Nr. 171 BEILAGE UcutfTtaürfe 20. September 1936 Kultur, Horde und Hitler  Ein Streit mit dem kleinen Norilf »Es ist der Appell an die primitiv­sten Urinstinkle, die, einmal mobili­siert, am ehesten zur Zerstörung' jener Gemeinschaft eingesetzt werden kön­nen, die dem einzelnen an Freiheit nehmen muß, um der Gesamtheit zum Leben zu nützen und die daher nur über einen idealistischen Verzicht des einzelnen zu einem materiellen Gewinn der Gesamtheit führen kann.« Verstehen Sie den oben zitierten Satz aus Hitlers   Nürnberger   Kulturrede? Wir auch nicht. Waren schon die politi­schen Reden des Nürnberger   Partei­tages ein tolles Gemisch von Lüge, Ver­worrenheit und Anmaßung, so der kultur­politische Teil ein einziger triefender Schwamm, wie voriges Jahr. Dieselbe verquollene, abgeleierte Platte: Rasse, Verfluchung der Demokratie, Antisemi­tismus, Verherrlichung des Zwangsstaates. Man braucht nur eine Stelle aus Rosen­bergs Einleitung hervorzuheben, um seinen Qualm zu charakterisieren: »Und wir erstreben, daß die Philoso­phie als wirkliche Gemeinschaft der Weis- hcitsliebenden wieder den Weg findet von psyeholcgisierenden Haarspaltereien zu einer harten Verteidigung einer germanischen Wortlehre: damit Nietzsche  , Wagner und L a g a r d e ihre Erfüllung in der Form unserer Zeit finden.« Lagarde würde die braune Judenpolitik weit von sich weisen, er forderte die volle freiwillige Verschmelzung der deut­ schen   Juden mit dem Deutschtum, er war ein Theoretiker dieser Art Rassenver- vermischung, also ein Vertreter der»Ras­senschande«, denn für ihn lag das Deutsch­tum nicht im G e b 1 ü t e, sondern im Ge- müte. Und Nietzsches Hohnworte gegen Antisemitismus und germanischen Rasse­quatsch haben sich inzwischen im braunen Lager so herumgesprochen, daß verschie­dene braune Literaturwächter bereits den Scheiterhaufen für den Philosophen des Uebermenschen forderten. Nur Rosenber­gen hat man noch nichts gesagt, und so vergreift er sich dauernd in der haken- kreuzlerischen Ahnengaleric. Und dann Hitler  , der Schüler des Ober-Dilettanten. Es gelang ihm das Un­wahrscheinliche, selbst die Konfusion sei­ner Kulturrede vom Vorjahre zu überbie­ten. Ein tolles Potpourri von Antisemitis­mus, Rosenbergscher Kunstphilosophie, Geschichtsbetrachtungen des kleinen Mo­ritz und politischer Bauernschlauheit. Die deutsche   Wirtschaft liegt, vom braunen Autarkieblödsinn und Rüstungswahn zer­schlagen, siech darnieder. Also muß man die Bedeutung der Wirtschaft baga­tellisieren. Und so dröhnt der bekannte Wirtschaftshistoriker Hitler  (wir zitieren nach den»Münchener Neuesten Nachrich­ten«): »Es wird manchesmal die scheinbar so richtige und doch so geistlose Aeußerung vernommen, daß die Voraussetzung für jede Kunst die Wirtschaft sei. Nein! Die Vor­aussetzung für die Wirtschaft und für die Kunst ist der Staat, d. h. aber die politi­sche Gestaltung von Führungskraft, die In den Völkern liegt.« Selbst Moritzen würde hier der Ver­dacht anwandeln, daß ja eigentlich irgend­welche Wirtschaft auch dazu gehören müßte, um die Welt der Kunst nicht ge­rade verhungern zu lassen, und daß ein Staat zwar ohne Kunst, nicht aber ohne »Wirtschaft« existieren kann. Aber Moritz ist in diesem Falle bereits vom histori­schen Materialismus verseucht und muß sich vom Osaf sagen lassen; »Es ist sehr schlimm, wenn sich die Wirt­schaft jemals einbildet, daß sie Staaten emporführen oder auch nur retten könnte. Dies ist ein wirkliches Unglück, denn wenn erst die Menschheit so zu denken beginnt, pflegt sie die Staaten zu zer­stören, denn nicht die Wirtschaft hat Staa­ten gegründet, sondern Staatengründer haben der Wirtschaft die Voraussetzung für ihre Tätigkeit geschaffen.(Beifall.)« Denn, Moritzchen, die Primitiven mit Sippen- und Stammesverfassung haben bis heute noch keine Wirtschaft, die Eskimos z. B. fangen keine Fische und haben kei­nen Tauschhandel, sondern alles fliegt ihnen von selber an und in den Leib. Erst kommen die»Staatengründer«, dann fan­gen die Menschen an zu jagen, zu pökeln, den Ackerbau zu erfinden. Die vielen Stäm­me, bei denen es heute noch anders sein sollte, leben eben entweder falsch oder wir sind über ihr Dasein und ihre angeblich uralte staatenlose Wirtschaft von der liberalistischen Forschung belogen worden. Und»wenn erst die Menschheit so zu denken beginnt«, wie die Wissenschaft, Moritz, dann könnte diese Menschheit in Deutschland   laut zu fragen anheben, wie es kommt, daß die deutsche   Wirtschaft seit 1933 so bankrott geworden ist und warum sie heute nicht mehr weiß, woher sie Rohstoffe bekommen soll. Und die Leute könnten anfangen an der braunen Staatskunst zu zweifeln, und damit, Moritz, begänne die»demokratische Anarchie«. Darum muß das Gelände mit Kunst­quatsch vernebelt werden, denn das mit der Kunst ist für ein Volk, sobald es bei den Brotkarten angelangt ist, nicht so leicht kontrollierbar, wie das mit der fau­len Wirtschaft. Die Kunst und Kultur aber verlangt eine straffe Diktatur mit Folter und KZ, sonst kommt die Anarchie und brennt den Reichstag ab: »Aus Aegypten  , aus der Geschichte der mesopotamischen   Staaten sowoihl, als auch von den in näherliegenden antiken, hellenisch- römischen Kulturen wissen wir, daß die Zei­ten des anarchistischen Aufruhrs immer verbunden waren mit wilden Vemich- tungsaktionen gegen Tempel, Bauten, Kunst­denkmäler usw. Ueber die Bilderstürmerei des Mittelalters, die Petroleusen der franzö­ sischen   Kommune bis zu der Zerstörung der Kirchen und Kulturdenkmäler in Spanien  , geht eine gerade Linie.« Und diese gerade Linie, Moritzchen, die macht genau dort eine kleine Kurve, wo die braunen Scheiterhaufen loderten und wo von Hitlers   rauhen Kämpfern schöne Volkshäuser, Sportheime und Arbeiter­bibliotheken zerstört, geplündert oder ge­raubt wurden. Damit immer nur in so or­ganisierter Weise und eventuell mit Hilfe der Mauren   zerstört wird, wie in Spa­ nien   von Hitlers   Freunden, muß das ge­fährliche»demokratische Prinzip der un­begrenzten Freizügigkeit der einzelnen menschlichen Wesen« vernichtet werden. Denn paß auf, Moritz, jetzt kommt was Pikfeines denn: »So wie die Staaten nicht entstanden sind aus dem demokratischen Prinzip der unbe­grenzten Freizügigkeit der einzelnen mensch­lichen Wesen, so können sie auch nicht er­halten werden durch Konzessionen in dieser Richtung... Die Organisation hat sich einst erhoben auf Kosten der Frei­zügigkeit des einzelnen. Es ist nicht verwunderlich, daß ih allen schwachen Zeit­läuften diese unterworfene und gebändigte Freizügigkeit erwuchs, nach ihrem Ur­zustand zurückzustreben. Durch die Demokratie aber haben sich die Staaten die sicherste Bahn zu dieser Rücken t- wicklung ihres Daseins selbst ge­öffnet. Das Ende eines solchen Weges aber könnte nur im Anarchismus liegen...« Wieder spukt hier Osafs rührend kind­liche Vorstellung von der wirtschafts- und organisationslosen Anarchie des»Urzu­standes« dazwischen. Sollte der Osaf ein­mal etwas läuten gehört haben von dem Buche»Der Sinn des Politischen  «, in dem ein Theoretiker des Nationalsozialismus, Prof. Karl Schmidt, drauflos behauptet; Alle Politik lasse sich zurückführen auf das Freund-Feind-Verhältnis des Urzu­standes?! Möglich wäre auch das, aber in jedem Falle ist Karl May   zugegebener­maßen sein Lieblingsschriftsteller, und von daher sollte er so viel Berührung wenig­stens mit den Indianern haben, um zu wissen, daß sie u. a. keinen Staat kannten, wohl aber eine festgefügte Sippen- und Stammesverfassung. Und wie, Moritz, stehts mit den alten Germanen, ehe sie von fränkischen Kaisern zum Staatsvolk zu­sammengezwungen wurden? Sie lebten in festen Sippen- oder Stammesgemeinschaf­ten nach geschriebenen und ungeschriebe­nen Gesetzen, und wir verbitten uns, daß unsere Vorfahren noch im Grabe als wilde, entmenschte Untermenschen ohne Zucht und Moral verdächtigt, beschimpft, ver­leumdet werden. Es gibt sogar Leute, die von einem straffen»germanischen Krie­gersozialismus« sprechen, und jeder Pri­maner weiß, daß schon die Menschen der Urzeit in der Horde eine feste Organi­sation besaßen, mit Zwangsgesetzen, die beinahe so despotisch gehandhabt wurden wie die im Dritten Reiche. Wie ja dieses Dritte Reich einen klassischen Rückfall in den Hordenbarbarismus darstellt und sei­nen braunen Formationen auch gern den Hordengeist predigt. Erst mit der Entwicklung der Wirt­schaft, des Privateigentums, der Familie, mit dieser Sprengung der Sippenverfas­sung sind die Voraussetzungen für jenen Staat gegeben, dessen Bürger durch die Teilarbeit gebunden werden, aber dafür primitiven hitlerschen Horden- oder Sip­penzwang abstreifen können. Soviel, Mo­ritz, über die Entwicklung von Hitlers  zügelloser Freizügigkeit zum Staat. Du siehst wohl selber ein, daß du mit dem »anarchistischen Urzustand« nicht weiter kommst. Du würdest damit sitzen bleiben oder dir in punkto Geschichte eine Fünf zuziehen. Solche Weisheiten kann sich nur ein Osaf gestatten, und Leute der Wissen­schaft, auswärtige Diplomaten, die ge­samte Presse und ein ganzer, pompös auf­gemachter, aufgeblasener Parteitag hören sich solches sogar stundenlang mit an und lassen sich mit dem Gedröhn über den »anarchistischen Urzustand« das Gruseln lehren. Denn du glaubst nicht, mein Sohn, mit v�ie wenig Weisheit die Welt regiert wird. B Br. Nodimals vier Jahre so weiter? i