Die Selbstmörder

Eine Geschichte aus Deutschland  

Tatsächlich trat Besserung ein. Man er fuhr nichts mehr von Selbstmorden durch Absprung vom Kirchenbalkon. Höheren Or tes hatte man schon gedroht, keine Bes

cher mehr heraufzulassen, wenn sich noch ein Fall dieser Art ereigne. Man konnte jetzt

In einer deutschen Mittelstadt war eine Stadt der Selbstmörder spreche und die etwas, und wenn man nicht schnell durch zurückmelden, dass der Fall nicht eingetre betrübliche Erscheinung zu konstatieren. ihrige meine. Eine Kommission wurde ge- greift, so wird sich der Skandal noch öfter ten, die Epidemie erloschen sei. Seit Monaten verging kaum ein Tag, ohne bildet. Sie hatte festzustellen, welche Mo- wiederholen, oder so was Aehnliches. Also Um jene Zeit empfing Oberlehrer Wetzel dass jemand Selbstmord verübte. Die gleich- tive den häufigen Selbstmorden zugrunde- nach zwei Wochen konnte schon die neue Besuch von einem Kollegen aus einer aa­geschaltete Presse durfte darüber nichts lägen, und welche Massnahmen zu ergrei- Sitzung mit der Tagesordnung:„ Selbst- deren Stadt. Er musste ihm die Sehenswür schreiben, aber der Oberschriftwart konnte fen seien, um künftigen Missetaten dieser mordepidemie durch Herabstürzen vom digkeiten des Orts zeigen, also auch das Pa doch nicht verhindern, dass die Leute aus Art vorzubeugen. Innerhalb eines Monats Balkon der Johanneskirche" anberaumt norama vom Kirchenbalkon aus. Auf dem dem Tod des lieben Nachbars Sensations- sollte sie Bericht erstatten. Wege dorthin erzählte er ihm von dea stoff bezogen. Noch eine andere Tatsache Für die Kommission stand es von vorn- Skandalen und Sensationen um diese Stätte fiel auf. Die Lebensüberdrüssigen bevorzug- germeister, ihre Arbeiten zu beschleunigen, herein fest, dass die vielen Freitode nicht der prachtvollen Aussicht und des Verdru ten für ihre eigene Beförderung ins Nir- Es war nämlich, ein paar Tage nach der auf wirtschaftliche Nöte zurückzuführen ses. Es habe sich herausgestellt, dass gewis

Nach einer Woche ersuchte sie der Bür­

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wana den Sturz vom obersten Balkon der Stadtratssitzung, etas ganz Schreckliches ge­St. Johanneskirche. Das war respektlos schehen. Ein junger Mann war vom Kir­senlose Leute ihre Mitmenschen in den Tod Jeder habe jetzt, dem Führer sei es zu gehetzt haben. Hegesias Peisithanatos  gegen die Stadtbewohner und Kirchenbe­verdanken, Arbeit und Brot; jeder gäbe vielen Exemplaren der Gegenwart. Aber hörden, denn jene liebten den Oberteil der seine Taschen untersuchte, fand man einen gern von seinen Einkünften für das Gemein- denen sei das Handwerk gründlich geleg Kirche wegen des prachtvollen Panoramas, Zettel und darauf stand: das von hier überblickbar wurde, diese liess sich von den Besuchern eine Kleinigkeit zahlen, die aber bei der Frequenz im Jahre schon etwas ausmachte. Nun, viel Rück­sicht pflegen Selbstmörder ja nicht zu nehmen.

,, Wenn du aber garnichts hast, Ach, so lasse dich begraben; Denn ein Recht zum Leben, Lump, Haben nur, die etwas haben."

wohl und für ein bisschen Daseinsfreude worden. Keiner bringe sich mehr um, sorge Winterhilfe und die Organisation ihm eingeredete Not zusetze. ,, Kraft durch Freude  ". Wirkliche Not be- Wetzel zog 50 Pfg. heraus, den Eintritts stehe nicht; um Menschen, die aus unglück- preis zum Kirchenbalkon. Der Kollege tat licher Liebe sterben wollen, brauche man das gleiche. Der Küster lächelte. sich nicht den Kopf zerbrechen, es könne

sich in der Hauptsache nur um

nach

35

Gedichtet von Heinrich Heine  , Das war einmal. Jetzt müssen Sie schon in Szene gesetzt von Paul K." der aus eingebildeter Not handeln. Mecke- oben wollen. Wir sind klug geworden."

Aber

Die Sensation wurde problematisch. Teu­fel noch eins, warum denn so oft von der Eine solche Doppelschändung! Nimmt rer und Miesmacher hätten ihnen das Elend Johanneskirche? Einige meinten, das sei vorzeitig Abschied von allen Herrlichkeiten eingeredet. Gegen sie rücksichtslos vorzu- dutzt. Die beiden Oberlehrer waren sehr ver die liebe Eitelkeit. Man wollte noch zu Hitler  - Deutschlands   und beruft sich dabei gehen, sei unbedingte Pflicht. Und dann Was soll das denn heissen? Seit wann?" guter Letzt die Unsterblichkeit von ein paar noch auf Sentenzen des verfemten Dichters Aufklärung, noch mehr Aufklärung als bis- ,, Ja, wissen Sie, 50 Pfg. bringt jeder Tagen oder Wochen, indem man sich bei deutscher Sprache, soweit das Dritte Reich her. den Leuten ins Gerede bringe. Wer hier Femgericht halten kann. Schweinerei so Am nächsten Tag wurden etwa zehn runter. sammen. Und nachher springt er vielleicht wenn er 2.50 Mark zahlen Schluss mit sich mache, der sterbe gewis­Miesmacher in das nächste Konzentrations- kann, dann braucht man keine Angst sermassen den Zuschauern seinen Tod vor lager geschickt. Die Blockwarts, die Fa- haben. Wenn einer so viel hat, will er und sein Ende habe sozusagen ein längeres brikwarts und andere Sorten von Warts weiterleben." Leben hinterher. Andere meinten, die Men­klärten, was Stein und Bein hielt, über die Hitlerherrlichkeiten auf.

schen seien mehr oder minder Modenarren

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und da es leider einmal Mode geworden und Konversation sei, so suche man mit diesem traurigen Saltomortale die Zuflucht ins Schattenreich.

Wie es damit aber auch stand, ein loka­les Aergernis war es und so sah sich der Stadtrat veranlasst, zu den Ereignissen Stel­lung zu nehmen. Eine Spezialdebatte wurde angesetzt mit der Tagesordnung: Selbst­mordepidemie durch Herabstürzen vom Balkon der Johanneskirche." Der erste Bür­germeister selbst eröffnete die Aussprache. ,, Unerhört diese feige Desertion aus dem Leben. Da ist dem deutschen   Volke der Führer gesandt worden und jeder Deutsche  sollte dankerfüllten Herzens jubeln über jeden Tag, an dem er sehen kann, wie es uns allen in jeder Hinsicht besser und bes­ser geht. Aber da sind die ewigen Mek­kerer und Miesmacher am Werk und da gibt es Tröpfe, die sich einreden lassen, es lohne sich nicht mehr, mitzumachen, Tröpfe, die dem Kampf um Deutschlands  Grösse den Tod vorziehen. Ich rufe diesen Selbstmördern ins Grab nach: Kriegsdienst­verweigerer seid ihr gewesen, Verräter am Werk des Führers, und den Schlappschwän­zen, die sich noch umbringen wollen, sage ich, sie sollen sich ja hüten, das nicht gründlich zu tun. Kommt einer dabei heil davon, dann bringe ich ihn, ob Mann oder Frau, ins Konzentrationslager und dort wird man hoffentlich dafür sorgen, dass solchen Kriegsdienstverweigerern nach alter deut­scher Art gelegentlich der Hintern versohlt wird."

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Mehrere Wortmeldungen lagen vor. Stadtrat Wetzel, Oberlehrer für Griechisch und Latein, wollte etwas dazu sagen. Er nannte, um nazigerecht einzuleiten, die ausgebrochene Selbstmordepidemie eine rückfällige Zerfallserscheinung aus der Systemzeit. Man solle die Sache aber doch nicht allzu tragisch nehmen, denn die Kul­turgeschichte lehre, dass solche Verzweif­lungstaten in vielen Epochen epidemischen Umfang angenommen haben. Schon Herodot  , der Vater der Geschichte, erzähle von einer wahren Wertheriade unter den jungen Mädchen der Insel Milet  . Niemand habe Rat gewusst, bis ein Präfekt angeord­net habe, den nackten Leichnam der Selbst­mörderinnen nahe der Stadt für ein paar Tage am Kreuze hängen zu lassen. Einige FACHARZT FUER GESCHLECHTSKRANKHEITEN

Jahrhunderte später habe ein merkwürdiger Wanderprediger Griechenland   und Aegyp­ ten   unsicher gemacht. Er war aus der Phi­losophenschule von von Kyrene   gekommen, habe Hegesias   geheissen und seine Zeitge­nossen hätten ihm den Beinamen Peisitha­natos gegeben. Peisithanatos bedeute so viel

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heisst, dass 400 Jünglinge und Jungfrauen von seiner pessimistischen Predigt über die Nichtswürdigkeit des Lebens so ergriffen gewesen seien, dass sie den Freitod wählten. Nun, wir wissen über die Wertheriade zu Goethes Zeiten Bescheid, und wer älter sei, besinne sich noch gut auf die Vorkriegs­tage, da Schülerselbstmorde geradezu Mode­unfug gewesen seien. Die Grosshesseloher Brücke bei München   hätte da einen trauri­gen Ruhm erworben. Der Oberlehrer meinte, alle seelischen Epidemien dieser Art seien vergangen, man solle auch die heu­tige nicht allzudrakonisch bekämpfen, man würde sonst vielleicht das Gegenteil des beabsichtigten Erfolges erzielen.

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