Samstag, 29. Jimi 1935Nr. 15115. JahrgangZENTRALORGANDER DEUTSCHEN SOZIALDEMOKRATISCHEN ARBEITERPARTEIIN DER TSCHECHOSLOWAKISCHEN REPUBLIKERSCHEINT MIT AUSNAHME DES MONTAG TÄGLICH FRÜH. REDAKTION UND Verwaltung präg xii„ fochova 42. TELIFON 53077.HERAUSGEBER, SIEGFRIED TAUB. CHEFREDAKTEUR, WILHELM NIESSNER. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR, DR. EMIL STRAUSS, PRAG.Einzelpreis 70 Hilter(«InsdiUeMich 5 H.ll« Port«!““W» M. Rote MehrheitenDie Henkersknechte fordernwieder TodesstrafeBudapest.(MTJ) Im zweitinstanzlichen Prozeß gegen den ehemaligen kommunistischen Volkskommissar Rakosi begannen Freitagdie Plaidoyers.,Der StaatSanwalt Miskolczh protestierte in längeren Ausführungen gegen die dirSouveränität Ungarns verletzende AuSlandspro-poganda, die im Zusammenhang mit diesem Pro-zeß eingelritet wurde. In diesem Prozeß handlees sich nicht um daS politische Verhalten Rakosts,sondern um Verbrechen, die gegen das Strafgesetzbuch verstoßen. Rakosi könne nicht alS Verfolgter einer politischen Idee betrachtet werden, da ermit der Verübung der ihm zur Last gelegtenVerbrechen keine politische Idee vertrat, die vonirgend einem Kulturstaat als solche anerkanntwerde.■(Die Sowjetunion ist nach diesem Be-ttzarrn kein Kulturstaat, aber Ungarn wäreeiner!)Am Schluffe beantragte der Staatsanwaltdie Verhängung der Todes st rafe gegenRäkosi. Mit der Rede des Verteidigers wurde derProzeß geschloffen. Das Urteil wird amMontag verkündet werden.Toleranzund DemokratieDr. BeneS mahnt die Katholikenzu nationaler VersöhnlichkeitPrag. Auf einem Begrüßungsabend für dieanläßlich des Katholikentages in Prag weilendenausländischen Journalisten ergriff auch Außenminister Dr. Bene s das Wort, der u. a. sagte:Wenn wir auch in der VergangenheitdaS klassische Land der Religionskömpfe waren,so find wir zu einem hohen Grad, ja zu einerfast absoluten religiösen Verträglichkeit gelangt— mit einem Wort zu einer fast absoluten Toleranz in bezug auf die GewiffenSfrei-heit.Wir überlasten es unserem Bürger, frei ihreZugehörigkeit zu jenem Glauben, jener Orientierung und jener Weltanschauung zu bestimmen,die sie als die beste ansehen, einzig und allein mitdem Vorbehalt, daß die Grundsätze der staatlichenAutorität, die Grundpfeiler der Rechtsstrukturünserer Gesellschaft und die öffentliche Moral dadurch nicht berührt werden. Getreu diesen Ideenkonnten wir im ganzen ohne Schwierijsteiten beiuns die hauptsächlichen Kirchenfragen lösen undnamentlich zu dem Abschluß eines Modus vivendimit dem Vatikan gelangen. Die gleichen Grundsätze verfolgen wir bei der Lösung der Problemeünserer nationalen Minderheiten. Wir sind überzeugt, daß es auch da keinebessere und wirksamere Methoden gibt, als die Demokratie, die Methode der Freiheit, die Methodeder Zusammenarbeit, der praktischen gegenseitigen nationalen Toleranz. Der Unterricht in denMinderheitensprachen in unseren Schulen, die gerechte Vertretung im Parlament und die Anwesenheit zweier deutscher Vertreter in der Regierung sind sicherlich dafür ein beredter Beweis. Undwenn auch unsere nationalen Minderheiten ihreProgramme und Desiderate haben und immer haben werden, so wie dies auch bei den tschechischenund slowakischen Parteien der Fall ist, so habenwir die Bedingungen geschaffen, daß sie diese Programme entwickeln und in Harmonie mit denMehrheitsparteien zur Geltung bringen können.Ich will damit nicht sagen, baß wir in dieser Hin-sicht nicht auf Schwierigkeiten stoßen, aber wirsind der Meinung, daß es zur Lösung des Minderheitenproblems keinen anderen Weg gibt, alsden, den wir 16 Jahre hindurch gehen und denwir nicht aufhören werden, weiterzuverfolgen.Wenn auch der katholischen Bewegungeine wichtige politische Mission auch in anderenGebieten zukommt, so kann sie sich der Verpflichtung nicht entziehen, ein mäßigendes Element zu sein, insofern es sich um die Zusammenarbeit zwischen den Nationen unseres Staates handelt, iIn Hollands größten Stödten(E. B.) Die Gemeindewahlen in Hollandstanden im Zeichen eines ganz unerwartet starkenVormarsches derSozialdemokratie, dem ein völligerZusammenbruch der Freisinnigen und große, biszu einem Drittel gehende Verluste der Römisch-katholischen StaatSpartri und ihres protestantischen Gegenstückes, der Antirevolutionären, gegenüberstehen.In R o t 1 e r d a m hat die Sozialdemokratieihre Stimmenzahl von 81.000 auf 100.000 gesteigert und fünf neue Mandate gewonnen. Sicbesitzt jetzt zwanzig Mandate von 45 und mitden zwei kommunistischen und dem einen revolutionär-sozialistisches Mandat besteht in Amsterdam zum ersten Mal in dessen Geschichte eine roteMehrheit, zu der auch noch die zwei Sitze der radikal linksbürgerlichen Liste van Burink gerechnetwerden können. In A m st r r d a m gewinnen dieSozialdemokraten einen, die Kommunisten zweiSitze, so daß 16 Sozialdemokraten, 7 Kommunisten und 1 revolutionärer Sozialist insgesamt 24von 45 Mandaten innehaben.Auch in den Provinzstädten verzeichnet die Sozialdemokratie sehr große Fortschritte.In Arnhem gewann sie 5 Mandate(jetzt 14von 35), in Dordrecht drei(jetzt 12 von 31),in Leiden drei(jetzt 14 von 35), in H a a r-l e m zwei(jetzt 14 von 39), in Utrecht zwei(jetzt 14 von 39),in Schiedam zwei(jetzt 10von 31) und in einer ganzen Reihe weiterer Gemeinden je rin Mandat.Die bürgerliche Presse nimmt von diesen Ergebnisseil mit unverhohlener Bestürzung Kenntnis. Ist ihren Kommentaren fällt vor! allem die Drohung, die Gemeinden, die sichden reaktionären Abbauwünschen nicht gefügigzeigen» von der Staatsrcgicrung dazu zu zwingen,also die Gemeindrdemokratie zu beseitigen. Es ist allerdings nicht sicher, ob es dazukommen könnte. Die neugewählten Gemeindrrätetreten erst im September ihr Amt an. Im Juliaber finden Kammerwahlen statt. Es istmöglich, daß dir kapitalistisch-klerikale Regierung,auf die die bürgerlichen Blätter ihre Hoffnungensetzen, im September nicht mehr da sein wird!Neue Wirren in PeipinsChinesischer Handstreich gegen die FremdherrschaftTokio.(Reuter.) Japanischen Meldungenzufolge versuchte eine Gruppe von etwa 1000Mann irregulärer chinesischer Truppen, sich desZuganges zum Südhafen von Pciping zu bemächtigen. Nach, einem Kampf mit der Stadtgarnisonwurden sie bis nach FcNktäi/ einige Meilen vomHafen entfernt, zurückgeschlagen. Die irregulärenTruppen halten nunmehr den Bahnhof von Fenk-tai besetzt, wo sie einen Ttil der Eisenböhnstreckezerstörte, so daß die Verbindung zwischen Peiping! und Tientsin unterbrochen ist.Nach den letzten Meldungen aus Peipinggehörten die meuterischen chinesischen Soldateneiner Pauzerzugformation der 53.Armee an, die unter dem Oberkommando von General W a n f u l i n steht. Die Meuterer unternahmen mjt einer Lokomotive und zwei Panzerwagen von der Linie Peiping-Tientsin her einenAngriff auf das Kaisertor und später auf dasWcsttor. Die Hintergründe des Handstreiches hatman bisher noch nicht aufklären können; viel verbreitet ist jedoch die Behauptung, daß es sich umeine Aktion von Separatisten handelt und der sogenannte graue General Shihiugan oder der frühere Sekretär des Marschall Wupeifu, Paichien-wu, ihre Hand im Spiele haben.Der japanische Außenminister Hirota hatden Botschafter in Nanking beauftragt, gegen dieVorgänge bei Peiping zu protestieren und hierbeizu betonen, daß die japanische Regierung die sofortige Ergreifung von Maßnahmen verlangt,die die Wiederholung von Angriffen meuternderchinesischer Söldner auf japanische Truppen unterbinden sollen. Ferner verlangt Japan, daß General Wanfulin von der chinesischen Regierungals Anstifter zur Rechenschaft gezogen werde.Oestlich von Peiping in Tung-Schu undnördlich von Peiping in Misyn ereigneten sich neueZusammenstöße zwischen chinesischen Und japanischen Truppen. Die Lage bleibt nach Mitteilungdes japanischen Oberkommandos auch weiterhinsehrernst.In Peiping haben die Japaner das Standrecht verhängt.Das englische Volk ihr den FriedenIm Ernstfall wird man es aber nicht fräsenLondon.(Reuter). Lord Cecil teilte in einergroßen Volksversammlung in London die Ergebnisse der britischen Volksabstimmung über dieFrage des Friedens mit, die von der britischenVölkerbundliga veranstaltet worden war. Die einzelnen Ergebnisse auf die gestellten Fragen sindfolgende:Frage: Soll Großbritannien Mitglied desVölkerbundes bleibend Antwort: 11,090.387Stimmen ja, 355.883 Stimmen nein.Fräge: Sind Sie für die allgemeine Herabsetzung der Rüstungen auf Grundlage internationaler UebereinkomMen? Antwort: 10,470.489Stimmen ja, 862.775 Stimmen nein.Frage: Sind Sie für die allgemeine Beseitigung des nationalen militärischen und Marine-Flugwesens durch ein internationales Ueberein-kommen? Antwort: 9,533.558 Sttmmen ja,1,689.786 nein.Frage:. Soll die Waffenerzeugung und derVerkauf"von Waffen durch private Erwerbsunternehmungen verboten-werden? Antwort:10,417.329 Stimmen ja, 775.415 Stimmennein.Frage: Sollen sich die übrigen Rationen verbinden, um die angreifende Nation daran zu hin dern,-ihren Angriff auf'den überfallenen Staatzu entwickeln, und zwar zunächst nicht durch militärische, sondern durch wirtschaftliche Mittel?Antwort: 10,027.608 Stimmen ja, 635.074Stimmen nein.Frage: Wenn es notwendig ist, diese Angriffe durch militärische Mittel zu verhindern?Antwort: 6,784.368 Stimmen ja, 2,351.981Stimmen nein.Monopol für WaffenerzeugungIn FrankreichParis. In der Donnerstagsitzung des Finanzausschusses der Kammer brachte ein Aus-schußmitglied einen Zusatzantrag ein, wonach beiden staatlichen Aufträgen ausbedungen werdensoll, daß jeder Verdienst; der'5 Prozent überschreitet, vom Staat eingezogen werden soll. Mit9 gegen 8 Sttmmen bei 2 Enthaltungen wurdeein Nationalisierungsantrag angenommen, hervorsieht, daß die. Waffenherstellung und derWaffenhandel vom 1. Jänner 1936 ab ausschließlich vom Staat besorgt werden soll.Fiihrerstaat und DespotieAls im Jahre 1748 Montesquieu feinWerk über den„G eistderGesetze" der Oef-fentlichkeit übergab, war die Despotie eine»Staatsform", die im nahen und im fernen Ostensehr in Mode war.Man würde glauben, daß die Probleme der'Despotie schon längst— und insbesondere seit Verschwinden des Sultans Abdul Hamid, desletzten Despoten Europas, von der Bühne der Geschichte— der Vergangenheit angehören und nurfür- welttrrmde Stubengelehrte von Interessewären. Und siehe: die fast zweihundert Jahrealten Lehren Montesquieus über die Despotiewerden wieder lebendig, denn Despotie und»Führerstaat" sind einander zum Verwechseln ähnlich und in ihrem innersten Wesen gleich.»In einer Despotie schaltet ein einziger ohne Gesetz und Regel lediglich nach Wunsch und Launeüber Alles"— meinte Montesquieu. Ist es vielleicht im Führerstaat anders? Die Geschehnissein Deutschland-am 30. Juni; 1. und 2. Juli desvergangenen Jahres, als der oberste„Führer"ohne gerichtliches Urteil eine große Anzahl vonseinen früheren Weggenossen und viele Menschen,die er zu seinen Gegnern rechnete, hinrichken ließ,zeigen genau, daß Despotie und Führerstaat nurzwei verschiedene Namen für eine und dieselbekrankhafte Entartung eines Staatswesens sind.Ueber die innerste Natur dieser Entartungender Staatsform können wir noch manches vonMontesquieu lernen.„Das Prinzip der despotischen Regierung ist— so lehrte Montesquieu—die Furcht. Sobald in der despotischen Regierung der Fürst— also in der Sprache der deutschen Gegenwart gesprochen: der Führer— nureinen Augenblick den Arm sinken läßt, wenn ernicht auf der Stelle die ersten Würdenträger vernichten kann, so ist alles verloren. In diesemSinne behaupten offenbar die Kadis, daß decGroßherr nicht an sein Wort oder seinen Eid gebunden sei, wenn er dadurch seiner Gewalt Grenzen setze."Der vom„Deutschen Nachrichtenbüro" am3. Juli 1934 herausgegebene Bericht über die andemselben Tag abgehaltene Sitzung des„Reichs-kabjuetts" zeigt genau, daß auch die Kadis desDritten Reiches Jä und Amen sagen müssen, wennder Grotzherr die ersten Würdenträger des Reichesnicdermachen läßt. Es heißt in diesem Bericht:.„In der heutigen Sitzung des Reichskabinettsgab Reichskanzler Adolf Hitler zunächst eineausführliche Darstallung über die Entstehung deshochverräterischen Anschlages und seiner Niederwerfung. Der Reichskanzler betonte, daß einblitzschnelles Handeln notwendig gewesen sei...Reichslvehrminister Blomberg dankte Hitlerim Namen des Rcichskabinetts und der Wehrmachtfür sein entschlossenes und mutiges Handeln...Das Reichskabinett genehmigte fodann ein Gesetz,deren einziger Artikel lautet: Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffeam 30. Juni und am 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwchrrechtens."Wie eine Reportage aus dem Dritten Reichklingt das, was Montesquieu über den Gehorsamund über die Rolle der Menschen in Despotiensagt:„Der'Mensch steht hier als eine Kreatur,di? gehorcht, einer anderen Kreatur, die gebietet,gegenüber. Das gemeinsame Los der Menschen,wie der Tiere, ist hier Instinkt, Gehorsam und^Züchtigung. Alles muß sich hier um zwei oderdrei Begriffe drehen. Wenn man ein Tier abrichtet, so sorgt man vorsichtig dafür, daß esdenselben Lehrmeister, dieselbe Lehrart und denselben Gang beibehalte; man sucht auf sein Gehirn durch zwei oder drei Bewegungen einzuwir-ken und mehr nicht."Und wie gestaltet sich das Verhältnis einesdespotisch regierten(oder„geführten") Staateszu den übrigen?„Ein solcher Staat— meintMontesquieu— wird sich am besten befinden,wenn er tun kann als wäre er allein in. der Welt,wenn er von Wüsten umgeben und, von anderenVölkern, die er Bärbaren nennen wird, abgewendet ist. Der Despotismus ist sich selbst genug; alles rings um khn ist wüst und leer."Efcbent sua fata libelli—■ auch Micherhaben ihre Schicksalei Der„Geist der Gesetze"ist.noch nicht tot. Man kann vom alten Montesquieu noch immer was lernen. J. R.