steigen auch wir einmal im Jahre von den Regionen des Ernstes und der Ueberlegenheit hinab in die Kinderstube und huldigen im Kreise theuerer Wesen dem Geist der Liebe und der Humanität. Gleichwie aber wir mit den Kindern nochmals, wenn auch nur in der Erinne­rung, die frohen Tage unserer Jugend durchleben, werden wir am Weihnachtsabend die Genossen der Kinderwelt, indem wir an der Naivetät ihres Herzensjubels ungezwungenen Antheil nehmen und uns zurückdenken in die fernen Tage, da auch uns noch die ungetrübte Freude blühte, die Freude am Schein und Tand. Jeder thut sein Möglichstes, um die Lieben zu überraschen. Auch in der Wohnung des Meister Hobelmann herrscht schon seit Wochen reges Leben. Die beiden stattlichen Töchter versagen sich den Spaziergang am Sonntag, um die Stickereien zu den Geldbörsen, Schlummerrollen und Pantoffeln zur rechten Zeit fertig zu bringen. Auch Mütterchen strengt ihre schwachen Augen an, um die Puppenkleider für ihr Enkelkind Selma möglichst bunt zu Stande zu bringen und Vater Hobelmann, dem dadurch schon manches Mittagsschläfchen verloren ging, hat die ge­messensten Befehle des weiblichen Theiles seiner Familie bisher pünkt­lich befolgt, niemals unverhofft nach Hause zu kommen. Aber der Mensch denkt und die Schnupftabaksdose lenkt. Kaum hat er den letzten Bissen seines Sonntagsschmauses verschluckt, wird er unbarmherzig aus dem Hause gedrängt, um Karten, Domino  , Schach, Billard und der Himmel weiß was im Kaffeehause zu spielen. Griesgrämig ob des entzogenen Mittagsschläfchens, begiebt er sich zu dem freiwilligen Wirthshauszwang. Auf der letzten Treppenstufe greift er, wie alle Tage auf derselben Stelle, nach der Tabaksdose, um sich mit einer Brise zu stärken. ,, Tausendsaperlot, jetzt hab' ich die Dose vergessen." Mit diesen Worten steigt er die Treppe empor, vor der Zimmerthüre steigt ihm der Schalk in den Nacken. Er klopft wie ein Fremder an seine eigene Thür, worauf ein dreistimmiges ,, Herein" erschallt. Sein Erscheinen in der Thür bringt einen heillosen Aufruhr zuwege. Mütter­chen humpelt ihm entgegen, um ihm den Weg zu vertreten, und die Töchter raffen ihre Siebensachen zusammen, um sie eiligst zu verstecken.

Jetzt dachte ich es recht gut gemacht zu haben, indem ich an­flopfte," sagt Hobelmann, und da haben wir die Bescheerung!" Was willst du denn eigentlich?" brummt die Frau.

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,, Meine Schnupftabaksdose habe ich vergessen." Und mit dem Tröster seines Riechorgans ging er von dannen.

Dr. M. T.

Izgorigrad- Defilé bei Wraza.  ( Bild Seite 137.) Der alte englische   Premierminister Palmerston  , auch Lord Feuerbrand ge­nannt, pflegte zu sagen: Der Krieg ist ein nichtswürdiges Beginnen, das nur die eine gute Seite hat, daß es unsere geographischen Kennt niffe vermehrt." Und es ist in der That so. Wenige unserer Leser würden die siebzehn Uebergänge des Balkan, worunter auch Izgorigrad bei Wraza   gehört, kennen, wenn ihnen nicht die Streifzüge der russi­schen Generäle Gurko und Skobeleff im letzten orientalischen Kriege eine traurige Berühmtheit verliehen hätten. Aber nicht nur wir kultur­beleckten Europäer, auch die Türken, denen doch der Balkan   bis vor vor kurzem gehörte, wußten nicht viel davon. Als der Verfasser des vortrefflichen Werkes ,, Donaubulgarien und der Balkan  ", F. Caniz, nach Weg und Steg ins Jantrathal fragte, wußte in Rustschuk   niemand Bescheid. Da galt es denn, wie im Innern von Afrika  , entdecken, und einer solchen Entdeckung verdanken wir unser Bild vom Izgorigrad­Defilé, das, von der Leva durchflossen, aus merkwürdigen, zerrissenen Kalksteinfelsen besteht, die als Monolithe oder Riesentegel in die Höhe starren. Diese hohe Balkankuppe mit ihren Felsstürzen, Schroffen und tausenden tiefer Runsen, sagt Canig, in welchen der Sonne entzogene Schneeflecken übersommern, macht einen tiefernsten, beinahe unheimlichen Eindruck. Hier, wo die Natur ihr neue Formen schaffendes Walten in großartigster Weise offenbart, herrschte scheinbar Grabesstille; es war, als hätte die rastlos zeugende Urkraft zur Feierruhe sich hingelegt. Viel mochte zu solchem Gefühle wohl die kalte, tiefgraue Lasur bei­tragen, welche alles ringsum mit merkwürdig herabstimmendem Tone einhüllte und die zerstreuende Wirkung der Lokalfarben nirgends auf­kommen ließ. Vergebens suchte das Auge der in der Landschaft sou­verän herrschenden Melancholie zu entrinnen. Wo immer der Blick haftete, überall trat ihm das Bild des Todes entgegen. Keine lebende Kreatur war zu sehen, nur einige Adler zogen, dem Gesichtskreise bei nahe entrückt, ihre Ringe in höchster Luftregion, und hart am Wege lagen die gebleichten Gerippe gestürzter Karawanenpferde. Neben einer tesselartigen Vertiefung, die ein leichentuch- ähnliches, schmußiggraues Schneefeld füllte, zeigten aber rohe Denksteine, daß der Mensch den ,, Kampf ums Dasein" auch in diese Höhe getragen. Es waren Gräber von Räuberhand Gemordeter oder verunglückter Wanderer, welche die aus Felsblöcken aufgethürmten Orientirungspfeiler verfehlt hatten und

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vom Schneesturm hier für immer im falten, weißen Pfühl gebettet worden waren. Der grimme Winter streckt seine Eisenfaust auch in die hochgelegenen Balkanthäler. Ihre kümmerliche Vegetation ist gegen die Donauländer Rumänien   und Dobrudscha   vier bis sechs Wochen zurück. Wenn der Ballandschi, ähnlich dem Frieslands- und Hollandsgänger Westdeutschlands, mit dem als Schnitter oder Drescher in der danubi­schen Tiefebene verdienten Lohne   heimkehrt, ist es noch immer Zeit für ihn, an die Einbringung der eigenen schmalen Ernte zu denken. Die verschiedenen Steuern erwirbt der arme Balkandschi auswärts, das kleine Feld bestellt die Frau, das Vieh hüten die Kleinen, das Material für sein Haus und die Feuerung liefert der nahe Wald, oder richtiger, was man in diesen Ländern ,, Wald  " nennt. So sieht es dies- und jenseits des Balkans in dem Lande aus, welches der Russe vom türki­schen Joch, befreit" hat. Der berliner Kongreß nahm dem Befreier die süße Last wieder ab und machte aus Ost- Rumelien und Bulgarien  etwas, das nicht Fisch und nicht Fleisch ist. Wer sich über die geo­graphischen und ethnographischen Verhältnisse der allerneuesten Mon­archie näher unterrichten will, dem empfehlen wir das vorzügliche Werk: ,, Donaubulgarien und der Balkan  . Historisch- ethno­graphisch geographische Reisestudien aus den Jahren 1860 bis 1876. Vou F. Caniz. 2 Bände. Mit 33 Illustrationen im Text und 10 Tafeln. Leipzig  , Herm. Fries."

Dr. M. T.

Die Schnelligkeit des Pulses ist je nach den verschiedenen Alters­stufen eine sehr verschiedene. Neugeborene haben im Durchschnitt eine Pulszahl von 140-150 in der Minute. Im ersten Lebensjahre beträgt die lettere, immer vorausgesetzt, daß der menschliche Körper sich in normalem Zustande befindet, in der Regel 110-120 pro Minute; vom 2. bis zum 10. Lebensjahre sinkt die Pulszahl von 100 bis auf 90%; vom 10. bis zum 20. Lebensjahre zeigt der Puls die Frequenz von 90 bis 80 Schlägen; vom 20. bis 50. Lebensjahre zwischen 80 bis 70 in der Minute; in höheren Jahren vermindert sich die Schnelligkeit der Pulsschläge wieder um ein beträchtliches. Dr. M. V.

Literarische Umschan.

,, Der Planet Mars eine zweite Erde. Nach Schiaparelli ge­meinverständlich dargestellt von Prof. Dr. J. Heinr. Schmid." Mit 1 Karte und 8 Holzstichen. Leipzig   1879. Alwin Georgi. Eine inter­effante und so gemeinverständlich geschriebene Abhandlung, als es die Wissenschaftlichkeit des Gegenstandes und die strengsachliche Behandlung zulaffen. Wie die sorgfältigen Beobachtungen des mit Recht im Reiche der modernen Wissenschaft hohen Ruf genießenden mailänder Astrono­men Schiaparelli und seine scharfsinnigen Folgerungen zu der Erkennt­niß führen, daß der der Erde benachbarte Planet Mars gewissermaßen ein älterer Bruder der Erde ist, dessen jeßiger Zustand dem der letzte­ren in vielen Beziehungen ähnlich ist und uns in deren freilich noch unmeßbar ferne Zukunft einen bedeutungsvollen Blick gestattet das nachzulesen wird denjenigen unserer Leser, welchen die Erforschung des Himmels und der Erde am Herzen liegt, ohne daß sie selber Astro­nomen sind, ein Vergnügen sein.

Herr Julian Schmidt, der Literarhistoriker, mit Sezerscholien herausgegeben von Ferdinand Lassalle  ." 3. Aufl. Leipzig   1878. Um die Erinnerung an diese Schrift Lassalle's   im ganzen deutschen   Volke, soweit es sich überhaupt um Literatur kümmert, aufzufrischen, dazu bedarf es nicht vieler Worte. Alle Welt weiß, daß Lassalle mit der­selben den Kampf gegen die literarische Verderbtheit unserer Zeit auf­genommen und auch in diesem Strauße eine glänzende Klinge geschlagen hat. Gegen die schriftstellerische Seichtheit, welche sich begnügt, auf der Oberfläche wissenschaftlicher Fragen herumzutasten, und Gedanken­tiefe heuchelnd sich einhüllt in den undurchdringlichen Schleier tönender oder hohler Phrasen, gegen jene wissenschaftliche Unredlichkeit, welche Halb- oder Garnichtuntersuchtes, Schiefverstandenes und Un­erkanntes für Geistigdurchdrungenes, wissenschaftlich Feststehendes an­schwärzt, dagegen hatte sich Lassalle gewandt, als er es unternahm, dem ,, Literarhistoriker" Julian Schmidt   energisch heimzuleuchten. Er trat in die Spuren Lessings, und wenn es ihm auch nicht gelang, diesen größten Meister der Polemik in der niederschmetternden Gewalt seines Angriffs zu erreichen, so ist er ihm doch näher gekommen, als jeder seiner Zeitgenossen. Einzelnen Stellen gegenüber mag nicht mit Unrecht behauptet werden können, daß er über das Ziel gerechter Be­urtheilung hinausgeschossen hat, im allgemeinen aber ist der julian­schmidt'sche Schriftstellerleichtsinn und seine gelehrtthuende Dreistigkeit in der That so ungeheuerlich, daß selbst Mildedenkende an der lassalle­schen Unbarmherzigkeit keinen Anstoß nehmen, sofern sie nur die Gemein­gefährlichkeit des von Lassalle   ans Licht gezogenen literarischen Unfugs zu würdigen verstehen.

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Inhalt. Dem Schicksal abgerungen, Novelle von Rudolph von B......( Fortsetzung). Konrad Deubler   der Bauernphilosoph. Eine Skizze nach dem Leben, von Dr. A. D.-P.( Schluß.) Ueber Fremdwörter im Deutschen  , von M. Wittich( Fortsetzung). Johann Wolfgang Goethe  , von Dr. Max Vogler( Fortseßung). Der Rubel auf Reisen. Gedicht von Platen. Afrika   und seine Erforschung. Geschicht­liche Zusammenstellung von Dr. Max Trausil( Fortseßung). Gegenseitige Weihnachtsüberraschung( mit Illustration). Izgorigrad- Defilé bei Wraza  ( mit Illustration). Die Schnelligkeit des Pulses.- Literarische Umschau.

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Verantwortlicher Redakteur: Bruno Geiser   in Leipzig  ( Südstraße 5). Expedition: Färberstraße 12. II. Druck und Verlag der Genossenschaftsbuchdruckerei in Leipzig  .