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Knochen uns Muskeln wert waren!... Und hier, wo mehr rohe Kraft als Wiz vorhanden war, hier kam auch seine Intelligenz zur Geltung. Diese Leute, deren Verstand eben auch wie mit Zentnern hantelte, hörten ihm gern zu, wenn er wie ein Bolfstribun von den Rechten seiner Klasse sprach, die der Reichtum, das Kapital mit seiner bajonettstarrenden Macht ihr vorenthielt.... Manchmal lachten diese stier­nackigen Fleischer und Brauer über ihn, wenn er sich so ereiferte, aber er gefiel ihnen doch, dieser unruhige Kopf, Ser sich ohne jene lächerliche Messinguhr, welche ihn ins Ge­fängnis brachte, am Ende noch zu etwas ganz Besonderem entwickelt hätte.

In den Klub wäre Georg Hellwig am liebsten gleich heute noch gegangen. Aber gerade dort war er einer guten Auf­nahme am wenigsten sicher, er wagte es nicht, die Sigung zu besuchen, ohne vorher die Ansicht der Klubbrüder über das Malheur, was ihm passiert war, auf Umwegen erfahren zu haben...

Allmählich war er in die Müllerstraße gekommen, die ewig laut ist vom Gerassel der Abfuhrwagen und Arbeits­fuhrwerke, die den Abfall der Großstadt auf die Felder hin­ausfahren.

Den Knopfdrücker hungerte. Er hatte in zwei Monaten fein richtiges Stück Fleisch mehr gesehen und er, dem Bier und Schnaps ziemlich gleichgültig waren, spürte jenen heftigen Reiz, der sonst nur dem Gewohnheitstrinker in die Kneipe treibt.

Ein uraltes Fleines Häuschen mit einem berödeten Vor­garten, eine richtige Tabagie aus alter Zeit, loďte mit dem schmutzigen, verwaschenen Schild über der Tür den jungen Menschen, der fröstelnd einen warmen Schlupfwinkel suchte. Aber sowie er die mit einer unsauberen Gardine ver­hangene Tür geöffnet hatte, wäre er am liebsten rasch weiter. gegangen. Denn das erste, worauf sein Auge fiel, war ein Tisch, an dem die drei, die ihn vorhin angeredet hatten, mit noch mehreren anderen, ebenso wenig Vertrauen erweckenden Männern saßen.

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Der kleinste von den dreien er wurde Prizel" ge­tufen hatte ihn sofort bemerkt und schrie:

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Na, da is ja wieder unsa Freind!... Mensch, loofst Du aber langsam!... Du hast woll de Mauke in de Beene,

wat?"

( Fortiebung folgt.)

John Ruskin.  ")

( Zum 10. Todestag am 20. Januar 1910.) Rustin ist ein Sonderling gewesen, von seinen Schrullen erzählt man sich Wunderdinge. Aber ich glaube, im Angesicht diefer ehr würdigen Greifengestalt mit dem langen weißen Bart, mußten selbst die blutigsten Spötter verstummen. Gewiß, Rustins funstreforma­torische Werke sind reich an Widersprüchen, Wiederholungen, ver­fehlten Urteilen, Absurditäten, so daß der Maler Whistler   eine ganze Blütenlese davon zusammenstellen konnte, aber im Grunde erfüllt feine Lehre eine Kulturmission.

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Sie ftellt die Menschen furzerhand vor die Wahl: entweder fort zufahren, das Land mit Fabriken, Maschinen und Mietstasernen zu bebauen, Arbeitsillaben zu erziehen, politische und religiöse Heuchelei, der Bebauung von Städten, der Einrichtung von Häusern, der Aus­Geldgier und Unnatur zu züchten, Menschentum und Schönheit in ftattung von Kleidern und Gebrauchsgegenständen auszurotten- oder diese Schönheit zu erhalten, Andacht, Liebe und Freude von neuem zu erweden.

Rustin selbst ging mit achtunggebietendem Beispiel voran; er zog es vor, mit der kalesche zu reisen anstatt mit der Eisenbahn, er ließ seine Schriften lieber mit der Hand druden und auf Schub­farren befördern. Ein moderner Rousseau; ein Evangelift der Arbeit wie Millet; unserem Böcklin, der diefelben Theorien pflegte, ber­gleichbar, wenn er bloß die fröhliche Hoffnung dieses legten größten Malers beseffen hätte. So aber näherte er sich mehr Tolstoi  , dem England daran sei, dem Schidial von Tyrus  , Karthago  , Benedig au Mann mit dem Kulturfaßzenjammer. Die Befürchtung, daß sein verfallen, wird ihm zu einer entmutigenden Gewißheit. So ist es doch etwas Ergreifendes um diesen alten, eifernden Prediger in der Wüste, der innerlich weint wie ein verlassenes Kind!

Aber er verzweifelt deshalb nicht. Der Himmel der Ewigkeit, der keine Arbeit unerkannt läßt, breitet sich über seine Werke. Er ist Mystiker; weniger Theoretiker als Dichter; weniger Wissenschaftler als leidenschaftlicher Träumer. Seine Sprache ist eine feierlich ge­hobene, farbige, blütenüberfüllte; sie wäre geeignet, alle seine Lehren zu überdauern. Man könnte sie etwa mit der Sprache Jean icheidet; beffer noch mit der Stefan Georges  , der Rustins eben­Pauls vergleichen, wenn man das Schrullenhafte, Satirische aus­bürtiger Uebersezer geworden ist.

Daß der alte Feuerfopf troß vieler Gegner eine solche Beachtung gefunden hat, bewirkt seine immer wieder begeisternde und für Eng­land besondere Art der Kunstauffassung: Die Aesthetik mit der Ethik zu vereinen." Die Kunst eines Landes," sagt er in feinen Orforder Borlesungen, die er in den Jahren 1870-1875 bielt, ist die Summe seiner gesellschaftlichen und politischen Tugenden". Die Kunst ist nicht um ihrer selbst willen da, sie hat höheren Erkenntnis oder zum Schmuck des Lebens zu erkennen gibt; nur dann Dafeinsberechtigung, wenn fie fich als ein Mittel zur innere Wahrheit und Zwedmäßigkeit bedeuten ihre Hauptbedingungen. Die Kunst ist eine religiöse und nationale Angelegenheit; fie trägt bei zur Gesundheit, Kraft und Freude der Seele". Deshalb darf sie auch nur von einem edlen und reinen Menschen jedesmal geboren

werden.

Man lernt nicht Kunstgeschichte bei Ruskin  , sondern Kunst­empfinden: hier aber hat uns noch niemand hinreißender gepredigt! Er ist Romantiker durch und durch, und doch wieder als Engländer in einem gewissen Sinne fühl und realistisch. Er ist ein Mensch, dem Sehen alles bedeutet. Mit durstigen Bliden hat er die Einzel­beiten der Natur in sich aufgenommen; die Form jeder Blume, die Rundung jedes Steines liebevoll umfaßt; er tann sich berauschen an den Spielen der Luft, des Lichts und des Schattens, und weiß fie doch eraft zu zerlegen und zu erklären. Wenn er Gestaltungs­gaben besessen hätte er wäre ein ganz großer Künstler ge worden.

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Angeregt hat er indes Maler und Dichter genug: die präraffaelitsche Schule verdankt ihm ein gut Teil ihres Lebens. Der Kampf wider die angebliche Unnatur der Renaissance, die Schilderhebung der frühitalienischen Maler Cimabue   und Giotto  , die Verherrlichung der Gotik- das alles find allgemein zugestandene Verdienste Rustins.

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die

In diesem Sinne tritt Rustin als Herold des Landschaftsmalers William Turner   auf. Die Bewunderung für diesen Meister der Atmosphäre, der allerdings eine neue Epoche in der Landschafts­*) John Ruskin  ( geboren am 8. Februar 1819 zu London  , malerei berheißt: die Darstellung des Menschen im Kampfe mit Schreibt doch Rustin 1870-1884 Professor in Orford, gestorben am 20. Januar 1900 auf den Elementen, ist sicherlich übertrieben. feinem Landfit in Lancashire  ) hat als Kunstkritiker und Sozial- einmal felbst: Mir gehorchen heißt Turner lieben und die Re­reformator in England eine Wirkiamkeit entfaltet und Einflüsse aus- naissance haffen". Aber wer will sich der jubelnden Wucht dieser geübt, wie sie auf gleichem Gebiete in Deutschland   unerhört find. Dithyramben entziehen, in langen Seelentämpfen aus Ein geistesverwandter Carlyles, hat er in der Blütezeit des englischen gereift und mit der immer zerstörenden Bucht des Erlebten hervor­Manchestertums die fünstlerische und sittliche Entartung der gebrochen sind? Ein Urfern von Wahrheit ist in diesen Offenbarungen fapitalistischen Kultur mit der Unerbittlichkeit eines alttestamentlichen jedesmal enthalten, und im Zuge der Steigerung wird er sich immer Strafpredigers geschildert, mit glühender Begeisterung den von neuem enthüllen, wird er uns endlich zu überzeugen wissen.. Adel der schöpferischen Handarbeit gefeiert und in zahlreichen Schriften als eine gewaltige Einheit will Rustins Wert, will Rustins Per­das Verständnis für wahre und echte Kunst, die er im Mittelalter, fönlichkeit erfaßt sein; Details find falsch beleuchtet, lebensunfähig. borzüglich in der Gotik sah, eröffnet. Rustin hat alle die kulturellen Deshalb ist es verkehrt, Blütenlesen, Sentenzen und Apho­Schattenseiten und Greuel des modernen Kapitalismus   empfunden rismen aus diesen Schazkammern unter die Menge zu tragen. und ihre Gründe bloßgelegt, aber als wirtschaftlicher Reaktionär nicht Sie würden nur das Gesamtwert zerstören, wie es etwa bei Jean den Weg in die Zukunft weisen können. Er hat schließlich den Weg Paul geschehen und wie es bei Nietzsche   unmöglich wäre. der Verbitterung und Verzweiflung gehen müssen. Aber alle die frucht­baren Gedanken seiner Kritik hat der große Künstler und leiden­fchaftliche Sozialist, der Erneuerer des englischen Kunsthandwerkes, William Morris  , aufgenommen und sie mit den Impulsen des schaffenden Mannes und des von den Hoffnungen auf die soziale Revolution erfüllten Stämpfers zu Ende gedacht und soweit es die Umstände gestatteten, in die Tat umgesetzt. Das schönste Denkmal hat Morris jeinen von Ruskin   angeregten Kunsthoffnungen in seiner Utopie unde von irgendwo" gejezt. Rustins sehr zahlreiche Schriften find in Auswahl bei E. Diederichs in Jena   und bei Heiß in Straßburg   erschienen. Sein Leben und sein Werk hat Charlotte Broicher in zwei Bänden( gleichfalls im Berlage von Diederichs) dargestellt. Die Red.

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Der große soziale Ausblick am Schlusse, dessen Lichtstrahlen alles Borangegangene zu verändern scheinen, muß als das wefent lichste der Rustin- Betrachtung bezeichnet werden. Er allein verschafft seiner Erscheinung Ewigkeitswert. Nur eine Reformation der ge­famten sozialen Zustände ermöglicht eine neue englische   Kunst. So zieht Ruskin   gegen die moderne Maschinenkultur zu Felde; und so wird er zum Feinde des Kapitalismus, der immer neue Maschinen in Betrieb jetzt, der Tausende von Arbeitern alljährlich auf dem Gewissen hat:

Macht eure Mahlzeiten einfach, bis die der Armen ausreichend werden, oder ihr seid teine Christen. Ihr, die ihr so schöne Ge­wänder tragt, legt einfache Blusen und Schürzen an, bis die Armen anständig un) gefällig gekleidet sind, oder ihr seid feine chriftlichen