Anterhaltungsblatt des Vorwärts
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Nr. 60.
Erinnerungen
Donnerstag, den 25. März.
( Nachdrud verboten.)
eines Kommunekämpfers. Von Henry Brissac.
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Der Hunger quälte mich seit dem vorigen Tage. Die Stickluft im Karzer hatte es mir unmöglich gemacht, den Tag über mehr als einen einzigen Zwieback zu fuabbern. Aber die belebende Brise der Rhede und die frische Nachtluft hatten ein geradezu rasendes Bedürfniß nach Nahrung geweckt, das durch die ganzen vorhergehenden Entbehrungen noch verstärkt
wurde.
Endlich öffnete sich meine Zelle, und ich fand Brot am Boden liegen. Ich stürzte darüber her und verschlang es. Es war etwa ein halbes Pfund. Gewiß war das meine erste Mahlzeit; ich erwartete die zweite am Abend. Aber es kam nichts. Auch diese Nacht brachte ich fröftelnd zu. Am nächsten Morgen kam ein Wärter, mich zur Sprechstunde abzuholen. Verschiedene Zellengefangene famen mit mir. Hätte die Tropensoune gebrannt, so wäre mein Schüttelfrost schnell verschwunden gewesen, aber sie verbarg sich hartnäckig hinter einem grauen Wolkenschleier. Ich krenzte die Arme auf der Brust, wie um das letzte Bischen Wärme, das mir geblieben war, zusammenzuraffen und so machte ich mich, bar köpfig und kahlgeschoren, das Gesicht ebenfalls glattgeschoren, mit Schellen an den Füßen, auf den Weg. Wir kamen an kleinen vergitterten Häusern vorbei. Offene Thüren gestatteten den Gefangenen ein bischen im Freien zu schlendern. Trotz meiner Kurzsichtigkeit glaubte ich, einige politische Freunde zu er kennen. Die verhaßte Vermischung mit gewöhnlichen gemeinen Verbrechern dauerte auch auf der Fusel Nou fort. Wir machten Halt und erwarteten den Arzt. Glücklicherweise war es nicht der bewußte Korse, sondern ein junger Arzt dritter Klaffe.
Was haben Sie?" fragte er mich sanft. " Ich friere und möchte eine Bettdecke.""
Notiren Sie eine Bettdecke," wandte er sich an einen Schreiberdienste verschenden Sträfling.
1897.
Aufseher führte mich nach der Schmiede. Ich mußte mich ausstrecken, damit mir die Fußschelle abgestreift werden konnte. Aber alsbald wurde mir eine schwerere angeschmiedet, die mit zwei Ketten verbunden war. Eine Kette mehr als in Toulon - ein merkbarer Fortschritt!
Ich wurde in eins der Häuser vierter Klasse" geführt, das mitten im Gebäudekomplexe des Besserungshauses lag. Es war ein langes Gefängniß, für fünfzig Verurtheilte bestimmt, doch drängten sich, als die auf Arbeit befindliche Kolonne zurückgekehrt war, etwa siebzig Personen darin zusammen. Bergitterte Fensteröffnungen hoch oben in den Mauern, darunter ein Brett, worauf Säcke und Eßwaaren; noch tiefer die während des Tages eingerollten Hängematten; in einiger Entfernung davon ein Balken, gegen den sie in der Nacht ausgespannt werden; zwei Wascheimer im Hintergrunde.
Einer der anwesenden Sträflinge bot mir ein angeblich goldenes Kreuz zum Kauf an. Ich lehnte ab. Aber' s fostet ja nur fünf Nickel."
Ich wiederholte meinen abschlägigen Bescheid. Willst auch kein Taschentuch?" Ich verneinte gleichfalls.
" Du hast wohl keine Asche?" „ Nein!"
" Für einen Hagzir"( Zwangssträfling) schanst Du nicht besonders" helle" aus," sagte ein anderer Galeerensträfling. Ich mache in dieser Beziehung gar keine Ansprüche." " Wenn Du keinen Toback haft, kannst Du Div. ja nicht mal eine ins Gesicht stecken."
„ Ich verzichte darauf."
" Sieht er denn wie ein ehrlicher Mensch aus?"
So laßt' n doch, er ist' n Kommunard und hat noch kein Lehrgeld gezahlt."
Spielen wir!" sagte einer der Sträflinge zu seinen Kameraden.
Er zog ein Packet Karten hervor." Willst Du aufpassen?" fragte er mich.
"
Meinetwegen, aber ohne alle sonstige Verantwortung." Wenn Dir was auffällt, so rus' Achtung!" sagte ein
anderer.
Ich brauchte nicht„ Achtung!" zu rufen, denn die andern Zwangssträflinge kamen bald zurück.
Als ich in meine Belle zurückgekehrt war, erhielt ich zum Frühstück genau dieselbe Quantität Brot wie gestern. Ich überlegte lange, ob ich sie auf einmal oder nach und nach Jeder streckte sich auf dem Boden hin oder setzte sich so aufessen sollte. Ich fonnte zu feinem festen Entschlusse gut oder übel es gehen wollte, auf seinen Sack. Mein Nach kommen und beschloß, mich ganz der Eingebung des Augen- bar zur Rechten, der von meiner Ankunft erfahren hatte, bat blicks zu überlassen. Das unvermeidliche Resultat versäumte mich, mir seine Erfahrung in dieser Umgebung zu Nutze zu nicht, sich alsbald einzustellen: In weniger als einer halben machen. Er hatte leidlich gute Bildung und vermied es sorgStunde war alles rein aufgegeffen. Meine Vernunft machte fältig, Rothwelsch zu reden. Er sagte, er wäre ein alter mir die heftigsten, aber nußlosesten Vorwürfe. Sie nahmen Quartiermeister, für ein leichtes Vergehen mit Gefängniß bezu, je mehr Stunden verstrichen. straft. Vom Jähzorn hingerissen, habe er einen Wärter getödtet,
Nachts brachte mir die Decke zwar Wärme, aber keinen der ihn, wie er behauptete, feindselig verfolgte, und so sei er Schlaf; diesen verscheuchte ein Hunger, gegen den unmöglich ins Baguo gekommen. Er fragte mich: Sie kommen aus auzufämpfen war. Dieser Zustand verschlimmerte sich un- der Zelle?" Wir sprachen vom Kerkermeister, von der Nahrung leidlich, als der Tag anbrach. Ich delirirte und hatte eine und von der Bettdecke.
eigenthümliche Vision. Ich sah Berge von Fleisch, dampfende„ Der Kerkermeister oder Schließer," sagte er, heißt hier Schüsseln auf einer zierlich gedeckten Tafel. Jede andere Vor- Buchtmeister, weil er die Züchtigung mit der Peitsche vorstellung, wie Fortschritt Familie Humanität war spur- zunehmen hat. Er hat mehrere Kollegen, der Henker gehört los verschwunden. auch dazu. Kurz und gut: sie haben Sie nicht todtgeschlagen
-
„ Bevor ich das thue, müßte ich doch wissen, warum fie mich hätten todtschlagen sollen?"
Da öffnete sich ein Pförtchen und schloß sich augenblicklich preisen Sie Ihren Stern!" wieder; neben mir fiel ein Zettel zur Erde. Ein paar mit einem Bleistift geschriebene Zeilen sprachen mir Muth zu, geduldig zu sein, und kündigten mir meine demnächst bevorftehende Befreiung aus der Zelle an. Etwas später öffnete fich das Pförtchen abermals und eine Stimme flüsterte: " Schnell, wollen Sie etwas?"
Ich möchte Brot!"
Ich bekam es und ein großes Stück gekochtes Rindfleisch, auch Bagno Bouillon, die nachmittags in den Zellen aus getheilt wird.
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Aber das ging mir nicht so ungerächt hin: man nahm mir meine Bettdecke weg und ersetzte sie durch einen alten zerrissenen Lumpen. Ich sah es nur zu wohl der Kampf zwischen dem Arzt und dem Menschen, der offenbar das volle Vertrauen der Strafverwaltung genoß, war ein zu ungleicher. Die Fieberschauer erneuerten sich jede Nacht bei mir, und der Arzt und ich waren schließlich doch die Geprellten.
,, Warum haben denn die Aufseher zugeschlagen, ohne auch nur zu schauen, wer die Schläge bekam? Hier bedarf es keiner Gründe, daß todtgeschlagen wird: das bloße Vergnügen daran genügt schon. Wenn man Ihnen, um Ihnen das Geständniß eines wirklichen oder vermeintlichen Verbrechens zu entreißen, die Daumschrauben angelegt hätte, was würden Sie dazu fagen?"
der
,, Die Daumschrauben?!"
,, Natürlich; ich werde Ihnen einen Verurtheilten zeigen, dadurch verstümmelt wurde."
Also ist die Folter hier noch in voller Blüthe?!"
Es giebt verschiedene Leute hier, die behaupten, die Daumenschraubenstrafe habe eine ausgezeichnete moralische Wirkung. Das sind gewöhnlich diejenigen, die sie verhängen, aber nicht selber zu fosten haben. Ich versichere Ihnen nochNach zehn Tagen wurde ich aus der Zelle entlassen. Ein[ mals, Sie haben in dieser Zelle bedeutendes Glück gehabt.