Nr. 169.- 1916.Unterhaltungsblatt öes vorwärtsFreitag, 21. Juli.MiMaröäre-�Wohltäter öerNenfihheit�Bon Heinrich Cunow.I.Das grohe Kapital kommt überall blut- und ichmutztriesend aufdie Welt. Das gitl schon von der Entstehung des großen Geld-kapitalS am Ausgang deS MütelalterS, dem Ausstieg der Medici,FreScobaldi, Guallerottt, Strozzi. Grimaldi, Kugger, Welser,Tucdcr usw. Mochte auch der Grundstock ihrer Vermögensbildungdurch den einfachen Warenhandel gelegt sein, die weitere Reichtums'-anhchusung erfolgte zumeist durch wucherische Geldleihgeschäfte. Aus-rüjkung von Raub- und Kriegszügen, Lieferung politischer Be-stechungsgelder gegen Verpfändung staatlicher Bergwerke, Gefälle undPfründen sowie durch Erschleichung von allerlei Handelsvorrechten,Münzgerechtsamen usw.Doch der Schmutz, der uns in der Entstehungsgeschichte dergroßen europäischen Geldkapitalien entgegenstarrt, wird weit über-troffen von der Korruption und zugleich widerlichen moralischenHeuchelei, die Schritt auf Schritt das Anwachsen der großen kapita-ltstischen Vermögen in Amerika begleiten; denn in Amerika vollzogftch die Kapitalsentwicklung auf Neuland und Freiland— auf einemunangebrochenen, neuerfchloffenen, mit großen Bodenreichtümernousgestatteten Riesengebiet ohne gefestigte, altüberlieferte Lebens-Verhältnisse und ohne hemmende Volks- und Standestraditionen.ES ist daher ein Verdienst des S. Kischerschen Verlages inBerlin, daß er das vor sechs Jahren in Chicago erschienene zwei-bändige Werk„Hisdor� of the great American Fortun es"<Geschichte der großen amerikanischen Vermögen) desamcrkanischen Sozialisten Gustavus Myers dem deutschen Lese-Publikum in einer guten, lesbaren Uebersetzung darbietet, zu derMax Schippel eine in die Wirtschaftsgeschichte der Vereinigten Staatensowie die Methode und Tendenz des Werkes trefflich einführende Vorredegeschrieben hat.�j Dazu gibt die deutsche Ausgabe nicht nur eine ein«fache Uebersetzung; einzelne Teile haben vielmehr eine Fortführungbis aus die neueste Zeit erfahren und zwei Abschnitte über das Ver-mögen Carnegies und über das amerikanische Proletariat find neubinzugelommen. Andererseits dürften zwar einzelne Gelehrte undSchriftsteller darin einen Nachteil sehen, daß in der deutschen Aus-gäbe die mannigfachen Hinweise auf amerikanische Dokumente,LtcgieruiigSkommissionsberichte, Fachschriften usw. fehlen, da dieserMangel sie zwingt, bei Ouellennachsorschungen die englischeAusgabe mit heranzuziehen; für den großen Leser-kreis hat diese Weglassung aber um so weniger Be-deutung, als doch die meisten der von MyerS genannten Akten«stücke und Schriften selbst in den größeren Bibliotheken Deutschlandskaum zu haben find.Die ersten großen Vermögen in den Vereinigten Staatenstammten aus Landbesitz und Handelsgewinn, gewöhnlich aus beidenzusammen. Sowohl das im englischen Besitz befindliche VirginiaalS die nördlichen holländischen Besitzungen, Neu-Riederland genannt,»vurden von privilegierten Gesellschaften befiedelt, deren Mitgliedersich teilweise großer Landstrecken zu bemächtigen wußten. Bald ent-standen auf dem gewonnenen Gebiet ausgedehnte Pflanzungen—solche von 40 000 bis 60 000 Morgen waren nichts Ungewöhnliches—auf denen vor allem der Anbau von Tabak, damals derwichtigste Handelsartikel, betrieben wurde. Was jedoch störte,war der Mangel an Arbeitskräften. Diesem Notstand wurdezum Teil im englisch-amerikanischen Kolonialland dadurch ab-geholten, daß man in England weiße Dienstverpflichteteankaufte, nach Virginien hinüberschassle und dort kurzweg an denMeistbietenden verhandelte. Die Zufuhr genügte jedoch nicht. Manfing deshalb alsbald in England an, arme Teufel auS den unterenKlassen unter irgend welchen Vorwänden sür die Arbeit auf denPflanzungen zu pressen und hinüber zu schicken. Besonders wurdendie arbeitssähigen Verbrecher nach den Kolonien transportiert unddort als Zeitsklaven verkauft. Die englischen Gerichtshöfe leistetenhöchst Ansehnliches darin, Menschenmaterial für die virginischenPflanzungen zu beschaffen. AlS diese Zufuhr der weißen Arbeits-jllaven noch immer nicht den steigenden Anforderungen der Pflanzergenügte, kam die Einsuhr von Negersklaven in Aufschwung.So entstand auf dem»freien Boden" Amerikas, während dieBourgeoisie in Westeuropa die eingesessene alte Feudalaristokratieniederzuzwingen suchte, eine neue Landaristokratie, die die der altenWelt an Willkür, Lnmaßlichkeit und Ausbeutungssucht bei weitemübertraf. Wie ein kleiner Monarch hatte jeder Patron seine Flaggeund seine Abzeichen; jeder versah sein»Gebiet" mit Festungswerken,Kanonen und Söldnertruppen und führte über feine Untergebenen*) Gustavus M h e r s: Geschichte der großen amerikanischenVermögen. Mit Einleitung von Max Schippel. S. Fischer, BerlinISIS. 2 Bände, geheftet 16 M., geb. 18 M.ein hartes, willkürliche» Regiment. Der Arbeiter wurden bis zumAeußersten herabgedrückt. Eigentliche politische Rechte hatte er nicht.Das Bürgerrecht wurde» vom Besitz abhängig gemocht und seine Er-Werbung enorm erschwert. In Reu-Niederländ wurde 1659 sogargesetzlich sestgelegt, daß die Reueinwandercr tausend Gulden für da?Bürgerrecht zu zahlen hätten.Im achtzehnten Jahrhundert erlangte jedoch die HondelSklafieim englisch-amerikanischen Kolonialgebiet, das sich inzwischen an derOslküste Amerikas entlang vom St. JohnS-Fluß südwärts bis Floridaausgedehnt hatte, eine immer mächtigere Stellung und der llnab-hängigleitslamps gegen England(1774—1783) öffnete der Handels-fchicht in den meisten der 13 verbündeten Staaten vollends denWeg zur Macht. Die Unveräußerlichkeit der Erbbefitzer, das Rechtder Erstgeburt sowie verschiedene der alten Landvorrechtewurden abgeschafft.— Die großen Ländereien schmolzen allmählichhinweg. Indes blieb noch Jahrzehnte der Landbesitz eine Hauptquelledes Wohlstandes der Reichen, vor allem in den südlichen Staaten;und neben dem großen ländlichen Besitz entstand nun der großestädtische Grundbesitz.Die großen Reichtümer der Goulds, Fields, SchermerhornS,Astors usw. stammen sämtlich in erster Linie aus der Erwerbungund Spekulation mit städtischem Grundbesitz. Als typisch dafür, wiediese Vermögen entstanden sind, kann die Kapitalaufhäufung derFamilie Astor gelten, die mehr als 300 Millionen Dollar beträgt.Der Begründer dieses Reichtums war Johann Jakob Astor, einDeutscher, der 1763 in Hessen, in Waldorf, geboren ist. Er gingals junger Mensch nach London, dann nach New Aork, hausierte zu-nächst mit Küchenwaren, dann mit Pelzwaren und eröffnete daraus1786 selbst einen kleinen Laden mit Pelzsachen in der WaterstraßeNew DorkS. Bald wurde er Großhändler und Schiffsreeder: einLebcnSgang, bei dem er infolge seiner unsauberen Geschäftspraktikenmehrfach mit den Straf« und Zivilgesetzcn in Konflikt kam, ohne daßman ihn persönlich zu fassen vermochte. Der Hauptgrundstock seinesVermögens bildete jedoch der Erwerb einer ungefähr 51 000 Morgengroßen Grundfläche im Staate New Uork. Dieses Land halte einemRoger Morris und seiner Frau gehört, die e§ vom Adophus Phillipsgeerbt halten, einem ehrenwerten Engländer, der während des Un-abhängigkeitSkriegeS sich dadurch einen großen Reichtum erworbenhatte, daß er zu jener Zeit englische Seeräuber« und Kaperschiffegegen die Zusicherung beträchtlichen Anteils an ihrer Beute aus-rüstete. Deshalb hatte die Regierung des Staates New Uork denganzen Besitz konfisziert, in kleine Stücke geteilt und an ungefähr700 Familien verkauft.Im Jahre 1809 machte ein gerissener Advokat den inzwischen zuansehnlichem Vermögen gelangten Astor darauf aufmerksam, daß,wenn er einen großen Prozeß riskieren wolle, er den ganzen ehe«maligen Besitz deS Ehepaares Morris erwerben könne, denn Morriswäre eigentlich nur lebenslänglicher Pächter gewesen, das Befitzrechtselbst gebühre seinen Kindern. DaS war etwas sür den BiedermannAstor. Er schwindelte gegen eine geringe Summe den Kindern de§Morris ihre Ansprüche ab, verklagte den Staat und setzte mit Hilfeseiner Advokaten und höchstwahrscheinlich durch Bestechung einigerRichter durch, daß ihm der Staat seine Ansprüche für 500 000 Dollarabkaufen mußte. Ein Geschäftsergcbnis, das ihn zu weiteren großenGrundstücksspekulationen ermutigte, nicht nur in New Dort, sondernauch in WiSkonsin, Missouri und Iowa.Als dann das Eisenbahnwesen in den Vereinigten Staaten auf«blühte, wurde das Gründen von Eisenbabngesellschaften und die Er-gatlerung von allerlei Besitzrechlen und Machtbesugnissen sür dieseGesellschaften zu einem der beliebtesten Mittel der Nankeckapitalisten,große Vermögen zu erwerben. Und vermochte man neue Liniennicht zu gründen, so ließen sich doch auS den vorhandenen durchAltienmanipulationen, durch Verschmelzungen oder durch Ver-bindung mit Bergwerks« und Hültenbetrieben schöne Kapitalgewinneherausholen.Gegen diese beim Eisenbahngründungsgeschäst erzielten riefigenProfite blieben die in der Großindustrie erzielten Gewinne nochlange weit zurück. Erst in den letzten Jahrzehnten sind durch diegroßen Verschmelzungen und Vertrustungen auch aus diesem GebietRiesenvermögen entstanden.kleines Zcuilleton.Reuter.Heute vor hundert Jahren, am 21. Juli 1816, wurde der Manngeboren, der den Grund legte zu dem heute so viel genannten„Bureau Reuter", der großen englischen Telegraphenagentur. DerGründer war— ein Deutscher. AlS Sohn eines Rabbiners wurdeIsrael Beer Josaphat in Kassel geboren; nach mehrjähriger Tätig-keit in einem Göttinger Bankgeschäft kam er in den 40er Jahrendes vorigen Jahrhunderts nach Berlin, wo er sich einige Zeit langals Buchhändler betätigte. Hier verheiratete er sich, und hier ließer sich auch taufen. Bei seinem Uebertritt zum Christentum nahm erden Namen Paul Julius Reuter an 1843 ging er nach Pari» undgab dorl eine lithographierte Korrespondenz sür Zeitungen heraus.Als die preußische Regierung die telegraphische Verbindung Berlin«Aachen hergestellt hatte, erkannte er als einer der ersten die großeWichtigkeit diefes neuen und überaus schnellen Verkehrsmittels fürden Zeitungsdienst und den Handel; er errichtete ein telegraphischesBureau in Aachen und dann in Brüffel, wobei er sich der Brief-taubenpost zur Ergänzung der noch fehlenden telegraphischen Ver-bindung zwischen Brüffel und Aachen bediente. Nach Fertigstellungdes Kabels Dover-Calais ging er nach London, Ivo es ihm nachanfänglichen großen Schwierigkeiien gelang, sein Unternehmen zueiner riesenhaften Höhe zu bringen und ihm eine Monopolstellungzu sichern, die es heute noch hat und die es heute noch in der be-kannten unheilvollen Weise ausübt. Eine kleine Schwäche besaßPaul Julius Reuter: er wollte gern geadelt werden. Er erreichtees, indem er einen Milchbruder des Herzogs von Koburg-Gotha indie Dienste seines Bureau» nahm und durch ihn den Herzog be«arbeiten ließ. Eine voreilige, in die„Times" lancierte Nachrichtüber die Adelserhebung mußte nachhelfen.»Freiherr von Reuter"lebte bis 1899. Sein Bureau erlangte unter rhin und später unterseinem Sohne eine immer größere Bedeutung. Ucberall hin spannes seine Fäden. Die osfiziellen und offiziösen Telegrapbencigenturenanderer Länder find zum nicht geringen Teil seine Gründungen.Gestützt auf das Bankhaus Reuter dehnte es seine geschäftlichenUnternehmungen auch nach der Richtung aus, daß es sich eine In-seratenagentur größten Stiles angliederte, im Auslande Terrain-geschäfte machte usw. Seine starke Machtstellung, sein Ansehen undsein ausgedehnter Kundenkreis verschafften seinen Rachrichten wäh-rend der Kriegszeit eine ungewöhnliche Bedeutung und der eng-lischen Darstellung der Vorgänge ein starkes Ucbergewicht im neu-traten Auslande._Die Negenerationsfähigkeit nieöerer Tiere.Die Fähigkeit, verlorene Organe neu zu bilden, ist eine Eigen-schast, die allen lebenden Organismen zukommt. Nur daß sie beiden höheren Tieren nicht so inS Auge fällt wie bei den niederen.Schon bei niederen Wirbeltieren wie Reptilien und Amphibien sindweilgehende Erneuerungen in Verlust geratener Extremüäten oderSchwänze schon längst beobachtet worden. Von Rcgeuwürmein undähnlichen Wirbellosen ist es bekannt, daß abgeschnittene Leibesstückesich zu einem ganzen Organismus wieder auSwachsen können. Be-sonderes Interesse erregen die RegenerationSerscheinungen bei denniederen Organismen, weil sie bei diesen wegen der geringerenDifferenziertheit der Organe viel weirergehen und weil sie demExperimente zugänglich sind. Ein beliebtes Objekt für derartigeVersuche bilden die Kieselschwämme. Caleispongten. die zumStamme der Coelenteraten oder Pflanzenttere gehören. Ein ameri«konischer Biologe H.V.Wilson hat schon im Jahre 1907 gezeigt, daßKieselschwämme, die, in ganz kleine Stückchen geschnitten, durch einfeines Sieb gepreßt werden, so daß sie nur noch aus kleinen Zcllkomplexenbestanden, bei geeigneter Behandlung zum Auswachsen zu ganzenTieren gebracht werden konnten. Doch ftihren diese Experimente nurbei Anwendung größter Vorsicht und auch dann nichl immer zumZiele. Um ein größeres Talsachenmaterial zur Verfügung zu habenund da die Ergebniffe auch ongezweiselt worden waren, sind dieUntersuchungen nun, wie die»Naturwissenschaften" berichten, in derNeapcler Zoologischen Station von dem Amerikaner Hargitt wiederaufgenommen worden. Wilsons Angaben wurden durch die neuerenArbeiten bestätigt. Von den Arten, die erprobt wurden, erwies sichein Fol�p Fockocor�no varnea als der geeignetste. Schon eineStunde, nachdem die Polypen zerkleinert und durch ein Sieb ge-preßt waren, waren die regellosen Haufen zu Zellkomplexen aus-gewachsen, die wie Keimkugeln aussahen und sich mit einer Hautumgaben. In diesem EntwickelungSstadium konnten sie und auchandere Arten monatelang zubringen. Darüber hinaus, zu einemfertigen Polypen, ging die Entwickelung im allgemeinen nicht weiter.Nur bei ganz wenigen war das der Fall. Sie wurden zu richtigenPolypen, die noch wochenlang lebten. L.Notize».— Eine Fliegenausstellung ist dieser Tage in Kopen-Hägen eröffnet worden, um die Gefährlichkeit dieser kleinen Tiereals Verbreiter aller möglichen Krankheiten durch Abbildungen.mikroskopische Präparate und dergl. darzutun. Als letzte Waffegegen die Fliegengesahr zeigt die Ausstellung den Fliegenschimmel«schwamm, nach desien Genuß die Fliegen sterben müssen. Ein gleich«falls ausgestelltes Plakat zeigt, daß die französische Heeresverwaltungihre Soldaten sehr eindringlich über die Fliegengefahr unterrichtet.Zur tot erklärt.Von Ernst Wicher t.14)„Das wird er," versicherte das Mädchen;„er weiß ja,daß er sonst nicht drei Tage zu leben hätte; der erste Schmugg-ler, der über die Grenze käme, würde ihn niederschießen."„Gut denn," sagte Annika entschlossen, aber mit zittern-der �stimme,„ich will geben, was ich habe. Mag mir Gottverzeihen, wenn ich an meinem armen Kinde sündige, ummeinen Vater seinen Kindern zu erhalten." Sie führte ihreSchwester an den Herd, scharrte die Torfasche aus einemWinkel fort, kratzte den Lehm aus den Fugen zwischen denZiegeln und hob einen Stein auf. Es war eine kleine Höhledarunter, in welcher ein lederner Beutel lag.„Nimm!" sagtesie mit gepreßter Stimme und vergebens bemüht, die hervor-quellenden Tränen zurückzuhalten,„nimm! Es ist unsereganze Habe, der schwere Verdienst meines Mannes, meinesKinds Erbe. Wir sind nun nicht viel besser als Bettler."Das Mädchen griff hastig zu.„Du bist gut, Annika I" rief sie.„Gott wird Dir's vergelten!" Die Fischersfrau wandte sichab, nahm den kleinen Peter auf, der mit einem Schiffchenspielte, und drückte ihn ans Herz. Mare eilte fort.—Auf Konrad Hilgruber hatten des Doktors Worte tiefenEindruck gemacht. Was hieß das: einen für tot erklärenlassen? Er benutzte seinen nächsten Aufenthalt in der Stadt,um sich bei einem Rechtsanwalt darüber genau zu infor-mieren. Die Sache sollte gar keine besonderen Schwierig-keiten haben, da ja unzweifelhaft feststehe, daß das Schiff imSturm gesunken, auch die vom Gesetz vorgeschriebene Warte-zeit verstrichen sei. Der Krüger hatte keinen Namen genannt.sondern den Fall als ganz allgemein vorgetragen. Und sofragte er denn zuletzt auch, ob die Hinterbliebene Frau, wennihr Mann für tot erklärt sei, sich in jeder Beziehung als Witwebetrachten, also auch wieder heiraten könnte. Auch dies wurdeunbedenklich bejaht. Konrad Hilgruber zahlte mit bestemDank seine Konferenzgebühren und ging in der heiterstenStimmung fort.Und diese heitere Stimmung hatte Bestands sie bliebihm auch zu Hause treu und setzte nicht nur sämtliche Haus-genossen, die an sein grämliches Wesen gewöhnt waren, son-dein auch die Gäste der Krugstube in Verwunderung. Erhatte sonst stets den Kopf auf die Brust hängen lassen undimmer mürrisch vor sich her gesehen und kein Wort über dieNot hinaus gesprochen. Jetzt trug er sich aufrecht, sah freiaus den Augen, pfiff sich ein Liedchen vor, wenn er Ställeund Scheunen reviderte, trank mit dem Nachbar ein GlasBier oder Grog und konnte dazu ganz gemütlich plaudern,wenn sich einige gute Bekannte um den weißen Tisch zu-sammengesetzt hatten. Seine kranke Gesichtsfarbe verlor sichvon Tag zu Tag mehr und machte einem frischen Rot Platz.„Was ist doch nur in unseren jungen Herrn gefahren?"fragten sich die Knechte erstaunt, wenn er sie zur Arbeit aus-munterte und überall mit gutem Beispiel voranging.„Erwird ordentlich hübsch," meinten die Mägde, und eine vonihnen wollte ihn sogar schon vor dem Spiegel gesehen haben,wie er sich das Haar aus der Strn strich und den blondenBackenbart aufkrauste. Das mußte eine ganz ungewöhnlicheErscheinung gewesen sein, da sie so viel Auffehen machte.Wer aber bei dieser wunderbaren Aenderung am nachdenk-lichsten wurde, war seine Mutter, die Krügerin. Sie hattesich schon völlig an den Gedanken gewöhnt, daß ihr Sohn ganzin die Fußtapfen seines Vaters treten und ihr das Regimentim Kruge lasten werde bis an ihr Lebensende. Auch nachseiner Großjährigkeit, als sie sich genötigt gesehen hatte, ihmdie äußere Wirtschaft abzutreten, war dies doch ihrer eigenenErklärung nach mehr„auf dem Papier", als in Wirklichkeitgeschehen. Freilich beschränkte sie ihn nicht in seiner persön-lichen Freiheit und auch nicht in seinen Ausgaben, aber sonstwar kein Unterschied zwischen früher und jetzt merklich ge-worden. Sie war nach wie vor die Seele des Ganzen, diebewegende und ordnende Kraft, die Refpektperfon im Hauseund auf dem Hofe. Konrad ging ihr scheu aus dem Wegeund war viel für sich; sie tadelte ihn deshalb oft genug undsagte ihm, daß er endlich ein Mann werden müßte, fühlte sichaber doch in ihrer dominierenden Stellung ganz bebaglich.Jetzt erkannte sie ihn kaum wieder in seiner Heiterkeit undGeschäftigkeit und zerbrach sich im stillen den Kopf darüber,was wohl vorgegangen sein könnte. Als Frau fiel sie natür-lich sofort darauf, daß er verliebt sein müsse, aber so gut sieauch aufpaßte, konnte sie doch nicht herausbringen, auf wener sein Auge geworfen. Von den Wirtstöchtern im Dorfewar es sicher keine, sonst würde er Besuche gemacht haben, undin der Umgegend hatte er ihres Wissens gar keinen Verkehr.Nach welcher Richtung hin also raten?Sie ließ es an anzüglichen Bemerkungen keineswegsfehlen, gelegentlich auch nicht an Sticheleien, um ihn zumSprechen zu reizen. Aber er lachte nur und sagte:„Es wirbsich alles finden, laß mir Zeit!"Das Wetter war flau geworden, häusige Regengüssehatten das Eis des Haffs überschwemmt und mürbe gewacht,so daß fast vierzehn Tage lang die Verbindung mit der Nehrung nur durch leichte Handschlitten herzustellen war. AuSdem Fischerdorfe waren nur wenige Leute herübergekommen,und Annika war unter ihnen nicht. Der Krüger erfuhr vonihnen, daß der alte Klars beerdigt sei und daß seineSchwiegertochter habe verkaufen wollen, daß dann aber plötzlich die Unterhandlungen abgebrochen seien. Sie wird sichnicht halten können, war die allgemeine Ansicht. Ende Märzkam plötzlich wieder Frost, und zwar mit solcher Heftigkeit,daß die Eisdecke sich schon nach zwei Nächten genügend stärkte,um schwere Lasten tragen zu können. Der Nebel hob sich, unddie spiegelblanke Fläche, jetzt, wieder nach allen Seiten hindurch Fuhrwerke belebt, lud recht freundlich zu einer Spazier-fahrt ein. Auf eine solche Gelegenheit hatte der Krüger nurgewartet. Er gab dem Knecht Befehl, die Hufeisen der Pferdezu schärfen und den leichten Schlitten anzuspannen.„Wohin wirst Du fahren?" fragte Madame Hilgruber,der diese Vorbereitungen nicht unbemerkt geblieben waren.Er besann sich einen Augenblick, ob er eine answeichendeAntwort geben solle. Dann aber sagte er entschlossen:„Nachder Nehrung, Mutter!"„Nach der Nahrung?" wiederholte sie überrascht.„HastDu dort Geschäfte?"„Wie man's nehmen will. Wenn man keine Geschäftehat, kann man sie sich ja machen."„Als ob es nicht hier genug zu tun gibt! Ich wüßtedoch auch wahrhassig nicht, was Du auf der Nehrung zusuchen hättest?"„Das ist ja auch lediglich meine Sache," erwiderte erruhig.Madame Hilgruber wurde rot im ganzen Gesicht.„So?Deine Sache?" eiferte sie.„Ich soll also nicht einmal mehrerfahren, was mein Herr Sohn treibt? Viel kluges kann'sdenn doch unmöglich sein, wenn's vor mir versteckt wird!"„Es ist gar kein Geheimnis" beruhigte er sie.„DieKlarssche Fischerkate, höre ich, soll verkauft werden, und dawill ich einmal nachfragen."(Forts, folgt.)