Washington Irving   hat in seinem denkwürdigen Skizzen­buch( Sketchbook) die Geschichte Rip van Winkles geschrieben. Doch war es kaum nötig. Denn wer kennt nicht Rip van Winkle  ?

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Die Rip van Winkle   sind zahlreich wie der Sand am Meer die Musterbürger und Untertanen, welche die Weltereignisse

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verschlafen und vom Gang und Fortschritt der menschlichen Dinge keine Ahnung haben.

Freilich in einem Punkt ist die Schilderung Washington Irvings nicht ganz richtig. Denn während sein Rip van Winkle   es merkt, daß er die Weltereignisse verschlafen hat, merken unsere Rip van Winkles   der Wirklichkeit dies der Regel nach nicht.

Die Teorie des Professors Gustav Jäger  .

Von Dr. P. Vastor.

III. Philosophie und Psychologie. Bisher hatte man für die angeführten Tatsachen eine runde und glatte Erklärung: den Instinkt; der Instinkt ist aber eine Naturkraft, und die Naturkräfte spielen in unseren heutigen Anschauungen noch eine gewaltige Rolle, obschon Johann Jacoby  sie bereits für längst aus der Mode gekommen hielt. Der Schluß ist anscheinend so richtig und logisch: Ich sehe, daß sich etwas verändert hat, z. B. das Blatt des Baumes ist gewachsen, also muß doch ein Wirkendes da sein. Soweit ganz richtig. Nun, dieses Wirkende nenne ich Kraft; darin liegt das Bedenkliche. Denn bei dem Worte Kraft kann( eigentlich muß) ich mir ein Stoffliches, Materielles denken. Run kommt man aber heute dem Materialismus mit Fragen, welche er schlechterdings nicht beantworten kann, weil noch die Beobachtungen fehlen. Wenn es daher heißt: das wissen wir noch nicht, so find die Gegner schnell mit dem absprechenden Urteil bei der Hand: wenn du es nicht erklären kannst, so sind deine Voraussezungen eben Unsinn. Dabei wähnen sie mit schönen philosophischen Floskeln mehr zu erklären, ohne daß sie sich die Welt wirklich anzusehen brauchen. Freilich ist es bequemer, die Welt vom Lehnstuhl aus zu konstruiren, als wirklich zu arbeiten. Erklärte doch neuerdings ein Philosoph", dazu ein Anhänger des Darwinis­mus, die Detailforschung der Naturwissenschaften für bornirt.

Den Philosophen wird unsere Ausführung nichts helfen. Aber andere wollen ehrlicher sein. Ihnen ist eine Lücke in ihrem System fatal, sie denken sich dann: wenn wir es heut noch nicht wissen, so will ich nur vorläufig an dem Worte Kraft festhalten, und wenn wir wissen, was das ist, so nehme ich das dann ohne weiteres an. Diese vergessen aber nachher schmählicherweise, daß das Wort Kraft nur etwas ersezen sollte, was wir nicht wissen; sie machen daraus einen Begriff( denn es muß sich doch bei dem Worte etwas denken lassen), je un­flarer der Begriff, desto besser, und dann philosophiren sie drauf los und merken nicht einmal, daß sie mit einem unschuldigen Worte mitten in die Metaphysik hineingehüpft sind. Dabei bilden sie sich ein, streng konsequente materialistische Denker zu sein, und fluchen, wenns niemand glaubt. Hierher gehören wenige ehrliche und viele boshafte Menschen, zu den lezteren alle Naturphilosophen. Denn diese haben den Begriff" Kraft am unsinnigsten ausgebeutet; gibt es doch neben der Bewegungs­fraft eine Ruhkraft. Da wird die Kraft in ein System gebracht, wird zum Schöpfer, der Gott   wird abgesezt, dafür die Summe der Naturkräfte auf den Tron erhoben, und diese begleiten die himmlischen Heerschaaren der Ideen des Wahren, Guten, Schö nen u. s. w., während die Ideen des Häßlichen, des Scheines, der Lüge als Teufel in die Hölle verwiesen werden. Ein nettes materialistisches System!

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Ein Mensch, welcher Materialist sein will, muß sich not­wendig in seinen Worten rein und klar halten. Ein solches Wort, das nichts besagt, bei dem sich aber jeder etwas denkt" oder denken zu müssen glaubt, ist Instinkt, ein schöner, hand­licher Begriff". Und einen solchen sollte nun ein wirklicher nachweisbarer Stoff verdrängen? Nimmermehr! Ja, wenn das neue Wort und Begriff noch dunkler und inhaltloser wäre, so würde es sich bald breit machen, das wäre philosophisch; das liegt auch so in der Natur des modernen Kulturmenschen:

Weh dem, der an dem würdig alten Hausrat Ihm rührt, dem alten Erbstüd seiner Ahnen.

( Schluß.)

Darin liegt auch die Schwierigkeit für die Jägersche Teorie  , sich Anerkennung zu verschaffen; ihr Feind ist eben auch Das ganz Gemeine, das ewig Gestrige, Das immer war und immer wiederkehret Und morgen gilt, weils heute hat gegolten.

Die Teorie räumt mit vielen solchen Begriffen auf, und da sie an ihre Stelle Stoffe sezt, ist sie materialistisch. Darum wird sie unter gegenwärtigen Verhältnissen auch nicht mehr zur Geltung kommen. Wie könnte man auch jungen Most in alte Schläuche fassen! Der Materialismus ist die Weltanschauung der Zukunft und daher die einzige wirklich ideale Weltanschauung; sie kann erst mit den Trägern einer besseren Zukunft zum Siege kommen und dann auch konsequent durchgeführt werden.

Im zweiten Kapitel haben wir darauf hingewiesen, daß bei der Wahl der Nahrung, bei den Beziehungen der Geschlechter, bei der Vererbung keine übersinnliche( transzendente, meta­physische) Seele, keine Instinkte, feine Naturkräfte, und was sonst noch für Blödsinn, wirkend sind, sondern die Duftstoffe. Wir haben bereits zugestanden, daß der Nachweis derselben erst noch geliefert werden muß, aber zugleich betont, daß wir " glauben", d. h. die unerschütterliche Ueberzeugung hegen, daß dieser Nachweis erbracht werden wird. Der Weg dazu ist an­gegeben und betreten. Im folgenden beschränken wir uns in der weitern Entwicklung der Jägerschen Teorie auf die menschlichen Duftstoffe, wenigstens der Hauptsache nach. Die Anwendung auf die übrigen Tiere ergibt sich dem aufmerksamen Leser von selbst.

Den Brunststoffen fiel die wichtige Aufgabe zu, die Be­ziehung zwischen den Geschlechtern zu regeln; sie sind der erste Trieb der Liebe. Die Bedeutung der physikalischen Sinne wird dadurch wesentlich herabgesezt; Auge und Ohr geben zwar unter den Menschen meist den ersten Anstoß zur Annäherung; die Wohlgestalt, die das Auge reizt, der Wohlklang der Stimme, welche dem Ohre angenehm ist, geistige Eigenschaften, wie Klugheit, Wiz, Liebenswürdigkeit, welche der Vernunft wohltun, alle behalten ihren Einfluß; aber sie vermögen die Harmonie der Düfte nicht zu ersezen, noch weniger deren vorwiegende Bedeutung zu beseitigen. Wie sollte es sonst kommen, daß troz aller jener Eigenschaften Eheleute sich nicht aneinander gewöhnen können? Oder daß troz der Abwesenheit das Zusammenleben das herzlichste sein kann? Es fehlte offenbar in unserm bis­herigen System ein Faktor, und diese Lücke füllen die Duft­stoffe vollständig aus. Damit wird zugleich die Kehrseite der Liebe erklärt: Abneigung, Haß, Furcht entspringen aus der Disharmonie der Duftstoffe, obwohl auch hier der Einfluß der Augen und Ohren, sowie geistiger Eigenschaften neben den Düften unbestritten bleibt.

Auch die Freundschaft wird wesentlich durch sie beeinflußt. Aeußerst interessant sind hierfür die Tatsachen, welche Herr Jäger von den Naturvölkern anführt, bei denen der Geruchsinn noch viel feiner ausgebildet ist, als bei den Kulturvölkern. Die Indier auf den Philippinen sind imstande, durch Beriechen der Taschentücher zu erkennen, welcher Person diese angehören. Ver­liebte tauschen dort beim Abschiede Stücke getragener Wäsche aus und schlürfen daraus während der Trennung den Geruch des geliebten Wesens ein. Weit verbreitet ist der Nasengruß, d. h. das gegenseitige Beriechen. Aber auch bei den Germanen trägt zum Haß gegen die Juden deren unsympatischer Geruch viel bei; umgekehrt stinken die Deutschen den Juden.