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auf das äußerste gefährdet. Namentlich ist der Aufenthalt in den| Rajahs in den Staatsrat berufen werden sollten, daß ein regel­bon der Natur begünstigten Landschaften zu einer wahren Qual geworden.

mäßiges Jahresbudget aufgestellt, das Steuerwesen verbessert und die Bestechlichkeit bestraft werden sollten. Es sollte kurz eine Grundlage für eine Verwaltung geschaffen werden, die den moder­nen Anforderungen eines fulturellen Staates entsprach. Allein das mit großem Lärm in die Welt gesetzte Dokument ist ein beschriebe­nes Papier geblieben und außer einigen negativen Verordnungen ist nichts von dem Inhalte des Defretes in Wirksamkeit getreten. 20 Jahre waren seitdem vergangen und es war kein neuer Schritt zur Modernisierung des türkischen Reiches gewagt. Da erregt hatte. Es war Midhat Pascha  , der Führer der jungtürki­schen Reformpartei, der schon frühzeitig in den Staatsdienst ge treten und eine glänzende Laufbahn hinter sich hatte. Als er 1876 wieder Mitglied des Kabinetts wurde, nahm er den aktivsten An­teil an der Bewegung, die den Sturz des Sultans Abdul Aziz  herbeiführte, und ward schließlich am 19. Dezember 1876 von Abdul Hamid   zum Großwefir erhoben.

So wirken mancherlei Umstände zusammen, die das Reisen, das ein Bildungsmittel ersten Ranges sein könnte, zu einem finn­Losen, tulturzerseßenden Sport machen. Das sollte uns Anlaß zum Denken geben. Welchen Sinn hat es, wenn Menschen zum Beit­bertreib im Auto durch die Landschaften jagen, von einer findischen Freude über den letzten Rekord erfüllt, wenn Dampfschiffe mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet werden, damit eine bunt zusammengewürfelte Masse ihre luxuriösen Lebensgewohnheiten kam ein Mann ans Ruder, der schon längst die Aufmerksamkeit auf der Reise fortsetzen kann, wenn die Gebirge durch Bahnen, Schlaf- und Abfütterungsanstalten dem Fremdenverkehr erschlossen werden, wenn die Pyramiden Aegyptens   und die Ruinen Pompejis als Sehenswürdigkeiten" auffrisiert werden, um von einer kultur­Losen, aber zahlungsfähigen Masse angestaunt zu werden! Neun­undneunzig von hundert Philistern haben, wenn man ihren Bildungsgrad als Maßstab anlegt, überhaupt nicht die Berech­tigung zum Reisen; die Reise ist ihnen oft selbst eine Last, aber sie Dieser Mann von seltener Begabung und Tatkraft, der sich reisen, um dabei zu sein, um die Mode mitzumachen. Sie kommen schon frühzeitig in den Dienst der reformatorischen Bestrebungen genau so dumm von der Reise zurück, wie sie ausgezogen sind; gestellt hatte, brachte es zustande, nur wenige Tage nach seinem einzelne vielleicht etwas blasierter. Ein jeder will möglichst viel neuen Amtsantritt unter Abdul Hamid   eine türkische Verfassung fehen; wie in einem Kinematographen ziehen die Bilder an dem zu proflamieren. Mitte 1876 hatte er den ersten Entwurf Reisephilister vorüber. Es kommt aber wahrlich nicht darauf dem damaligen Staatsrat unterbreitet. Erst am 19. Juli an, daß man auf einer Reise vieles sieht, sondern es kommt war er im Prinzip anerkannt worden. Allein eine öffent­mehr auf die Art des Sehens an und die Gründlichkeit der Be- liche Bewegung, die in Konstantinopel   erhebliche Dimen­trachtung. Dazu läßt man sich freilich nicht mehr die Zeit, denn fionen anzunehmen drohte, das Unerhörte, daß man wieder auf die Zeit ist zu einem Wertäquivalent( Time is money!) geworden, ben Gedanken verfallen war, Mohammedaner und Christen gleich­mit dem man wirtschaften muß. Das Hasten und Jagen, das dem zustellen, hatte unter den Alttürken, namentlich unter den Sophtas gesamten öffentlichen und privaten Leben seinen Stempel auf-( Priesterzöglingen), einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen. drückt, das dem Menschen nicht mehr das Ausleben seiner Per- Abdul Hamid war nach seiner Thronbesteigung so flug gewesen, sönlichkeit gestattet, läßt ihn auch auf der Reise nicht mehr zum durch ein Dekret umfassende Reformen zu verkünden; als aber am ruhigen Genießen, zum Sammeln von Eindrücken, worin allein 19. Dezember Midhat Pascha   zum Großvezier erhoben wurde, war der Wert der Reise liegt, kommen. es klar, daß die fortschrittliche Partei die Oberhand erhalten würde. In Konstantinopel   tagte gerade eine europäische Konferenz. Diefer Augenblick erschien Midhat als der günstigste, nun durch die Proklamierung eines Aftes von durchgreifender Tragweite

Aus der Gefchichte der türkischen einer europäischen   Einmischung vorzubeugen.

Verfaffung.

So erfolgte denn am 11./23. Dezember 1876( 7. Bithidsche 1293 türkischer Zeitrechnung) unter dröhnenden Kanonenschüssen die feierliche öffentliche Verkündigung der Konstitution, die nach europäischen   Mustern nicht gerade am glücklichsten ausgearbeitet In dem geschichtlichen Leben der osmanischen   Völker ist es war. Sie verkündete in oft strenger Anlehnung an den Wortlaut wiederholt vorgekommen, daß innere Berrüttungen auch die sonst des Hatti- Humajan vom Jahre 1856, die Integrität des türkischen für politische Geschehnisse ziemlich teilnahmslosen, ja, fast apathi- Reiches, als dessen Oberhaupt der Sultan unverantwortlich und schen Orientalen auch zu energischer Kraftenfaltung aufrüttelten. unverletzlich sei. Abermals wurde die persönliche Freiheit ver­Das zielbewußte, sichere Eingreifen der reformatorischen türki- fündet, der slam zur Staatsreligion erhoben, den übrigen Be­schen Bartei in den Organismus des morichen Verwaltungs- fenntniffen volle Freiheit gewährt. Türken und Christen wurde systems, das wir in diesen Tagen erlebt haben, hat in der geschicht die bürgerliche Rechtsgleichheit, mit gleichen Rechten und gleichen lichen Vergangenheit freilich nicht ihres gleichen. Was in den Tagen Pflichten, verkündet. Dazu Freiheit der Presse. Alljährlich am bom 23. und 24. Juli in einer die ganze Welt in Erstaunen sehen- 1. November sollte ein Parlament zu viermonatlicher Session den Aktion geschehen ist, trägt den Stempel größter Entschlossenheit. zusammentreten. Die Abgeordneten, von welchen je einer auf Und diese war dem Bewußtsein entsprungen, daß mit dem Despo- hunderttausend Einwohner entfiel, sollten für vier Jahre aus tismus, der von den Tagen von Byzanz bis auf heute nichts von geheimen Wahlen hervorgehen. In den übrigen Bestimmungen feinem Drucke, von seiner Zwangsherrschaft eingebüßt hatte, ge- wurde schließlich die Frage des Jahresbudgets und des Rechnungs­brochen werden mußte. In jahrelanger Arbeit war ein Werk der Hofes geregelt, die Unabsehbarkeit der Richter, die Verwaltung der Modernisierung des türkischen Staates vorbereitet worden, das Provinzen, der Schulzwang. nun reiche Früchte tragen soll. Fast möchte man der nächsten Zu­Tunft steptisch gegenüberstehen, denn an Zugeständnissen, die das reformatorische Werk an dem alten türkischen Rumpf unter­nehmen wollte, hat es wahrlich nicht gefehlt. Und immer wieder brach der reaktionäre Gegenstrom sich fiegreich seine Bahn.

So war es denn geschehen, daß trok Koran   und Harem der abendländischen Zivilisation die Tore geöffnet wurden. Nur furz war die geteilte Freude. Wohl trat am 19. März 1877 das erste Parlament zusammen. Es wurde eine Thronrede des abwesenden Sultans verlesen; man fam über unwichtige Vorbereitungsfibungen Die ersten reformatorischen Eingriffe, die dem krankhaften nicht hinweg. Schon am 19. Februar 1878 war ihm ein stilles Verwaltungssystem neues Leben verleihen sollten, gehen auf das Ende beschieden worden. Midhat Pascha  , der schon am 5. Februar Jahr 1855 zurüd. Sie waren durch den Druck von Frankreich  , 1877 einer Balastintrige zum Opfer gefallen und verbannt war, England und Desterreich- Ungarn   entstanden, und wurden in dem wurde von Edhem Pascha ersetzt, einem Manne der alttürkischen fogenannten Haiti- Humajun vom 18. Februar 1856 niedergelegt. Partei, einem Gegner aller ausländischen Einflüsse, aller Reform­Hiernach gewährleistete der Sultan Sicherheit für Person Eigen- bestrebungen. Seine erste Tat war die Auflösung des Parlaments; tum und Ehre; die weltlichen Regierungsbefugnisse der Priester mit ihr fiel auch die Konstitution und man schwenkte wieder in wurden abgeschafft; die Patriarchen und hohen Geistlichen blieben das alte Fahrwasser ein. hinfort ausschließlich Beamte der Kirche, im Solde des Staates. Inzwischen sind 30 Jahre verflossen, eine Zeit reich an Für die Rajahs( Nichtgläubige) follte ein Rat geschaffen werden, Prüfungen und Entfagungen für das türkische Volt. Die vielen der aus einer Anzahl aus ihrer Mitte gewählte Geistliche und Schicksalsschläge, von welchen das Reich betroffen war, die nie Laien bestehen und die weltlichen Geschäfte dieser Untertanen be- enden wollenden Unruhen als unmittelbare Folge der Berrüttung forgen sollte. Die administrative Bevorzugung der einen Nation des gesamten Verwaltungskörpers, endlich die fremden Ein­vor der anderen sollte fünftig unzulässig sein; namentlich wurden mischungen, all die Umstände, die sie verketteten, um das ganze dies bie von den Mohammedanern üblichen Benennungen der anderen Elend im Lande auf das drastischste vor Augen zu führen Religionsgemeinschaften( Giaur, Kiafir für Christ, Tschifut für alles hai das Selbstbewußtsein des Mohammedaners geweckt, der Jude) aufs strengste berpönt. Unbeschränkte Gewissensfreiheit, wieder einmal dargetan hat, wie bildungsfähig, wie zugänglich er freier Religionswechsel wurden verkündet, ebenso die staatsbürger- für abendländische Kultur ist. Am 10./23. Juli 1908 ist auf die liche Gleichheit der Christen und Mohammedaner. Die Zulassung Verfassung von 1876 zurüdgegriffen worden. Die entscheidende auch der nichtgläubigen Untertanen zu den Zivilämtern, wie auch Wendung, auf die bei diesem überraschenden Schlage immer wieder ihre Aufnahme in den Staatslehranstalten, bildeten ein weiteres hingewiesen werden muß, brachte die aktive Beteiligung des Bugeständnis des Detretes. Bezüglich der Gerichte wurde Bildung Militärs, das sich an die Spitze der Bewegung gestellt hat, und von gemischten Tribunalen verfügt; die Strafanstalten sollten ver- dem der Sieg über das Alttürkentum zuzuschreiben ist. bessert, überall gute Polizei eingeführt werden. Die Teilnahme der Christen an dem Militärdienst, ein wunder Punkt in diesen problematischen Bestimmungen, wurde durch besondere Verordnung geregelt. Ausländer durften fortan in der Türkei   Grund­stücke erwerben. Endlich wurde zugesagt, daß Delegierte der!

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Verantw. Redakteur: Georg Davidsohu, Berlin.- Drud u. Verlag: Vorwärts Buchdr. u. Verlagsanstalt Paul Singer& Co., Berlin   SW.