Nnterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 101. Dienstag, den 26. Mai. 1903 (Nachdruck verboten.) STZ Semper der Jüngling. Ein Bildungsroman von Otto E r n st. ..Wachtmann" war ein ziemlich unethisches Tanz- und Nachtlokal, und das wollte sich Thölemann nicht bieten lassen. Er wollte sich über Birkenfeld   beschweren. Und es war das beste Zeugnis für diesen Leutnant, daß die Kameraden Thöle- mannen abrieten, weil man die Schimpfreden Birkenfelds nicht tragisch nehmen dürfe, und nicht am wenigsten trat Asmus für den Beleidiger ein. Er liebte solche Menschen, die sich von Temperament und Leidenschaft fortreißen ließen und es im Grunde des Herzens doch gut meinten; er fühlte sich ihnen verwandte Uebrigens überlegte sich Birkenfeld   seine Diagnose noch einmal, bat Thölemann um Entschuldigung, und die Sache war erledigt. Daß Schimpfen und Schimpfen zweierlei ist, das bewies Asmussen Seine Exzellenz der Herr Schießunterofsizier. Asmus hatte durch irgendeinen Zufall keine Exerzierpatronen erhalten und sollte sie sich vom Schießunteroffizier holen. Er suchte den Herren auf, nahm die vorschriftsmäßige Haltung ein und sagte: Darf ich bitten um meine Exerzierpatronen?" Da sah der Herr Schießunteroffizier Asmus Sempern mit einem langen Blick sprachloser Entrüstung an. Endlich aber fand er Worte und sprach den gewichtigen Satz: Mensch, Sie sind doch ebenso dumm wie frech!" Die grenzenlose Dummheit und Frechheit Asmussens lag nämlich darin, daß er annahm, der Herr Schießunter- offizier werde jetzt, außerhalb der Empfangszeit, Lust haben, ihm die Patronen zu geben. Asmus, der über die erfahrene Beschimpfung bis hinter die Ohren errötet war, sah dem Manne scharf in die Augen und sagte nur: Der Herr Leutnant schickt mich." Keineswegs behauptete jetzt der Herr Unteroffizier, daß der Leutnant ebenso dumm wie frech sei: er beeilte sich viel- mehr, Sempern die Patronen zu verabfolgen. Es war der- selbe avancierte Bauernburschc, der einen Schulamtskandidaten darüber belehrt hatte, daß es nichtSerschant", sondern Schcrsant" und nichtPremjs-Leutnant", sondernPremihr- Leutnant" heiße. Als Asmus mit seinen Patronen auf den Kasernenhof zurückkehrte und sich die empfangene Charakteristik wieder- holte, da mußte er laut auflachen über die Komik der Situation. Aber als er der Physiognomie dieses Menschen gegenübergestanden hatte, da war es ihm doch heiß ins Gehirn geschossen, dem Lümmel hinter die Ohren zu schlagen; denn aus diesen kaltfrechen Augen hatte ihn die machttrunkene Brutalität der emporgekommenen Roheit, hatte ihn der Typus des Soldatenschinders angestarrt. Und doch war der Schießunteroffizier noch lieb im Ver- gleich zu dem Assistenzarzt Dr. Rheinland. 40. Kapitel. (Was? hinkt der Kerl auf einem Fuß? Asmus lernt einen dummen und einen klugen Doktor kennen.) Asmus vertrug sich mit seinem Dienste ausgezeichnet; derlangsame Schritt" und die Gewehrgriffe waren ja nicht brennend interessant und mit Rousseau  - oder Kantlektüre nicht zu vergleichen; aber er sagte sich, das Leben kann nicht immer kurzweilig sein, und wenn er eine Arbeit anfaßte, so nmchte er sie so gut wie möglich. Er hatte denn auch die ausdrückliche Anerkennung des Herrn von Birkenfeld   und des magister magistronim Greifenberg gefunden. Und die Marsch- und Felddienstübungen waren nun geradezu ein Bergüngcn und eine Lust. Sie lehrten ihn seine körperliche Kraft und Ausdauer kennen, die er weit unterschätzt hatte. Wenn er sah. daß er es bei voller feldmarschmäßiger Be- lastung im Lausen und Springen hügclaus und hügelab den Längsten und Dicksten gleichtat, ja länger aushielt als mancher Schlagetot denn die Größten sind nicht die Stärksten i dann hob seine Brust ein unaussprechliches Gliicksgefühl, das 1 Gefühl eines Siegers, der sich selbst überwand und seine ganze eigene Welt beherrscht. Oft klopfte ihm wild das Herz, und nicht immer ward es ihm leicht, dies Vorwärtsstllrmen und 'Niederwerfen und Wiederaufspringen und Wiedervorwärts- 'stürmen; aber wie ein Rausch entzückte ihn das Gefühl, seine Kraft bis auf den letzten Rest und aus den verborgensten Quellen hervorzurufen und durch ein bloßesIch will" jede Schwierigkeit zu überwinden. Und zu allem hatte noch dies Kriegsspiel, dies Streifen durch Feld und Heide, dies auf Feldwache liegen und Patrouillengehen seine Schönheit, seinen Zauber, seine Poesie. Aber trotz alledem lahmte er eines Morgens; er hatte es mit dem langsamen Schritt und Parade- marsch so gut gemeint, daß er sich eine Zerrung der Achilles» sehne am linken Fuße zugezogen hatte. Gleichwohl versuchte er regelrecht zu marschieren und den Schmerz zu verbeißen; aber er machte es damit nur schlimmer. Melden Sie sich revierkrank I" sagte Herr v. Birkenfeld  . Im Revier saß der Assistenzarzt Dr. Rheinland. Er würdigte die kranken Partien der Patienten kaum eines Blicks, im übrigen sah er sie überhaupt nicht an. Er kurierte ohne Ansehen der Person. Er drückte kräftig mit dem Finger auf die geschwollene Ferse des Musketiers Semper, und dieser zuckte zusammen. Was fällt Ihnen ein!" schnauzte der Herr Doktor. Asmus wußte noch nicht, daß ein Soldat niemals zuckt. Er wußte freilich auch nicht, wie der Arzt sonst von seinen Schmerzen erfahren sollte, da er weder fragte, noch sich irgend- wie auf eine weitere Untersuchung einließ. Er erklärte Sempern für dienstfähig: denn er gehörte zu jenen Militär- ärzten, die die Krankheiten wegmachen, ehe sie sie erkannt haben. Man macht auf diese Weise einen schneidigen Ein- druck, schreckt die Simulanten ab, erzielt eine gute Gesund- heitsstatistik und reicht weiter mit seinen Kenntnissen. Natürlich hinkte Asmus weiter. Semper, hol' Sie der Deubell Sie hinken ja noch immer!" schrie der Leutnant. Asmus berichtete, wie es ihm ergangen. Treten Sie aus und gehen Sie morgen wieder hin!" entschied Birkenfeld  . Am anderen Morgen erschien Asmus wieder im Revier. Diesmal drückte Herr Rheinland nicht einmal mit dem Finger; er warf einen verächtlichen Blick auf die gemeine Soldaten- ferse und schrieb, daß der Musketier Semper dienstfähig sei. Beim Parademarsch exerzierte der Musketier Semper genau wie ein Musketier Hephästos oder Mephistophelcs. Semper!" brüllte v. Birkenfeld.  Herr Semper, ich befehle Ihnen, daß Sie das Hinken lassen; ich verbiete Ihnen einfach das Hinken, Herrrr!" Die Befehle des Herrn Leutnants waren aber der Achilles  - sehne nicht maßgebend. Musketier Semper!" schrie v. Birkenfeld  . Asmus faßte das Gewehr an und lief hinkend zu seinem Vorgesetzten. Was hat denn der Arzt gesagt?" Er hat mich ohne Untersuchung und ohne eiu Wort zu sprechen, dienstfähig geschrieben." Also geh'n Sie nach Hause, legen Sie sich aufs Sofa und fragen Sie'n studierten Mediziner. Wegtreten!" Das tat Asmus. Derstudierte Mediziner" legte einen Verband an, und in zwei Tagen war die Sehne geheilt. Im übrigen schied er von dieser Zeit mit unvergleichlich freundlicheren Gefühlen, als er sie beim Eintritt empfunden hatte. Freilich, das Leben in der Kaserne hatte er nur sehr flüchtig kennen gelernt und wenn er sich vorstellte: drei Jahre in der schrecklichen Banalität dieser Räume, in der erdrosselnden Prosa diesesinneren Dienstes" verbringen dann lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Aber wenn er gerecht sein wollte, dann mußte er bekennen, daß in seiner Erfahrung die guten und heilsamen Eindrücke überwogen. Nicht wenig trug zu dieser Stimmung ein gehobenes Gesundheitsgefühl bei. Er war immer ein gesunder Mensch gewesen; aber jetzt ward ihm seine Gesundheit förmlich bewußt; er fühlte wie in einem Rausch seine Adern strotzen und seine Muskeln schwellen. Von trüben Serninarzeitcn abgesehen, hatte er auch immer einen gesegneten Appetit bekundet; aber nie hatte er solche Wonnen verzehrender Andacht empfunden, wie nach