Arbeiter, Handwerköburschen, Leute ohne bestimmten Beruf, die jahraus jahrein durchs Land wandern, betteln oder ihre Arbeitskraft demjenigen vermieten, der fie eine Zeitlang benutzen will. Dieser Landstreicher war eines TagcS des Wanderlebens über- drilsfig geworden, hatte sich vor dem Dorf eine Hütte gebaut und hauste darin, einsam, gemieden von den Bauern, die ihn immer noch als Landstreicher, das heißt als verdächtiges Individuum be­trachteten. Eine» Morgen», zwei Wochen nach dem Tode der Tante, kam Poiret aus dem Wege zur Stadt an dieser Hütte vorbei. Bor der Tür liefen in voller Frecheit die Hühner des Landstreichers umher. Poiret bemerkte eins, das einen seltsamen Gegenstand im Schnabel hielt. Er näherte fich. DaS Huhn lief davon, wobei eS den Gegen­stand fallen ließ. Poiret hob ihn aus. Es war ein stark ver- rosteter Eiscngriff, der die Form einer sich windenden Schlange hatte. .Genau wie der Griff von Rosalies Kassette I" murmelte Poiret. Er blickte sich um: weit und breit niemand zu sehen. Hastig steckte er die Schlange in die Tasche und setzte seinen Weg fort. Ale er am Abend heimkam, warf er den Gegenstand aus den Küchentisch. Sieh doch mal, Frau, waö ich da...* .Himmel!" schrie die Poirette und schlug die Hände zusammen. »Der Griff von TanteS Kassette!" «Das habe ich mir gleich gedacht," bemerkte Poiret bedächtig und erzählte, wie und wo er den Griff gefunden hatte. .Er ist'S I Der Landstreicher ist'S I' schrie die Frau.»ES kann kein anderer gewesen sein als er!... Man wtrd ihm doch den Hals abschneiden, nicht wahr, Poiret?" .DaS glaube ich wohl", erwiderte Poiret. .Die arme Tante!... Schade, daß sie das nicht mehr erlebt! Wie würde sie fich freuen, wenn sie sehen könnte, wie man dem Landstreicher den Hals abschneidet l Sie hat ihn nie riechen können I" Noch am nämlichen Abend ging Poiret nach der Stadt. Am nächsten Morgen kamen die Gendarme». Eine beim Landstreicher vorgenammcue Haussuchung hatte ein überraschendes Resultat. In der Asche des Ofens fand man vier verbogene Stahlbeschläge, die einzigen Ucberreste der verbrannten Kassette. Der Landstreicher ge- stand. Als die Geudarme ihn gefesselt davon führten, folgte die ganze Bevölkerung von Francheville, allen voran, schreiend, mit zerzausten Haaren, die Poirette. Beim Anblick des Mörders ihrer Tante wollte sie sich mit spitzen Nägeln auf ihn stürzen. Sie hätte ihn in ihrer Wut zerfleischt, wen» mair sie nicht auf Armlänge von ihm fern gehalten hätte. Da spie sie dem Gefangenen ins Gesicht und kreischte keuchend, während ihr die Augen aus den Höhlen traten: Sie loerden Dir den Hals abschneiden! Hörst Du? Kanaille! Mörder I Sie werden Dir den Hals abschneiden I" IV. Vor den Geschlvorenen gestand der Landstreicher sein Verbrechen in vollem Umfange ein, weigerte sich aber hartnäckig, den Ort an- ziigeoen, an dein er das Geld verborgen hatte. Er wurde zum Tode verurteilt. Als sie das Urteil hörte, empfand die Poirette eine wahnsinnige Freude. Mitten in die Verhandlung hinein schrie fie: So ists recht I Es lebe der Gerichtshof!" Aber als sie nach Hause zurückgekehrt war. versank sie in Aach  - denken, lind ein Ausdruck von Unruhe und Besorgnis trat auf ihr Gesichr. Soll ich Dir waS sagen, Poiret?" brach sie endlich das Schweigen..Dein Landstreicher ist ein ganz gemeiner Kerl!... Was hat er davon, daß er nicht sagt, wo das Geld ist? Den HalS schneiden sie ihm ja doch ab... Und dann ist das schöne Geld verloren... Solch eine Gemeiiiheit I" Es ist in der Tat eine Geineiiiheit I" pflichtete Poiret ernst bei. Von diesem Tage an erfüllte der Landstreicher ihr ganzes Sein und Denken. Je wütender sie über ihn schimpften, um so inbrünstiger hofften und wünschten sie, daß er sprechen, daß er endlich gestehen möchle, wo sich das Geld der Alten befand. Einer von beiden war stets in der Stadt in der Nähe des Gefängnifles auf der Jagd nach Neuigkeiten. So erfuhren sie die Verwerfung der eingelegten Re- Vision durch den Kasiationshof. Und die Zeit verstrich. Man begann bereits von dem wahr- scheinlichcn Termin der Exekution zu sprechen: der Landstreicher ver- harrte immer noch in Schweifen. In ihrer Angst wantste fich die Poirette an den Staatsanwalt i.iit der Bitte, die Exekution zu ver- schieben. Ein paar Tage früher r�r später, das ist ja Line gro�e Herr­lichkeit? Und der Landstreicher entschließt sich vielleicht loch noch zu sprechen?" Der Beamte wies ihr die Tür. Ganz außer sich ka.n sie nach Hause zurück. Siehst Du, Poiret," erllärte sie ihrem Gatten,»diese Leute von der Justiz haben kein Herz. Wirklich kein Herzl... Sic sind zu böse mit dem armen Menschen umgegangen, und da ist er natürlich eigensinnig geworden I... Wenn sie dagegen ein bißchen Rücksicht auf ihn genommen hätten..." Sic vollendete nicht, aber die ganze Nackit brütete sie über einer Idee. Am nächsten Morgen stand sie schon ganz früh auf und heizte den Bratofen an; dann nahni sie ans der Mehlkiste«in Maß feinsten Weizenmehls, holte frische Eier, brachte aus de», Keller Butter herauf und begann, Kuchenteig zu machen. Sie war schon initten in der Arbeit, als Poiret auf der Schwell« der Küche erschien. Diese ungewohnten Vorbereitungen standen in solch schreiendem Widerspruch zu den sonstigen sparsamen Gepflogenheiten seiner Ehehälfte, daß er vor Erstaunen Mund und Augen aufsperrte. »Morgen!" sagte er. Ohne zu antworten, geschäftig wie eine Ameise, sagte seine Frau: Laufe schnell in den Hühnerstall, Poiret... Schlachte die schwarze... Bringe sie her und rupf« siel" Gewohnt zu gehorchen, schlachtete Poiret die schwarze, brachte sie her und rupfte sie. »Das wird mal ein feiner Fraß werden!" erkühnte er fich schließlich zu bemerken. Sckiweig', PoiretI" entgegnete die Frau streng.»Da» ist für den Landstreicher." Poiret sperrt« von neuem Mund und Augen auf und ließ vor lleberraschung das Huhn auf die Erde fallen. «Für... für den Landstreicher?" wiederholt« er. Jal Er wird wohl nicht viel zu essen bekommen im Gefängnis; da wird ihm das hier umso besser schmecken... Und dann wird er sich auch über die Aufmerksamkeit freuen... Ra und schließlich. wenn er ein wenig Anstand hat, besinnt er fich vielleicht..." Und sagt, wo das Geld ist? Das ist eine famose Jdeel" rief Poiret und klatschte sich begeistert auf den Schenkel. Es ist zwar eine gehörige Ausgabe," seufzte die Frau,aber hier dürfen wir nicht knausern, sonst..." Als der Kuchen gebacken und das Huhn schön knusprig gebraten war, tat die Poirette beides in einen Korb, spannt« das Pferdchen an den Wagen und fuhr zur Stadt. Am Gefängnis angelangt, fragte sie den diensttuenden Beamten: Könnte ich vielleicht den Landstreicher sprechen?" Der Beamte erklärte ihr, daß man den Verurteilten nur mit Erlaubnis des Staatsanwalts sprecheih dürfe. Das hatte die Poirette nicht erwartet. Ganz bestürzt wollte fie sich schon cnt- fernen, als ihr plötzlich ein rettender Gedanke kam. Sie reichte dem Beamten den Korb und sagte: Vielleicht können Sie ihm das geben? Es ist ein Kuchen und ein schönes, zartes Brathuhn... Sie können ihm sagen, daß es von den Poirets aus Francheville ist. Er kennt uns genau." Sie sind die Verwandten der Ermordeten?" Ja. Aber Sie können ihm sagen, daß wir ihm nicht mehv böse sind, hören Sie, absolut nicht mehr böse sind. Und," fügte sie zögernd hinzu,Sie können ihm auch bestellen... wenn er uns vielleicht etwas zu sagen hat loegen... wegen des versteckten Geldes... dann möchte er sich nicht genieren... Wir wohnen immer noch an derselben Stelle..." Als sie sich zwei Tage später� dieses Mal begleitet von Poiret, wieder im Gefängnis einfand, teilte der Beamte ihr mit, daß der Landstreicher Kuchen und Huhn delikat gefunden und beides mit gutem Appetit verspeist hätte. Der brave Kerl!" bemerkte die Poirette gerührt.»Und hat er Ihnen nichts für uns aufgetragen?" Nein, nichts... Ah, doch!" Was denn?" fragten die beiden Gatten gleichzeitig mit klopfenden Herzen. Er meinte, das Huhn sei ein wenig zu scharf gebraten ge- Wesen." Dann eröffnete er ihnen noch daß die Exekution für den nach- sten Morgen angesetzt sei, und beförderte sie ins Freie. Sie waren bestürzt. »Alles umsonst!" stöhnte Poiret. Rein, noch nicht alles verloren," erwiderte seine Frau.Viel- leicht begnadigt ihn der Präsident?... Man kann nicht wissen.. V. Nach der Hinrichtung des Landstreichers kehrten die PoiretS nach Francheville zurück. Schweigend, in Gedanken versunken, wanderten sie die staubige Straß« entlang, die sich zwischen zwei Reihen Obstbäumen bis in die Unendlichkeit auszudehnen schien. Seit dem schrecklichen Schauspiel, dem sie beigewohnt, hatte die Poirette nicht den Mund geöffnet. Poiret, dem das beängstigende Schweigen seiner Gattin der Vorbot« eines nahen Gewitters zu sein schien, marschierte bedächtig hinter ihr und schwieg ebenfalls. Aber beim Betreten des Dorfes, als sie an der Kirchhofsiiiauer entlang gingen, jenseits welcher das Grabkreuz der Tante sichtbar wurde, murmelte er halb unbewußt, an das tragische Ende der Alten denkend: Solch ein schreckliches Unglück!" Da blieb seine Frau plötzlich stehen. m Und daran bist Du allein schuld!" rief sie wütend.Warum hast Du ihn angezeigt, Esel?". Wen? Den Landstreicher?" stammelte Poiret vcrbluftt.»Ja, er... er hat doch Deine Tante ermordet?" Aber sie fuhr unbeirrt fort: Waö ging Dich das an? War es Deine Tante oder meine Tante, he?... Was haben wir davon, daß fie ihm den Hals abgeschnitten haben, dem armen Teufel? Dadurch bekommen wir das schöne Geld doch nicht wieder.... Wenn Du ihn dagegen höflich gebeten hättest.. Wa as?