Nttterhalwngsblatt des vorwärts Nr. 202. Sonnabend, den 15. Oktober. 1910 (Rllthdruck tettoten.) 723 Der Entgleiste. Bon Wilhelm Holzamer  . -Sie könnten es machen, daß ich die Stelle bekäme?" Ganz sicher? wer kann das sagen I aber ich glaube, ich könnte es machen. Aber Sie werden Arzt sein wollen und Sie sind ja auch Arzt. Entschuldigen Sie!" Tun Sie alles, Lieber, daß ich die Stelle erhalte! Ich will gerade nicht Arzt sein. Es ist mir ungeheuer wichtig, daß ich es nicht bin. Und daß ich nicht als solcher gelte, wenn ich die Stelle erhalte. Sagen Sie, daß ich durch Familienunglück von dem Examen abstehen mußte. Daß ich aber Uebung und Erfahrung habe, durch ähnliche Stel- lungen, und bringen Sie eine Distanz, eine Diskretion zu meiner Vergangenheit in die Sache, eine Sensation, die interessant macht, aber Entfernung hält. Unbestimmtheit, die gewisse Fragen nicht stellt, gewisse Dinge nicht berührt." Gut!" sagte der Apotheker lächelnd,das ist keine Schwierigkeit. Sie würden wirklich die Stelle annehmen?" fragte er noch einmal ungläubig. Gewiß würde ich. Gewiß, gewiß!" betonte Philipp eifrig. Sie wären untergeordnet." Das tut nichts." Es ist nicht leicht zu ertragen." Wenn es leicht wäre, würde es mich nicht reizen." Ueberlegen Sie!" Ans wie lange müßte ich mich binden?" Auf ein Jahr mindestens." Machen Sie es, wenn es Ihnen möglich ist. Kann es nicht als Oberwärter sein, nehme ich auch als W ä r t e r an. Tun Sie, was Sie können!" Man sucht gerade jemand, der zu der freieren Behand- lungsmethode durch geistige Beberrschung und KemAnisse sich besonders eignete. Es trifft sich vortrefflich und Dok­tor Lafor�t müßte dumm sein, wenn er nicht zugriffe. Die Gelegenheit bietet sich ihm nicht oft. Er wird zugreifen. Sie dürfen nicht vergessen, er hat auch seine Feinde und je besser sein Personal ist, um so besser können seine Erfolge fein. Und die Erfolge entscheiden, nicht die Begründungen. Sie wissen das selbst." Philipp ging. Schwierigkeiten Unterordnungen Arzt vor ihm tanzte die ganze Welt. Er griff nach etwas, das ihm von einer ungeheuren Bedeutung und Wichtigkeit schien, obgleich er sich nicht ganz klar wurde, worin diese Bedeutung liegen könnte. Er sah einen Wink des Schicksals darin, er hörte seinen Ruf. Die Höhe des Montmartre lag ganz in Licht. Sucre- Coeur strahlte. Rings um Paris   hingen feine silbergraue Schleier, die die Sonne wob. Das Licht prallte an die Mauern der Häuser, aber in ihrem Schatten war es kühl. Daran merkte man doch den September, der August weiter- spielen wollte. Draußen hinter dem Mvnt-Val6rien zog schwarz ein Gewitter auf. Die Zypressen im alten Friedhof des Montmartre, nahe bei der Ruc des Saules. spürten es schon. Philipp blieb stehen und lauschte auf ihr Rauschen. Es war ein so eigener Ton in ihm. Waren es Grüße, die fern woher kamen, waren es Grüße, die fern wohin flogen? Phi- kipp lehnte sich an die hohe Mauer. Nun verstand er die Sprache der Zypressen. Sie grüßten zu ihren Schwestern in ihrer südlichen Heimat, sie grüßten nach Italien  . Und er grüßte mit ihnen. Er grüßte seine Schwester, die er noch da unten im Lande der Schönheit wähnte. Er grüßte beweg- ten Herzens und offenen, frohen Sinnes und er grüßte dankbar und stolz. Wer er rief sie nickt. Nein, es fiel ihm noch nicht ein, sie zu rufen. Es bedurfte noch der Zeit und des Ringens. Keine klingende leere Schelle sollte sein Ruf für sie sein, gestimmt nach den Tönen der vielen. Sein Ruf sollte wie eine Fackel sein, deren Flammen im Winde brausen, rmd sollte einen ganzen Menschen, ein ganzes Leben, einen ganzen Wert und einen unendlichen Sieg bedeuten! Oder er würde niemals diesen Ruf tun. Er war zu stolz dazu, und er schätzte sie zu hoch ein dazu. Denn die Liebe ist nicht mxfl ein Verlangen, sie muß auch ein Verzichten sein können und sie hat kein Recht, wenn sie kein Selbstgefühl ist. Emilie fiel ihm ein. Seine Liebe war nie ein Selbst- gefühl gewesen. Das war das schwerste, was er sich zu er» ringen Hatto. Hier saß seine Halbheit, seine Schwäche. Hie> saß der Stich, den ihm einst Emilie beigebracht hatte. Im Augenblick hatte er wieder weh getan. Und hier saß auch der Grund für das Schicksal einer stillen Frau, an deren Leid er trug hier saß der Gnmd, warum er an ihrem Leid zu tragen hatte. Ein Blitz zuckte. Ein Donner brach los. Philipp erhob sich aus seiner Bedrücktheit, in die ihn die Vergangenheit gezwungen hatte. Die Zupressen rauschten stärker, der Regen schlug auf. Philipp grüßte hinab gen Süden, gerade und aufrecht. Er reckte sich ein wenig und hielt dem niederprasselnden Regen frei das Antlitz hin. Wir wollen gerade und aufrechte, wir wollen klare und offene Menschen sein, wenn wir je zusammen sein sollten, jedes in ganzer Geltung für sich und mir einer erhöhten Gel- tung zusammen!" Dann ging er. Die Zypressen rauschten, und es war eine gute Bedeutung, die er aus ihrem Rauschen noch lange in der Seele behielt. 18. Der Doktor Laforöt, Chefarzt in Sainte-Anne, war ein eigentümlicher Herr. Er war sehr eitel und liebte seinen Beruf, er spielte oberflächlich mit dem Worte, er hatte die ganze Literatur aus dergalanten Zeit" gelesen und drang mit einem Blick, mit einer Frage tief in die Seelen ein. In seinem Sprechzimmer hatte er einen großen Spiegel, in dem er sich beständig besah, ohne dabei den Patienten nur einen Augenblick aus dem Gesichte zu verlieren. Er hatte eine un- endliche Geduld im Zuhören, weil er eine unendliche Aus- dauer im Beobachten auch der kleinsten Kleinigkeiten hatte. Und er zog beständig seine Schlüsse. Darin war er Meister. Und seine ganze ärztliche Kunst bestand nur darin, seine minutiösen Beobachtungen zu einer Schlußfolgerung zu ver- einen. Er war ein außergewöhnlicher Menschenkenner, denn er kannte sich in seinen kleinsten Schwächen. Die neuere Literatur liebte er größtenteils nicht. Er fand sie unpsycho- logisch, wie er sich ausdrückte:aus Psychologie". Anatole France   interessierte ihn, weil er das Skeptische mit dem Epi- kuräischen zu vereinigen wußte und kein oberflächlicher Ironiker dabei wurde. Er nannte ihn:den letzten Geist der Vergangenheit, der die moderne Welt, die er verachtet, liebt", Und wenn er sich ein wenig hinreißen ließ, nannte er ihn den letzten Einsamen, der nicht Ibsen   unterlegen ist, sondern ein Grieche oder ein Römer, wenn nicht gar ein Bobylonier ge» blieben ist". Und wenn er sich dann auf sich selbst besann, fügte er hinzu:Auf jeden Fall ist er prachtvoll gefährlich. Denn er hat Ruhe. Er neigt den Kopf ein wenig und macht eine unbeschreiblich liebenswürdige Handbewegung und spricht die vergiftetsten Gedanken aus und sagt die vergiftendsten Dinge." Hier ahmte er entzückend die Sprechweise von Anatole France   nach. Die Reden von Jean Jaures   las er alle laut. Er nannte ihnden bedeutendsten europäischen   Redner". Nur seinen Sozialismus verachtete er. Doktor LaforSt war Aristokrat. Einer seiner Vorfahren, der Marquis de la ForSt hatte seinen Kopf unter die Guillotine beugen müssen, als, wie der Doktor sich ausdrückte,die Welt glaubte, einen Sprung zu tun, und sich nur um sich selbst drehte". Im übrigen wollte er der Jrrenbehandlung neue Bahnen eröffnen. Philipp stand vor ihm. Sie waren Kran'enwärter?" Ja. in Deutschland,  " antwortete Philipp. Sie kennen den Professor Kraepelin  ?" Philipp wollte es entfahren:Ich kenne ihn persönlich," aber er enthielt sich. Ich habe von ihm gehört," sagte ex,