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Die Neue Welt. Illustrirte Unterhaltungsbeilage.
Meine und Eugens Freundschaft hatte einen Sprung bekommen und der war nimmer zu nieten, hingegen schloß ich mich jetzt mehr denn je an Walter an. Ich gewann den blassen Jungen, dieses verzärtelte Muttersöhnchen, lieb, ja, ich beneidete ihn sogar um seinen naiven Ernst, seinen komischen Eifer, mit dem er an Alles heranging, und hauptsächlich um sein wunderbares Gedächtniß. Und wie grenzen= los unerfahren und unbehülflich war er doch wieder in all den Dingen, die das Leben betrafen! Er war ein Träumer. Er lebte nur seinen Büchern, sah nichts und hörte nichts von all Dem, was um ihn draußen in der Welt vorging. Er verkroch fich in sich selbst und verkapselte den Ausgang, wie eine Schnecke zur Winterszeit; und doch fühlte er so eine heiße Sehnsucht nach dem Leben und seinen Frenden. Er fam wenig oder garnicht heraus ins Freie, hatte auch für die Schönheiten in der Natur kein Verständniß, er saß nur hinter seinen Schmökern und Schwarten, studirte und verfertigte bändestarke Auszüge.
Selbstverständlich war er in der Schule stets der Beste, nur nicht im Turnen, da war er der Schwächlichsten und Aengstlichsten einer, ja, er mußte es sogar ganz aufgeben, da er fränkelte. Seine Mutter be= hütete ihn wie ihren Augapfel, wickelte ihm die dicksten wollenen Tücher um den Hals, kaufte ihm Pelzmüßen von der Größe eines mäßigen Wagen= rades, und hätte, um ihn zu kräftigen, ihn am liebsten in Kakao gebadet, denn so oft ich bei ihm war, fam sie mit einer Tasse voll diesen Getränkes angelaufen.
Ich, der soust so selten eine Neigung für Jemand empfand, war beinahe verliebt in ihn. Stunden lang konnte ich bei ihm sizen und seinen Reden zuhören, trotzdem ich blutwenig von ihnen verstand. Tage lang sprach er über die griechischen Philosophen, las mir oft zwanzig, dreißig Seiten aus Büchern vor und ging dann das Gelesene ausführlich mit mir durch. Und ich saß dabei, freute mich über den angenehmen Klang seiner Stimme, über die Schärfe seiner Logit, über die Gewandtheit und Farbigkeit seiner Sprache, ohne mir auch nur die Mühe zu nehmen, seinem Gedankengang zu folgen.
Albert war und blieb derselbe. Er war ein wandernder Stadtplan, verfolgte mit Interesse die Fortschritte des Asphaltpflasters, sammelte Polizei berichte und führte Brandstatistiken, das heißt, er wäre völlig ungenießbar gewesen, wenn nicht sein angeborner gutmüthiger Humor und eine scharfe Nachahmungsgabe des Charakteristisch- Komischen am Menschen ihn zu einem lustigen Gesellschafter ge= macht hätten, über den man sich manchmal vor Lachen ausschütten konnte. Seine geistigen Interessen waren gleich Null. Er lebte in den Tag hinein, dachte in seinem behäbigen Phlegma an garnichts und war stets glücklich und vergnügt. Ohne eigenes Urtheil, wollte er sich doch gern den Anschein geben, als verstände er irgend etwas, und redete sinnlos und blindlings jeglichen Unsinn nach. Seine Fahne, auf die er geschworen hatte, hieß Eugen.
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Ich habe noch zu erzählen, daß die Tochter des Aristokraten sich mit dem Besißer einer Maschinenfabrik verheirathete. Man hielt ihn allgemein für reich. Er hatte bisher ein sehr leichtsinniges Leben geführt und es waren infolgedessen alle Anzeichen vorhanden, daß er ein ausgezeichneter braver Ghemann würde. Sie war genau das Ebenbild ihrer Mutter, gutmüthig, liebevoll und häßlich. Wirklich, sie lebten gut zusammen, denn nur böse Menschen können behaupten, daß er vollkommen nüchtern war, als er ihr einmal mit der Reitpeitsche aufwartete. Ihre Kinder waren vom Tage der Geburt an die wahrhaftigen und unverfälschten Wunderkinder. Ja, so etwas Süßes, Niedliches und Kluges war nicht noch einmal auf dem Erdenrund zu finden.
Ferner habe ich noch zu bemerken, daß man an einem Wintermorgen den Steinträger Weise erfroren in einem Neubau auffand. Er mochte wohl trunken dorthingerathen und eingeschlafen sein. Seine Frau war herzlich froh, wenigstens empfing sie auch jetzt bei Tagzeiten Besuch.
,, Jotte doch, das war ja ein Freund von ihrem Schwager, wer konnte auch da etwas Böses denken!"
Auch Lies versuchte sich mit Gleichmuth hierüber hinwegzusetzen. Sie war jetzt bald sechzehn Jahr, und trotz ihrer schlanken Figur förperlich wunderbar entwickelt. Sie war wenig daheim, begann Tanzböden zu besuchen und Herrenbekanntschaften zu machen. Mit ihrer Mutter lebte fie in stetem Unfrieden, und es war ihr gleich, daß diese sie mit den gemeinsten Schimpfworten belegte. Sie thäte ja nichts Unerlaubtes; warum sollte sie denn immer zu Haus hocken, es wäre ja so hübsch und lustig draußen; und wenn vielleicht ein Herr zu ihr frech draußen; und wenn vielleicht ein Herr zu ihr frech würde, dann wisse sie ihm schon zu begegnen.
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Kinder werden Leute.
( Fortsetzung folgt.)
Wilhelm Beitling, der Schneidergeselle von Nagdeburg.
Ein Lebensbild aus der deutschen Arbeiterbewegung. Von Konrad Haenisch.
hristiane Erdmuthe Friederike Weidlingen, aus Gera gebürtig, hat am 9. Oktober 1808 Cihren unehelichen Sohn, welcher den 5. Oktober 1808, Nachmittags 344 Uhr geboren, taufen lassen, Namens Wilhelm Christian'. Wohnte im neuen Weg in den Bogenhäusern durch Pastor Zieme. durch Pastor Zieme. Taufzengen: Schuhmachermeister Joachim Friedrich Kämpf, Maurergeselle Johann Heinrich Weidling.
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Diese kürzlich durch v. Wittelshöfer einem Magde burger Kirchenbuche entnommene Eintragung hat burger Kirchenbuche entnommene Eintragung hat uns endlich genauen Aufschluß über Geburtstag und Jahr eines Mannes gegeben, dessen Name an der Schwelle der deutschen Arbeiterbewegung steht, und der, wenn auch sein theoretischer Standpunkt heute weit überholt ist, es wie Wenige verdient, einen weit überholt ist, es wie Wenige verdient, einen Ehrenplatz im Herzen der Arbeiterklasse einzunehmen.
Hervorgegangen aus der untersten Schicht des Volkes hat Weitling eine überaus harte ProletarierVolkes hat Weitling eine überaus harte Proletarier jugend durchmachen müssen, und von all dem Elend, jugend durchmachen müssen, und von all dem Elend, das das Leben seinen Enterbten nur zu bieten vermag, ist ihm nichts erspart geblieben. Zum Schneiderhandwerk bestimmt, hatte sich der Junge durch eine lange, bittere Lehrzeit hindurchzuhungern, oft genug mußte er mit kuurrendem Magen sein Lager aufsuchen, um sich am Morgen früh um fünf Uhr wieder an das ewige Einerlei der Arbeit fünf Uhr wieder an das ewige Einerlei der Arbeit zu begeben. Mit zwanzig Jahren zog er auf die Wanderschaft und durchquerte, das Ränzlein auf dem Rücken, Deutschland von einem Ende zum anderen. Im Jahre 1830 finden wir ihn in Leipzig ; hier betheiligte er sich, kaum 22 Jahre alt, lebhaft an der damaligen bürgerlich- demokratischen Bewegung und veröffentlichte scharfe Artikel und Spottverse.
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Seine weitere Wanderung führte ihn nach Wien , wo er sich mit der Verfertigung künstlicher Blumen ernährte. Ein nicht uninteressantes Liebesabenteuer wird uns aus dieser Wiener Zeit berichtet: Zugleich mit einem Habsburger Prinzen interessirte sich unser Schneidergeselle lebhaft für ein junges Mädchen, das
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unglaublich, aber wahr! den armen, aber sehr intelligenten und hübschen Weitling seinem hoch geborenen Rivalen vorzog. Dieser schäumte vor Wuth; wie konnte es auch dieser Proletarierlump wagen, seine Augen zu einer Dame zu erheben, der wagen, seine Augen zu einer Dame zu erheben, der ein Prinz von Geblüt sein höchsteigenes Interesse zuzuwenden geruht hatte! Nur mit Mühe gelang es dem noch rechtzeitig gewarnten Weitling, sich der Rache des hohen Herrn zu entziehen, er entfloh aus Wien , eilte über den Rhein nach Frankreich und kam im Oktober 1835 zu Paris , der Hauptstadt der Welt" an.
Die Zeit seines Pariser Aufenthalts, die, von einer kurzen Unterbrechung abgesehen, bis zum Jahre 1841 dauerte, wurde für Weitlings Leben entscheidend. In Paris , das damals in weit höherem Maße als heute der revolutionäre Brennpunkt, die revolutionäre Mutterstadt der Welt war, lernte er
einmal den Sozialismus jener Zeit kennen und fam auf der anderen Seite in engste Berührung mit der damaligen deutschen Arbeiterbewegung, soweit von einer solchen vor Weitling die Rede sein fann. Zum Verständniß seiner späteren Agitation, wie zur rechten Würdigung Weitlings überhaupt, ist eine kurze Besprechung, eine flüchtige Skizzirung beider Faktoren unerläßlich.
Das beginnende 19. Jahrhundert hatte mit dem industriellen Kapitalismus eine Erscheinung heraufgeführt, deren Wirkung eine völlige Umwälzung, Revolutionirung aller früheren gesellschaftlichen Verhältnisse war. Eine schier unermeßliche Steigerung der Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit trat ein; aber indem so die Maschine der Kulturmenschheit gewaltige, ungeahnte Reichthümer spielend in den Schooß warf, bewirkte sie zugleich tiefgreifende Veränderungen im festgefügten sozialen Unterbau. In dem industriellen Proletariat schuf sie eine Klasse, die, nichts weiter befizend als ihre Arbeitskraft, ge= zwungen war, diese einem industriellen Kapitaliſten zu verkaufen, eine Klasse, für die bei der gewaltigen Vermehrung des gesellschaftlichen Reichthums zunächst nichts abfiel als Hunger, Elend und Existenzunsicher= heit. Noch aber hatte diese Klasse fast noch im Embryo- Zustand nicht die Fähigkeit, sich gegen
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das auf ihr lastende Joch aufzubäumen, noch vermochte sie es, durch machtvolle Organisation der schrankenlosesten Ausbeutungslust der Kapitaliſten wenigstens in etwas ein Paroli zu bieten. Und so konnte denn in jener Zeit der Kapitalismus völlig ungezügelt auf die Volkskraft wüthen: Elend und Massenarmuth waren die Folge. Damals waren es edeldenkende, klarblickende Männer aus der Bourgeoisie selbst, die in der richtigen Erkenntniß, daß der allgemeine Jammer nicht in individuellem Verschulden, sondern in den sozialen Verhältnissen seine Wurzel habe, daß die Gesellschaftsordnung für die Schäden der Zeit verantwortlich zu machen sei, zuerst den Ruf nach einer gründlichen Aenderung derselben erhoben, die den Sozialismus als erstrebenswerthes Ziel aufstellten. Ihnen war der Sozialismus nicht das Produkt des geschichtlichen Werdeganges, sondern ein logisch konstruirtes, aus weltumfassendem Mitleidsgefühl herausgeborenes Zukunftsbild, ihnen war er die absolut vernünftige Gesellschaftsorganisation, die ins Leben treten sollte durch den Appell an den Verstand und das gute Herz der Menschen, zumal der Mächtigen. An einen thatkräftigen Klassenkampf des Proletariats mit dem Sozialismus als Endziel konnten jene Männer bei der völligen Aktionsunfähigkeit der Arbeiter ihrer Zeit garnicht denken. So entstanden die utopistischen Zukunftsbilder eines Saint Simonis, eines Charles Fourier , eines Dezamy und Cabet in Frankreich , eines Robert Oven in England.
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Deutschland blieb von dieser Strömung unberührt, eine Folge seiner wirthschaftlichen Rückständigkeit, bei der sich die Anfänge des Kapitalismus erst hier und dort schüchtern hervorwagten. Ein Spiegelbild dieser wirthschaftlichen Zurückgebliebenheit war die jeder Beschreibung spottende politische Reaktion, die nach den Zeiten der Freiheits" friege über unser Vaterland hereingebrochen war. Schmählich wurden die zur Zeit der Noth den Völkern gegebenen Versprechungen gebrochen, vergessen war die Verheißung, eine Konstitution geben, dem Volte Mitbestimmungsrecht an der Gestaltung seiner eigenen Geschicke gewähren zu wollen; bestehende Geseze wurden durch einen fürstlichen Federstrich je nach Bedarf annullirt, jahrelange Untersuchungshaft, Kerker und Festungsstrafen, Haussuchungen waren an der Tagesordnung; politisches Denunziantenthum, Spigelei und Schnüffelei blühten wie nie zuvor. Die Karlsbader Beschlüsse waren das Endergebniß der politischen Weisheit der Herrschenden. Daß unter diesen Ilmständen von einer Arbeiterbewegung nicht die Rede sein komite, liegt auf der Hand, wo hätte dieselbe bei dem völligen Mangel einer Vereins-, Versammlungs- und Preßfreiheit auch Licht und Luft zu ihrem Wachsthum hernehmen sollen? Was sich an politischer Regsamkeit in der Arbeiterklasse sand, mußte sich naturgemäß zunächst jenen bürgerlichradikalen Bewegungen anschließen, deren Ziel eine