Anterhalimigsblatt des Vorwärts Nr. 83. Sonntag, den 28� Apnl. 1901 (Nachdruck verbotene 20Z A V v V i k: Roman in drei Büchern von Emile Zola  . Aus dem Französischen übersetzt von Leopold Rosenzweig. Lucas hatte sich zu Suzanne an den Tisch gesetzt, und sie plauderten geschwisterlich in der Wannen Luft des herrlichen Septembertags, so vertieft in ihre gemeinsamen Erinnerungen. daß sie nicht einmal Boisgelin sahen, der die Freitreppe herab und auf sie zukam. Boisgelin, in eleganter leichter Joppe und das Monocle im Auge, war ein großer, hübscher, auf feine Außenseite eitler Mann, der sich sehr aufrecht hielt; er hatte graue Augen, eine kräftige Nase, gewichsten Schnurr' hart und trug seine gewellten braunen Haare gegen die schmale Stirn gekämmt, die schon einen Ansatz von Kahlheit zeigte. Guten Morgen, mein lieber Froment!" sagte er in seinem affektiert schnarrenden Ton.Sehr erfreut, daß Sie unser Gast sein tvolleu." Nach einem kurzen kräftigen Händedruck iveudete er sich sogleich an seine Frau: Sage, liebes Kind, Du hast doch Auftrag gegeben, daß die Vietoria zu den Delaveau hingesendet wird?" Suzanne war der Antwort enthoben, denn eben fuhr die Victoria   durch die Ulmenallee herein, und das Ehe paar Delaveau entstieg ihr bei dem Steintisch. Delaveau war ein kleiner, untersetzter Mann mit einem massigen Bulldogg- köpfe, mit vorstehenden Kiefern, einer Stumpfnase, großen, hervorguellenden Augen, lebhaft gefärbten Wangen, die zur Hälfte von einem dichten schwarzen Bart bedeckt ivaren; sein Wesen hatte etwas Militärisches, Strenges und Befehls- haberisches. Seine Frau Fernande   bildete einen entzückenden Gegensatz zu ihm, eine Brünette mit blauen Augen, von großer, schlanker Gestalt, mit herrlicher Brust und tadellosen Schultern. Nie hatten dichtere und schwärzere Haare ein reineres und weißeres Gesicht umrahmt, mit so strahlenden, liebeheißen Augen, einem so kleinen, blühenden Mund, aus welchem die ebenmäßigen, blendenden Zahne herausleuchteten, die aussahen, als ob sie Kiesel beißen könnten. Sie war be- sonders stolz aus die feine Form ihrer Füße, denn sie fand darin das unwiderlegliche Zeugnis für ihre fürstliche Ab- stammung. Nach ihr entstieg dem Wagen ein Dienstmädchen, welches ihr Töchterchcn Nise auf den Armen trug, ein Kind von drei Jahren, ebenso blond als sie schwarz war. mit wirren Locken. himmelblauen Augen und einem rosigen Munde, der immer lachte und dabei Grübchen in die Wangen zeichnete. Sie verzeihen, nicht wahr, liebe Suzanne, ich habe von Ihrer Erlaubnis Gebrauch gemacht und meine Nise mit- gebracht." Daran haben Sie sehr recht gethan," erwiderte Suzanne. Wie ich Ihnen schon sagte, werden»vir ein Kindertischchen aufftellen." Die beiden Frauen schienen Frelmdinnen zu sein. Suzanne zuckte kaum merklich mit den Augenlidern, als sie sah.»vie eifrig Boisgelin um Fernande   bemüht war, die übrigens mit ihin zu schmollen schien, denn sie behandelte ihn in der kalten Weise, die sie stets annahm,»venu er versuäste, einer ihrer Launen zu»viderstreben. Sichtlich verstimmt gesellte er sich Lucas und Delaveau zu, die sich seit dem letzten Frühjahr kan»rten und einander die Hände schüttelten. Der Direktor der Werke schien jedoch von der unerwarteten Anwesenheit des jungen Manns in Beauclair einigermaßen betroffen. Wie. Sie seit gestern hier?" sagte er.Natürlich haben Sie Jordan nicht angetroffen, da er durch eine Depesche nach Cannes   berufen worden ist. Ich weiß das zufällig, aber ich wußte iricht, daß er Sic hergebeten hat. Ja, er ist nun m arger Verlegenheit mit seinem Hochofen!" Lucas war erstaunt über die Unruhe. die dem andern so deutlich anzumerken war, daß er auf dem Punkte schien, zu fragen,»varum Jordan ihn»'.ach der CrLcherie berufen habe. Er verstand den Grund dieser Unruhe nicht, und er- widerte aufs Gerateivohl: In Verlegenheit, glauben Sie? Es geht ja alles vor- tresslich." Delaveau wechselte jedoch vorsichtigerweise alsbald das Gesprächsthema, indem er Boisgelin. den er dutzte, mitteilte. daß China   eine Partie fehlerhafter Geschosse gekauft habe, die schon zum Wiederernschmelzen bestimmt gewesen waren. Dann entstand eine nerie Ablenkung, als Lucas, der die Kinder un- gemein liebte, zu seiner großen Erheiterung bemerkte, wie Paul galant seine Blumen Nise, seiner Herzensfreundin, an­bot. Was für ein reizendes Kind, diese Nise, wie ein Sonnen» strahl, so blond war sie I Und wie war sie nur so geworden, als Kind eines Vaters und einer Mutter, die beide so schwarz waren? Fernande  , die Lucas bei der Vorstellung mit scharfem Blick sondiert hatte, um zn erkennen, ob da ein Freund oder ein Feind aufgetaucht sei, liebte es, daß man ihr diese Frage stellte, auf welche sie stolz mit einer ziemlich unverblümten Erwähnung des Großvaters, des berühmten russischen Fürsten  , antwortete: Ein schöner, blonder Mann mit»vcißcm Teint. Ich bin sicher, daß Nise sein Ebenbild wird." Aber Boisgelin fand nun, daß es nicht guter Ton sei. seine Gäste so unter einer Eiche zu empfangen, was sich bloß für auf dem Lande wohnende Kleinstädter gezieme. Und als nun alle, seiner Einladung folgend, sich anschickten, in den Salon zu gehen, erfolgte eine Begegnung: Monsieur Jorome erschien in seinem Rollwagen, den ein Diener vor sich herschob. Der Greis hatte verlangt, daß man ihn sein Leben voll- kommen abgesondert führen lasse, in Bezug auf seine Mahl- zeiten sowohl, wie auf seine Spazierfahrten, sein Aufstehen und Schlafengehen. Er ganz allein, er»vollte nicht, daß man sich irgendwie mit ihm befasse, und es hatte sich sogar die Regel herausgebildet, daß niemals jemand das Wort an ihn richtete. Alle begnügten sich daher, ihn schweigend zu grüßen, und nur Suzanne folgte ihm liebevoll mit den Augen, ein Lächeln auf den Lippen. Monsieur Järome, der im Begriff war, eine seiner langen Spazierfahrten anzutreten, auf denen er oft den ganzen Nachmittag sortblieb, hatte sie alle starr angesehen, als ein Vergessener, der Welt nicht mehr An- gehöriger, der keinen Gruß mehr erwiderte. Und Lucas wurde wieder von eirrem peinlichen Gefühl, von beängstigendem Zweifel ergriffen unter der kalten Klarheit dieses Blicks. Der Salon war ein lveites, prächtiges Gemach, mit rotem Brokat ausgeschlagen und reich im Stile Ludwigs XIV. möbliert. Alsbald kamen auch neue Gäste an: der Unterpräfekt Chkttelard mit dem Bürgermeister Gourier, dessen Frau Leonore und deren Sohn Achills  . Chätelard, ein hierher verschlagener Pariser, war ein noch schöner Mann von vierzig Jahren, kahl, mit gebogener Nase, feinem Munde und großen und glänzenden Augen hinter Augengläsern; nachdem er dem Pariser Leben   seine Haare und seinen Magen geopfert, hatte er sich durch einen guten Freund, der plötzlich und un- verschens Minister geworden war, die Unterpräfektur von Beauclair als Altenteil verleihen lassen. Ohne Ehrgeiz, mit angegriffener Leber und einem lebhaften Bedürfnis nach Ruhe, hatte er das Glück gehabt, hier die schöne Madame Gourier zu finden, die ihn für immer in Beauclair festzuhalten schien, in einem»volkenlosen Verhältnis, das von seinen Urrterthanen mit»vohlwollendeu Blicken betrachtet und,»vie es hieß, selbst von dem Gemahl, der andre Freuden suchte, ivillig geduldet wurde. Leonore, eine noch schöne, blonde Frau von achtunddrcißig Jahren, mit starken, regelmäßigen Zügen, huldigte einer großen Frönmrigkeit und trug stets ein kaltes und sittenstrenges Wesen zur Schau, hinter welchem, wie manche Eingeweihten sich zuflüsterten. eine nie erlöschende Glut profaner Begierden brannte. Gourier selbst, ein dicker, gewöhnlich aussehender Mensch mit einem Fcttnacken und rotem Vollmondgesicht, schien jedoch davon keine Ahnung zu haben, denn er sprach von seiner Frau mit nachlässigem Lächeln und zog ihr die Arbeiterinnen seines Etablissements vor, einer bedeutenden Schuhfabrik, die er von seinem Vater geerbt und in der er selbst ein Ver- mögen gewonnen hatte. Das Ehepaar hatte seit fünfzehn Jahren getrennte Schlafzimmer, und das einzige Band, das noch zwischen ihnen bestand,»var ihr Sohn Achille. ein junger Mann von achtzehn Jahren, der die regelmäßigen Züge und die schönen Augen seiner. Mutter, aber schwarze statt ihrer blonden Haare hatte, und der eine Geistesfreiheit und Un- abhängigkcit zeigte, die seine Eltern außer Fassung brachte