Geringschäzung der Leistungen unsrer großen Kunstdenker,- nur ganz oberflächlich aus der nächstbesten Quelle einige Fachkenntnisse zusammen­raffen und daraus ein System für ihre eigne Feder konstruiren, ohne sich um weiteres zu kümmern," also Dichter, welche die Schule der Kunsttheorie nicht redlich absolvirt, sondern weidlich geschwänzt haben und ihr schließlich entlaufen sind, um sich poetisch selbständig zu machen, aber viel zu früh, um das auch nur im entferntesten fertig zu bringen.

Wesen und Wirken dieses schädlichen verhüllten Naturalismus demonstrirt Köberle an einem der meistbeliebten Werke eines meist beliebten dramatischen Dichters unserer Zeit, des ,, genialen" Paul Lindau  , wie ihn die vortrefflich einererzirte Zeitungsclaque und, dieser urtheilslos nachschwäßend, ein großer Theil unsres Publikums nennt, desselben Lindau  , den der unzweifelhaft bedeutendste deutsche   Dramatiker des letzten Menschenalters, Karl Gußkow, weniger schmeichelhaft einen berliner literarischen Gassenjungen zu nennen olympisch grob genug war.

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Zu Herrn Lindau's größtem dramatischen Erfolge verhalf ihm das Lustspiel: Ein Erfolg". In ganz Deutschland   fand der Erfolg" bei den Theatern angelweit offene Thüren und eine klatsch- und hervorrufs­lüsterne Zuschauerschaft. Um was dreht sich nun dieser Erfolg? Nun, um einen genialen" Dramatiker Friß Marlow, in dem Herr Lindau  einen Abklatsch seiner werthen Person vorzuführen ebenso geschmackvoll als freundlich ist. Friz Marlow ist ein Mensch, der vier geschlagene Afte hindurch zwar nicht handelt, was eigentlich seine dramatische Auf gabe wäre, aber wißelt, oft in frivolster, kalauerhaft fauler Art, ein Mensch, der sich in ein junges Mädchen verliebt, weil sie den Un­verstand oder die Selbstverleugnung besaß, elf Exemplare eines Buches von ihm zu kaufen und baar zu bezahlen, was ihm besonders wesent­lich erscheint; letzteres eine Thatsache, die auf des hoffnungs­vollen Jünglings platonische Liebe zur Reellität ein allerdings günstiges Licht wirst. Friz Marlow ist ferner ein Mensch, der grade Geist genug hat, um für alle die Fälle, in denen es ihm beikommt, das Herz eines weiblichen Opfers im Sturme zu erobern, eine einzige Begriffsschablone zu verwenden, und zwar, dies Pröbchen ist zu bezeichnend für Marlow  - Lindau's   ,, Genialität", um hier übergangen zu werden folgende: Ich knüpfe mit dem Opfer ein beliebiges Gespräch an. Nach fünf Minuten sage ich: Sie sind ein ganz eigenthümliches kleines Mädchen! Darauf sagt sie: Wieso? Darauf sage ich: Sie haben zwei ganz verschiedene Naturen in sich. Das fann man nämlich immer sagen, denn das stimmt immer. Darauf sagt sie: Sie haben recht! Und bewundert meinen psychologischen Scharfblick. Das Eis ist ge= brochen. Die Theilnahme ist erweckt. Jezt kommt die große Steige­rung. Eine unabsichtliche Rosenknospe, die ich im Knopfloch trage oder mit der ich in der Hand spiele. Sie wirft einen verstohlenen Blick darauf ganz unwillkürlich, aber auch ganz unfehlbar. Mein liebes Fräulein, sage ich, und dabei betone ich, liebes' mit zitterndem Aus­druck so: mein, liebes' Fräulein, darf ich Ihnen diese Knospe, das keusche Symbol der erwachenden Sympathie, zu Füßen legen? Sie schlägt die Augen nieder und nimmt die Knospe. Nun ist die Stimmung da- nun kommt Eichendorff  . Der Uebergang von der Rose zur Poesie ergibt sich von selbst; dann kommt, Deutscher   Dichter­wald und endlich mit einem sinnigen Wortspiel- der, deutsche Waldes­dichter. Lieben Sie Eichendorff  ? frage ich; und um sie nicht in Ver­legenheit zu bringen, mir sagen zu müssen, daß sie wenig von ihm gelesen, fahre ich, ohne ihre Antwort abzuwarten, fort: Es ist doch ein herrlicher Poet. Diese Frische, diese Einfachheit, wie das lebt, wie das athmet! Und nun nun werde ich großartig. Allmälich senke ich das Organ in eine angenehme Mittellage, ich spreche mit halblauter Stimme, und in diesem vibrirenden, poesiedurchzitterten Tone hebe ich also an: Die Welt ruht still im Hafen."

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Dann deklamirt also dieses verblüffend simple ,, Genie", nachdem es alle Mädchen seiner Augenblickswahl mit genau derselben, nur durch ihre Inhaltsleere beinahe imponirenden Redensart und derselben, von jedem Häringscommis zu gleichem Zwecke mißbrauchten Blume moleſtirt hat, ewig und immer dasselbe Gedicht, in der felsenfesten Ueberzeugung, daß kein Mädchen diesem Zauber widerstehen könne.

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Das Genialſte aber an dem Erfolge" des Herrn Paul Lindau   ist, daß Friz Marlow vor seinem eignen Nebenbuhler mit seinem Liebes­rezept renommirt, noch ehe er es an dem von ihm umworbenen Coeur­Gänschen erprobt hat. Der Nebenbuhler natürlich nicht faul verräth das Rezept weiter an besagtes Dämchen, Friz Marlow schnurrt unmittelbar darauf sein zauberisches Gefasel vor ihr ab, sie ist an­fänglich wirklich darüber entrüstet, aber nur um bald darauf, durch einen Brief ihres genialen Friz einen Brief, von dessen Inhalt man rücksichtsvollerweise nicht eine Silbe erfährt versöhnt, in den amüsanten Jüngling bis über die Ohren verliebt zu sein. Weiter auf des Herrn Paul Lindau   großen ,, Erfolg" einzugehen, ist hier nicht Raum. Nur soviel sei hinzugefügt, daß alle Personen darin just das sind, was sie nicht sein sollen, Schablonen oder Karri­katuren, die, insofern überhaupt von einer Art Handlung die Rede ist, von wirklich dramatischer Handlung ist keine Spur vorhanden, aus möglichst ordinären Motiven möglichst ordinär handeln, eine Sprache führen, ungefähr wie gebildete Hausknechte und dito Nähmamsells und durch vier Afte- dem unerläßlichen dramatischen Geseze von der Einheit der Handlung zum Possen drei ganz verschiedene, mit ein­

Das ganze dramatische Ding oder Unding gefällt, und das Geheim­niß dieses Erfolges ist zu erklären, abgesehen von der auch in aller­neuester Zeit wieder unglaublich faden Reflame, wee Herr Lindau  und der ihm geistesverwandte literarische Troß bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zu machen weiß, aus dem Behagen, welches unser Publikum bei dem Genusse der pikanten Sance empfindet, die die Skribenten der lindau  'schen Art über ihre ideenmagern dramatischen Gerichte auszugießen pflegen. Das Pikante ist so sehr nach dem Geschmacke unsres Durchschnitts publikums, daß man dreist die elendeſte Anekdote, die langweiligste Begebenheit, den puren Unsinn auf die Bretter bringen darf, welche die Welt bedeuten sollen, und wenigstens des vergnüglichen Beifallsschmunzelns, wenn nicht stürmischsten Jubels gewiß sein kann, falls man besagte Jammergeschichte nur mit einem Schock möglichst derber, fauler Wize und ein paar Mandeln möglichst unzweideutiger Zötchen spickt, die Hauptsache ist ja im Theater für den Theil unsres Theaterpublikums, der die erste Geige spielt, im ersten Range und im Parquet seinen Platz und nebenbei die Bildung, jene vornehme Bildung mit den zierlichen Gänsefüßchen gepachtet hat die Hauptsache, sage ich, ist für diese Leute ja nur, daß sie lachen können im Lustspiel und daß sie, ohne sich zu blamiren, die vorsorglich mitgebrachten zwei oder drei Reservetaschentücher vollweinen im Trauer­spiel. Alles andere ist gleichgiltig, von all' dem andern verstehen die guten und gescheiten Leute keine Bohne, und für all' das haben sie in der Sparsamkeit, mit der sie ihren Gemüthshaushalt auf die absolut un­vermeidlichen Ausgaben einzuschränken gewöhnt sind, nicht für einen Heller Gefühl übrig.

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Nur dadurch wird erklärlich, daß ein Mann wie Paul Lindau   eine beinahe dominirende, anscheinend hochansehnliche Stellung in der Lite­ratur der Gegenwart, hoffentlich nur in der unfres furzen Zeitmoments, einnehmen konnte, ein Mann, den Köberle außerordentlich treffend und dabei noch sehr glimpflich also charakterisirt:

Paul Lindau   gleicht einer Wespe, die ruhelos von Blume zu Blume schwirrt. Von allen Wissenschaften weiß er ein bischen, tappt in allen herum, sticht und nascht und ist bisher in keiner einzigen recht einheimisch geworden. Seine kritische und seine dramaturgische Feder bekunden, selbst abgesehen von ihrer schon früher geschilderten Gewissenlosigkeit, die Schwächen eines Dilettanten, welcher den Dilettan­tismus in der Literatur zu seinem Lebenszweck gemacht hat und mit einer angebornen Beweglichkeit die Lücken seines Wissens geschickt unter blendenden Phrasen zu verstecken weiß. An seine Dramen darf man den ästhetischen Maßstab nicht anlegen, sonst fallen sie bei der ersten Berührung der Sonde in nichts zusammen. Ihr Reiz besteht nicht im dramatischen Nerv, der angekünstelt ist; er liegt im theatralischen Bei­werk, in der raffinirten Zusammenfügung photographischer Typen nach dem Leben. Der Grund des Beifalls, den diese Art von Dramatik unter einem Theile des Publikums der größeren Städte, wenn auch selbst dort in schon sichtlich wieder abnehmenden Maße bisher fand, liegt wohl einleuchtend nahe. Lindau   würzt seine Arbeiten mit den Begriffen und Sitten des Boulevards. Das glitzernde Phrasenspiel sozialer Charaktertypen ohne Moral und Tiefe, welches der Esprit jen­seits der Vogesen   zum modernen Theaterideal erhob, ist auch sein Ideal. Die Schule des Aristoteles   lernte er kaum mehr, als nur dem Nanien nach, kennen. Ob er Lessings, Goethe's oder Schillers ästhetische Hinter­lassenschaft studirte, ist mindestens zweifelhaft; jedenfalls hat er, wie seine eigenen Erzeugnisse beweisen, nichts daraus erlernt. ohne sichtlichen Ernst, leichthin sein französisches Vorbild, aber verstand es nicht, die Vorzüge der Franzosen mit Vermeidung von deren Schwächen auf eine Art nachzuahmen, welche sich urwüchsig naturali­siren und dem deutschen   Gemüthe nachwirkende Sympathie abgewinnen tönnte. Die Ursachen, aus welchen seine Theaterstücke den habituell sinnlichen und gedankenlosen Theil der Theaterbesucher anziehen und demnach dem Zuschauer feinen ungetrübt fünstlerischen Genuß zu ge währen vermögen, sind wohl jetzt schon niemandem mehr ein Geheimniß geblieben; sie liegen im System des verhüllten Naturalismus. Lindau  entkleidete den Schönheitsbegriff seiner ethischen Weihe und bedeckte die entstandene Blöße mit schaler Pifanterie. Dies Experiment wiederstrebt der innersten Natur der Kunst, und daher ist zum Prognostikon keine Prophetengabe nöthig. Als Dramen betrachtet, sind solche Theater­stücke nur dialogisirte novellistische Kuriosa und gehören zu den ſinn­figelnden Seifenblasen der Zeit. Daß sie just deshalb von vielen Theaterdirektoren mit Vorliebe gesucht werden, erklärt sich hinlänglich aus dem allgemeinen Niedergang der modernen Bühne."

Er kopirt,

Im weiteren erörtert Köberle den Stilbegriff, dessen Inhalt sowohl der erfaßt haben muß, welcher ein gutes Drama schreiben will, als der, welcher ein Drama, wie jede künstlerische Arbeit überhaupt, recht beurtheilen will.

Stil heißt ursprünglich in der Kunst, seinen Gedanken schriftlich oder mündlich Worte zu leihen, der gute, sprachliche Ausdruck und die charakteristische Art und Weise desselben. In der Aesthetik sind drei Momente des Stilbegriffs zu unterscheiden: Stil als das Gesetz jedes besonderen Kunstgebiets, Stil als charakteristisches Merkmal der Zeit und Stil als Ausdruck der höchsten künstlerischen Idealität. Bei dem ersten Momente des Stilbegriffs handelt es sich um die Technik des fraglichen Kunstzweigs, bei dem zweiten um seine historischen Eigen­thümlichkeiten, d. i. um das, was man z. B. in der Architektonik griechi­ander in keinem innern Zusammenhange stehende Begebenheiten müh- schen, römischen, gothischen Stil nennt, und bei dem dritten, schwerst sam hindurchschleppen. zu erfassenden Momente darum, daß die nach sinnlich ergreifender

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