gewesen, die ich auf meiner ersten Wanderschaft durch den Harz in Blankenburg  getroffen hatte. Wir hatten bei einander ausgehalten in Sonnen­schein und Regen, in Scherz und Ernst, und so hatten wir denn in der Frühe eines Sonntags mitsammen auf der Roßtrappe gestanden, ganz allein. In wolkenloser Bläue wölbte sich der Himmel über uns; von Blechhütte und Thale   tönte das Geläut der Kirchenglocken herauf, vermischt mit dem Brausen der Bode.  - Doch davon wollte ich nicht erzählen. Das kleine Männchen war ein Professor der Mathematik und sonst ein gewaltiger Botaniker vor dem Herrn, wie seine beiden Landsleute; der hatte noch in seinem Leben keinen Wildschweinebraten gegessen, und gleich dem Wandsbecker Boten, als er schon lange sein vortreff liches Rheinweinlied gedichtet, noch keinen Tropfen Rheinwein getrunken. Beide Genüsse sollte ihm der Harz gewähren. Aber überall, wohin wir auf unserer Wanderung kamen, gab es keinen Wildschweinebraten. Ja, wenn wir Tage zuvor gekommen wären! versicherten die Kellner aller Orten. An Rheinwein fehlte es nirgends. Aber der kleine Professor wollte die zwei unbekannten Genüsse nicht von einander trennen. Und so waren wir gezogen von Ort zu Ort bis nach Alexisbad  , wo sich am folgenden Tage

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unsere Wege wohl für dieses Leben scheiden sollten. Alexisbrunnen war die letzte Hoffnung unseres Professors. Aber auch der Küchenzettel des dortigen Kurhauses sollte seine Hoff­nung täuschen. Das letzte Stück Wildschweinebraten war aber­mals Tags zuvor vertilgt worden. Grausames Schicksal! Mitfühlend mit dem Armen, in dessen Ohr schon das Posthorn erklang, das ihn am folgenden Morgen in die Heimath zurück­rufen sollte, saßen wir in dem öden Kursaale. Ja, es war da= mals schaurig öde in Alexisbad  , denn mit der Spielbank, welche die Revolution des Jahres 1848 vernichtet hatte, waren auch die Badegäste verschwunden.

,, Und Rheinwein haben Sie auch keinen?" fragte der Pro­feffor kleinlaut.

,, Alle Sorten, die es gibt!" versetzte der dienende Geist mit einem strahlenden Antlig.

Der Kleine kämpfte mit sich selber.

,, Es ist der letzte Abend, den wir mit einander verbringen," bemerkte der eine von seinen Freunden, der die Schlachten des schleswig- Holsteinischen Krieges mit geschlagen hatte. Bringen Sie Rüdesheimer."

Mit schmerzlicher Resignation führte unser kleiner Freund den ersten Römer golden funkelnden Rebensaftes an die Lippen. D mit welcher Spannung kostete er, mit welchem Behagen dann schlürfte er den unbekannten Feuertrank. Welche lächelnde Ent­zückung begann um seine Lippen zu spielen, welch' ein Glanz leuchtete in seinen Augen auf, die matt geworden an dem dürren Einerlei der Zahlen! Der Gott der Reben schüttelte seine am­brosischen Locken über ihm, und die Nebel der Abstraktion zer­rannen. rannen. Lachend lag die Welt vor ihm, und er war wieder ein Jüngling wie damals auf seiner ersten Studenten- Ferienreise. Aus der Ferne herüber klangen leise die Becken der Thyrsus­schwinger, vergessene Töne wurden lebendig in seiner Brust, das Auge suchte glänzend den Himmel, er hob das Glas, und wie es mit den unseren zusammenklang, da ging zitternd über seine Lippen das alte schöne Lied:

,, Bekränzt mit Laub den lieben, vollen Becher!" Und näher flangen die Becken und jauchzender schwoll der Chor der Bacchanten, und wir fielen ein: Evoe Bacche! Und wir faßen wie Füchse bei dem ersten Kommers, und es zog glänzend vorüber die fröhliche, selige Studentenzeit mit ihren klassischen Reminiscenzen, ihrer Romantik und Tollheit. Alle thörichten Jugendstreiche tauchten aus dem goldenen Naß lebendig auf und schüttelten die Schellen ihrer Narrenkappen. Der kleine Professor vergaß, daß er ein Buch über den philosophischen Begriff der Zahlen geschrieben hatte. Er renommirte, wie er es sicher nie auf Universitäten gethan, und als der letzte Tropfen aus der zweiten Flasche aufgesogen war von den durstigen Lippen, da hatte sich der Herr Professor einen stattlichen Haarzopf getrunken. Er fühlte Flügel an seinen dünnen Aermchen, und auf dem Heim­weg versicherte er, wenn wir ihn nicht festhielten, so würde er über die Berge springen und dem schnarchenden Brocken einen Nasenstüber geben, daß ganz Deutschland   davon aufwachen und seine Nachtmüße für alle Zeiten in den Winkel werfen sollte. Und er selbst warf seine Kappe zum sternfunkelnden Himmel empor.

Evoe Bacche! Evoe Bacche!

Tags darauf wanderte ich allein von Alexisbad   über die Viktorshöhe und von Friedrichsbrunnen weiter auf pfadlosen Wegen nach Treseburg  , dessen wenige Häuser theils hart an der Bode liegen, nur Raum für die Straße laffend, theile auf den Terrassen des Felsens, von kleinen Gärten umgeben und halb unter Obstbäumen versteckt. Das Wirthshaus nahm die höchste Stelle ein. Die freundliche Frau Wirthin stellte mir unter das breite Schattenbach eines Apfelbaums ein sauber gedecktes Tischchen, auf dem die Kaffeekanne von Zinn wie Silber glänzte. Es war alles gar sauber und appetitlich: die geblümte Tasse, das schnee­weiße Brot, die würzige Butter, der fette Rahm. Der Wind spielte leise in der Blätterkrone über meinem Haupte, und um mich her summten die ewig geschäftigen Bienen. Zu meinen Füßen funkelte das Thal im goldenen Sonnenlicht, erhoben sich