Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 84.

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Donnerstag. den 30 April.

( Nachdrud verboten.)

Semper der Jüngling.

Ein Bildungsroman von Otto Ernst  . 22. Kapitel.

( Wie Asmus verlor, was er gefunden.) Diesen Abend nicht zu vergessen es sollte Sem armen Sturm aber nicht schwer werden. Wohl erholte seine Mutter sich nach einigen Wochen zusehends; aber dann kam Schlim­meres. Es sollte gerade wieder das Stiftungsfest" der Treue" begangen werden, und Sturm und Semper gedachten durch Adelaide  "," Das Lied an den Abendstern"," Tom der Reimer" und andere Kostbarkeiten die Welt in Erstaunen zu bersetzen, da kam am Morgen des großen Tages der Vater Sturms zu Asmus ins Seminar und bat mit seiner leisen, höflichen Stimme um Entschuldigung für seinen Sohn, der heute nicht kommen könne, weil er einen Blutsturz gehabt habe. Es habe wohl nicht Schlimmes zu bedeuten; aber er müsse natürlich im Bette bleiben.

Asmus nahm an den folgenden Stunden ohne Aufmerk­famkeit teil und eilte sofort nach Schluß des Seminars an das Bett des Freundes. Sein Gesicht war fahler denn je, die Augen groß und feucht. Aber von Krankheit wollte er nichts wissen. Die Eltern erzählten, daß er durchaus am Abend zum Stiftungsfest wolle und beschworen Semper um seinen Beistand. Was Sie sagen, das tut er," meinten sie. Asmus bezweifelte das, behandelte aber dem Kranken gegenüber den Besuch des Festes als etwas selbstverständlich Unmögliches. Da wurde Sturm, der sich anfangs über Sempers Anwesen­heit gefreut hatte, bitter und verbissen; mit einem zürnenden Blick sagte er:" Du bist wie alle andern" und kehrte sich zur Wand. Asmus streichelte ihm leise die Hand und ging.

Am Abend erschien Alfred Sturm auf dem Stiftungsfest,

heiter und humorvoll, und was Asmus auch einwenden mochte, Sturm wollte ihn auf dem Klavier begleiten. Soll vielleicht Morieur dich begleiten?" fragte er mit einem frankhaften Feuer in den Augen. Man mußte ihn gewähren lassen. Aber als die Lieder gesungen waren, war seine Munterfeit wie abgeschnitten; ohne das Mahl und den Tanz abzuwarten, hüllte er sich in seinen Ueberzieher, legte sorgsam und glatt, wie es einem eleganten jungen Kaufmann geziemt, das seidene Tuch um den Hals und ging heim.

Der Erzeß schien ihm nichts geschadet zu haben; nach acht Tagen saß er wieder im Kontor. Aber schon nach vier Wochen streckte ein neuer, heftigerer Anfall ihn nieder.

Ich möchte mich zerfleischen," sagte er zu dem Freunde, der an seinem Bette saß. Ich bin abscheulich gegen meine Eltern und meine Geschwister, und dabei opfern sie sich für mich auf. Das weiß ich ganz genau, und doch kann ich nicht anders. Mich ärgert alles, was ich sehe, und wenn ich allein bin, heul' ich vor Reue wie ein dummer Junge."

1908

,, Na, lieber Freund, wer nicht rauchen darf, ist deshalb noch kein Todeskandidat; bedenk' doch, daß du erst-"

,, Ach, laß nur," machte Sturm und erhob sich. Seine Hoff­nung war erloschen wie ein Licht von einem Windstoß. Auf dem Heimwege fielen nur ein paar nichtssagende Worte. Asmus machte wohl einen Versuch, den Freund wieder zu ermuntern; aber dieser sah ihn nur mit großen ernsten Augen von der Seite an und schwieg. In seiner Verlegenheit und in seinem Kummer tat Asmus das Verkehrteste, was er tun fonnte, er zog die Bigarrentasche und sagte: Willst du eine Bigarre haben?"

Sturm lachte kurz auf. Nein, ich danke, jetzt nicht mehr." Als Asmus ihn nach drei Tagen besuchen wollte, ver­nahm er, daß Alfred Sturm feit gestern" im Hamburger Krankenhause liege, und als Asmus dorthin fam, durfte der Stranke nur ganz wenig und im leisesten Flüstertone sprechen. Wie geht's?" fragte Asmus.

,, Sehr gut, ich darf nur nicht sprechen," flüsterte der Kranke. Und Asmus erzählte von diesem und jenem, wie bernünftig es sei, ins Krankenhaus zu gehen, wo die Pflege natürlich viel umfassender sein könne als zu Hause, und wie sehr man den Freund in der" Treue" vermisse; aber es schien böre und als ob er um einen Entschluß kämpfe. Endlich zog ihm, als ob der Patient nur mit halber Aufmerksamkeit zu er unter der Bettdecke ein Blatt Papier   hervor und hielt es ,, Da es ist natürlich Unsinn aber ich wollt' es dir doch geben- Asmus nahm das Blatt und las: Auch ich erhöbe gern auf leichten Schwingen

dem Freunde hin:

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Den müden Geist zu dichterischem Flug, Und schon seit langem streb' ich ernst genug, Dir, teurer Freund, ein leidlich Lied zu singen

Es war ein Sonett, in dem der Verfasser den Freund mit aller schwärmenden Begeisterung der Jugend pries. " Ich hab'' ne ganze Nacht ' ne ganze Nacht daran gezimmert," bauchte der Kranke mit ironischem Lächeln. Du wirst dar­über lachen...

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Die Wärterin erschien und mahnte mit einem Blck, der feinen Widerspruch duldete, zum Aufbruch. Asmus ergriff die Sand des Freundes und beugte sich über ihn, und sie hatten in diesem Augenblick beide dasselbe Gefühl: der Freund fam mit ihm mit mühsam erhobenem Haupte entgegen, und sie küßten sich auf den Mund.

Das ist unter niederdeutschen Jünglingen etwas Seltenes und Heiliges. Asmus pflegte nicht einmal die Geschwister, nicht einmal seine Eltern zu küssent; er hatte nicht einmal seine Brüder geküßt, als sie nach Amerifa gingen. Die Menschen dieses Himmelstrichs, wenn sie Abschied nehmen, tun es mit einem Händedruck und mit dem Verlangen nach einer Um­armung; aber sie geben diesem Verlangen keinen Ausdruck. nachricht.

Schon am folgenden Tage erhielt Asmus die Todes­

Bei dem Begräbnis ging es ihm wie bisher bei fast allen Begräbnissen; er konnte nicht andächtig und traurig sein. Dieses herkömmliche Bestattungszeremoniell mit seinem zelo. Er rappelte fich abermals heraus und zog nun ans Elb- tischen Pfaffengesicht( Jetzt haben wir dich, du Sünder"), ufer; von der Luft dort hoffte er Genesung. Zu einer weiteren mit seiner tristen Banalität war ihm so unsäglich zuwider, Reise langten die Mittel nicht. Dort hatten die beiden in daß er zu keinem reinen Gedanken an den Freund kommen Ritschers Garten noch einen schönen, sonnigen Nachmittag. konnte. Erst zu Hause dehnte sich wieder das Herz. Er zog Ich hab' in einer Ewigkeit feine Bigarre geraucht," fich in sein Zimmer zurück für die wärmere Jahreszeit sagte Sturm leise vor sich hin, ob ich's mal wieder riskiere?" war er nun doch mit seinen Studien aus der Zigarrenstube Asmus riet ihm ab. Wart' noch' n bißchen, dann kannst in das Wohnzimmer übergefiedelt und ging viele Stunden du rauchen, soviel du willst." lang auf und ab; nur hin und wieder blieb er am Fenster stehen und blickte nach der Richtung, wo sein Freund nun in der Erde lag. Trauriger Wahn, dachte er, auch den toten Menschen noch in die finstere Erde zu ferkern, statt ihn den freien, seligen Lüften zu geben.

Meinst du wirklich, daß ich wieder ganz gesund werden fann?" fragte Sturm schnell, eifrig, mit sehnsüchtig- heiteren Blicken. Das Licht der untergehenden Sonne stand in seinen Augen.

Asmus lachte Taut auf über diesen Zweifel an etwas Selbstverständlichem. Und Sturm lächelte und glaubte dem Freunde alle Versicherungen, die er sonst zurückgewiesen hatte. Und nach einen glüdlichen Schweigen sagte er: Dugib mir doch eine Zigarre."

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Ich hab' leider keine mehr bei mir," log Asmus.

Das ist nicht wahr; ich habe ja gesehen, daß du noch mehrere hast. Daran seh' ich, was du in Wahrheit von meiner Gesundheit hältst."

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Von dem endlosen Wandern erschöpft, fiel er endlich aufs Sofa und wußte nicht, warum er so erschöpft sei. Als er sich erholt hatte, 30 g er die Lampe näher heran, desgleichen Tinte und Papier und begann zu schreiben:

An meinen toten Freund A. S. Auch ich erhöbe gern auf leichten Schwingen Den müden Geist zu dichterischem Flug. Und schon seit langem streb' ich ernst genug, Dir, teurer Freund, ein leiblich Lied zu singen."