Nr. 95. 23. IahrMg.1. ßdlw Ks Jotniärts" ßfrlintr ZIslksblMPittwoiti, 25. April 1906.Reichstag.86. Sitzung vom Dienstag, den 24. April,mittags 2 Uhr.Am Tische des Bundesrats: s�rhr. v. Stengel.Präsidenr Gras Ballesircm erössnet die Sitzung mit folgendenKorten: Während wir eine zwar kurze, aber durch das herrlicheFrühlingSwetler begünstigte Erholung hatten, sind über zwei unsbesonders befreundete Nationen durch elementare Ereignisseüberaus schwere Heimiuchungen verhängt worden. IDie Mitgliederdes Hauses haben sich erhoben.) Das uns verbündete KönigreichItalien, mit dessen Voll uns alte historische Beziehungen und gegen-wärlig sympathische Gefühle besonders nahe verbiilden, ist durcheinen ungewöhnlich heftigen Ausbruch des' Vesuvs schwer beim-gesucht. Hunderte von Mensche» sind demselben zum Opfer gefallen.Tausende sind in' ihrem Eigentum auf daS schwerste geschädigt.Eine blühende Landschaft, mit der schönste Fleck der Erde,ist unter Lava und Asche begraben, wahrlich eine schwereHeinisuchung I Aber noch viel schwerer ist daS Ereignis,welches in allerletzter Zeit daS unS herzlirbst befreundeteund stammverwandte Volk der Vereinigten Staaten von Nord-amerika getroffen hat. Durch ein verheerendes Erdbeben und diedarauf folgende beispiellose Fenersbrilnst ist die Stadt SanFrancisco, die Metropole de» Westens der Vereinigten Staaten, eineStadt von 400(XX) Einwohnern, vollständig vernichtet worden. DieVerluste an Menschenleben und an Eigeurum sind zwar noch nichtfestgestellt, aber man kann nach den bisher eingegangenen Nachrichtenamiehmen. daß erstcre in die Hunderte, letztere in die Hunderie vonMillionen Mark gehen— ein Unglück, wie eS bisher kaum dagewesenist. Meine Herren, dah deutsche Volk nimmt an diesem schwerenUnglück der beiden befreundercn Nationen den innigsten und herz«lichsten Anteil.(Lebhastes Bravo I im ganzen Hause.) Ich bin mirbeivutzt, im Namen aller Vertreter dieses Hohen HauscS zu sprechen,loen» ich von dieser Stelle aus meinen Gefühlen Ausdruck gebe.(Beifall.) Sie haben sich zum Zeichen Ihre» Einverständnisses vonIhren Plätzen erhoben: ich konstatiere das.Nunmehr wird in die Tagesordnung eingetreten.DaS Gesetz über die Entlastung des RcichSinvalidenfondS wirdin dritter Lesung debattelos angenommen, ebenso die AbänderungdeS Gesetzes über die Wohnungsgeldzuschüsse.Es folgt die dritte Beratung deS Gesetzes über den ServiStarifund die Klasseneinteilung der Orte.Abg. Kirsch(Z.)(aus der Tribüne völlig unverständlich) scheintüber die zu der Novelle eingelaufenen Petitionen zu sprechen.Abg. Hoffmeister(frs. Bg.) verlangt, dah Glogau in eine höhereGervisklasse versetzt werde.Abg.«wger(Soz.):«l» ich den Bericht über den vorliegenden Gesetzentwurf er»stattete, habe ich Einzelheiten anzuführen unterlassen, weil die Kam-misfion und auch ich der Meinung gewesen sind, daß. wenn hierjeder Abgeordnete die Städte seines Wahlkreises der Regierung be-sonders empfehle? würde, wochenlang Sitzungen notwendig wären,um das Thema zu erledigen.(Sehr richtig! links.) Die Kommissionhat geglaubt, indem sie durch ihren Referenten' die Grundsätzehat aussprechen' lassen, nach denen sie das neue Gesetzeingerichtet zu sehen wünscht, allen berechtigten Ansprüchenauch in bezug auf die Petitionen Berücksichtigung entgegen-getragen zu haben. Ich enthalte mich auch heute, auf Einzel-heiten einzugehen, schließe mich aber dem Wunsche, dem Abg. Kirschan. daß die verbündeten Regierungen die Zwischenzeit benutzenmöchten, um das Material, das ihnen überwiesen, ist, zu studierenund die berechtigten Forderungen deS Materials des Gesetze ein-zuverleiben, umsomehr, als dadurch dem Reichstag die Arbeit erspartwird, in die KlasseneinteUung eingreifen zu müssen. Dem, aus sehrvielen Orten, in denen die Verhältnisse sich verändert haben, wirdder Wunsch laut, in eine höhere Klasse versetzt zu werden, um da«durch einen anderen Wohnungsgeldzuschuß zu bekommen. Ich willnoch darauf aufmerksam machen, daß der Wunsch de« Reichstagesauch in bezug auf die Einteilung deS WohnungSgsldzuschusses dahinSeht, daß andere Grundsätze angewendet werden mögen als bisher. Dieletenten können versichert sein, daß es nicht der Einbringung einereinzelnen Petition bedarf, um da» Interesse aller Parteien für dieseFrage wachzurufen, und ich glaube, wir haben die Petitionen amrichtigsten behandelt, indem wir die verbündeten Regierungen ersuchthaben, ernsthaft die Borschläge und Wünsche der Petitionen zuprüfen und hoffentlich auch zu berücksichtigen, damit gerade diesenWünschen, deren Berechtigung von keiner Seite verkannt wird, Er-füllung zuteil werde. Eine Erörterung über Wünsche, bei denenviele Hunderte von Städten in Frage kommen, hat nach meiner Er-fahrung nicht nur keinen Stutzen, sondern sie kann höchstens durch dieErmüdung, die dadurch hervorgerufen wird, den Petenten schädlichsein.(Beifall bei den Sozialdemokraten.)Abg. Dr. Müller-Sagan(frs. Vp.) befürwortet freie Fahrkartendurch das ganze Reich für die Reichstagsabgeordneten, damit die«selben die WohnungS- und sonstigen Verhältnisse in den Garnison-orten aus eigener Anschauung kennen lernen können.(Beifall links.)Hiermit schließt die Diskusston. Die Borlage wird ein«stimmig angenommen.,•,,Das Gesetz über die Naturalleistungen für die bewaffnete Machtim Frieden wird in dritter Lesung debattelos und einstimmig an-genommen.Es folgen Petitionen.Eine Petition betr. Aenderung deS Z 813 deS Bürgerlichen Gesetz-buches(Jmmobilienverkehr) wird nach dem Antrage derKommission dem Reichskanzler als Material überwiesen.Eine Petition betr. die Arbeitsverhältnisse der Kellner und Hotel-diencr wird auf Antrag Wattendorf(Z.) von der Tagesordnung ab«Eine Petition betr. Erhöhung der Ruhegehälter der vor demi. April 1897 und 1898 in den Ruhestand versetzten Beamten undMilitärkapellmeister wird der Regierung nach dem Antrage derKommission als Material überwiesen.Eine Petition betr.. Ausdehnung de» Reliktengesetzes vom17. Mai 1897 wird entsprechend dem Antrage der Kommission derSlcgierung als Material überwiesen: über eine Petition betr. Ein-führnng eines Zolles auf Wolle wird zur Tagesordnung über-gegangen.Eine Petition, die Vivisektion zu verbieten, wird dem Reichs-kanzlet als Material und. soweit sie«ine gesetzliche Einschränkungder Tierversuche fordert, zur Berücksichtigung überwiesen.Ueber eine Petition betreffend Einsetzung einer alljährlich neuzu wählenden parlamentarischen Kontrollkommission für Justiz- undVerwaltungswesen beantragt die Kommission Ucbergang zur TageS-ordnung.>«bg. Thiele(Soz.):Wir haben in der Kommission den Antrag auf Ueberweisung derPetition zur Berücksichtigung gestellt und wiederholen hier diesenAntrag. ES werden eine ganze Anzahl Petitionen jedes Jahrformell vielleicht richtig als.ungeeignet zur Erörterung imPlenum" erklärt, weil der Reichstag nicht zuständig sei. währenddoch in vielen dieser Petitionen eine Menge. Material enthalten ist,mit dem sich der Reichstag wohl beschäftigen sollte. Der Einwand,daß aus diese Weise eine Parlamentsjiistiz Platz greifen könnte,trifft nicht zu. da der Reichstag kein Urteil fällen, sondern nur erklären soll, ob ein gefällte» Urteil bestehen'bleiben soll oder nicht.Abg. Jtschcrt<Z.) sieht keinen Grund, die Petition zu berück-sichtigen, da die Kritik am Justiz- und Verwaltungswesen im Reichs«tage ausgiebig geübt werden könne.DaS Hau» beschließt gemäß dem Antrqge der Kommission.Eine weitere Reihe von Petitionen wird nach den Anträgen derKommission teilweise durch Uebergang zur Tagesordnung, teilweisedurch Ueberweisung an die Regierung als Material erledigt.Eine Petition, der Gemeinde Bischheim(Elsaß) eine BeihülfeauS Reichsmitteln zu gewähren, bittet Abg. Bluwrnthal(südd. Vp.)an die Kommission zurückzuverweisen.Dieser Antrag wird nach kurzer Diskussion angenommen.Eine Petition betr. Einführung einer staffelsörmigen Umsatz-steuer fiir Großmühlen wird von der Tagesordnung abgesetzt.Die Tagesordnung ist damit erledigt. Auf die Tagesordnungder nächsten Sitzung werden die Gesetzentwürfe über die Haftpflichtder Tierhalter, den Vogelschutz und den Schutz grgr» die Automobil-gcsahr gesetzt.Nächste Sitzung: Mittwoch 1 Uhr.Schluß 4 Uhr.Das Verbrechen von Courriöres.Paris, 23. April.(Eig. Ber.)Die Streikbewegung im Norden.Der Sonntag ist in den Kohlenbezirken ruhig verlaufen. DieLage bleibt aber unverändert ernst. Schuld daran trägt einzig diebrutale Unnachgiebigkcit der Gesellichaften, die die Erbitterung derArbeiter immer höher treibt. Nur die Gesellschaft von Markeshat Zugeständnisse gemacht und so dem Streik sofort ein Endegesetzt. Sie bewilligte einen Grundlohn von 5,16 Fr., der mit denZuschlägen auf 7.24 steigt, außerdem die vierteljährliche Veröffeutlichung von Aufstellungen über die gezahlten Löhne, dieder Gewerkschaft als Basis für Beschwerden und Forderungendienen können. Man sieht, um welchen billigen Preis dieUnternehmungen den Frieden haben könnten. Aber sie spekulierendarauf, daß die ausgehungerten Arbeiter, nach einem ausgiebige»Aderlaß, von der Soldateska de« KlasienstaateS zu Paaren getrieben,demütig wieder in die Gruben zurückkehren werden. Bedenkt man,daß die Bergarbeiter jetzt schon füns Wochen im Streik ausharrenund daß die bewübend schlechte Organisation für einen Widerstands-fondS nicht vorgesorgt hat, ist die musterhafte Streikdisziplin ebensobewundernswert wie die aufgeregten Kundgebungen begreiflich.Das Elend unter den Streikenden ist unbeschreiblich. Be-zeichnend ist, daß die Soldaten, die in den Straßender Städte und Arbeiterdörfer kampieren, ihr Brot undih.re Suppe mit den hungernden Proletariernt e'i l e n. Die Ofnzicre haben nicht den Mut, etwasdawider zu sagen.— Das Verhalten der Unternehmer ist aber auchvon wahlpolirn'chen Erwägungen beeinflußt. In den Gesellschaslensind die klerikalen und.liberalen" Reaktionäre die Herrscher. Sierechnen darauf, daß die Verzweiflungsakte der Streikenden diebürgerlichen Republikaner den Parteien' der reaktionärenOpposition zutreiben werden. Gelingt es, die links-republikanische Kammermajorität zu stürzen, so ist eine Regierungder.Ordnung" zu erwarten, die die Gewerkschaften unterdrücktund die Schrankcnlosigkeii der Ausbeutung sichert. DaS unbestreitbareStreben des jetzigen Ministeriums, Blutvergießen zu vermeiden unddie zur Verzweiflung gewiebenen Arbeiter nicht für das Verbrechenjener büßen zu lassen, die sie in diesen Zustand gebracht haben, hatdie reaktionären Scharfmacher geradezu tobsüchtig gemacht. Nicht nur dienationalistischen Hetzblätter, voran dasOsfizierSorgan.Eclair", sondernauch die Lcibblätter der autgesinnten Gesellschaften, wie der.gebildete"und.liberale". Figaro", fordern wütend, daßdasRepeliergewehr endlichin Anwendung gebracht werde. Der.Figaro" hat sogar demOffizier, der zuerst daS Kommando zum Schießen geben würde,schon im voraus den Titel eines Helden verliehen I Man kannwirklich den Soldaten und auch den Offizieren die Anerkennung nichtversagen, daß sie im stundenlangen Steinhagel, übermüdet undüberreizt, doch der Versuchung, die Mordwaffe zu verwenden,standgehalten haben. Sicher wären in anderen Ländern untergleichen Umständen eine Menge Leute tot oder zu Krüppelngeschossen worden. Was sich schon bei der klerikalenRevolte gezeigt hat, wird auch hier sichtbar: der Fortschritt derDemokratie steigert die Achtung vor dem Menschenleben. Mögenauch Wahlrücksichten die Haltung des Ministerums mitbestimmen, inihnen selbst spiegelt sich die Entwicklung der öffentlichen Meinungdar. Ein demokratisches Ministerium, das vernichtete Menschenlebenzu verantwonen hätte, wäre verloren.Nun zeigt sich aber zugleich auch die Ohmnacht der dokwinärenDemokratie im sozialen Kampf. Wollte die Regierung, um denFrieden in den Kohlenrevieren herzustellen, zum stärksten Mittelgreisen: zur Entziehung der Konzessionen der Gesellschaften undUebernahme der Gruben in den Staatsbetrieb, wäre ihr der Beifallder besitzlosen Klassen gewiß. Aber die in Frankreich so zahlreicheKlasse der kleinen Besitzer gerät leicht in Angst um ihre Mehrwert-Miellen und ihre sozialpolitischen Prinzipien, zu denen auch die Ber-staatlichung der monopolistischen Betriebe gehört, würden raschdahinschmelzen wie Schnee in der Mittagssonne. Nur ganz schüchternhat C l e m e n c e a u die Grubenbesitzer daran erinnert, daß sienicht Eigentümer, sondern Konzessionäre der Bergwerke seien. Sobald aber der Staat die Unantastbarkettdes bürgerlichen Eigentums anerkannt, wird er durch seineEigenschaft als Schutzinstttution dazu gezwungen, die Einrichtungenzu schützen, die er selbst als sozial schädlich erkennt. So muß dieRegierung trotz ihrer Vorliebe für eine gerechtere Lösung, diestaatlichen Gewaltmittel aufbieten, um daS Gut der Ausbeuter gegendie Verzweiflung der Ausgebeuteten zu verteidigen, die das ver«brecherische Werk der Ausbeuter selbst ist, und, ohne eS selbst zuwollen, die Sache der Kapitalisten unterstützen. AuS diesem Wider-spruch kommt die abstrakte Demokratie nicht heraus, an ihm scheitertalle soziale Versöhnung»- und VermittelungSpolitik.Die Furcht vor dem I. Mai.Den Leitern der Conföderation du Travail und— der reaktionären Presse ist eS gelungen, die ganze Bevölkerung in eineerregte Stimmung zu versetzen. Manche Kreise hat eine förmlichePanik ergriffen. Es gibt Familien, die in Erwartung des General-streikS LedenSmittelvorräte einkaufen. In Paris hat die Präfekturangeordnet, daß womöglich alle Slraßenarbeiten bis zum 1. Maivollendet sein sollen. Wo dieS nicht möglich ist, sollen alleMaterialien, die zur Errichtung von Hinoernissen, alS Ge«schösse usw. dienen könnten, hinweggeschafft werden.-Dietollsten Gerüchte durchschwirren die Luft. Die reaktionäre Presseverlangt die Verhaftung der Leiter der Konsöderation. In bürgerlich-radikalen Kreisen spricht man von einem reaktionären Komplott,dessen Werkzeuge die Gewerkschaften ohne Wissen geworden seien. EineRevolte in Paris werde alle Macht in die Hände eines Generalsbringen und dann habe die klerikale Soldateska die Republik inihrer Gewalt.... Das sind natürlich nur Phantasien, wenngleichder Kenner der französischen Geschichte die Behauptung, daß auchmonarchistische Provokateure unter den heftigsten RevolutionSprediaer»seien, keineswegs von der Hand weisen wird. Soviel ist jedenfallsrichtig, daß die Art, wie die Agitation jetzt betrieben wird,den Republikanern und den Soziali st en bei denWahlen vielen Schaden tun wird. Viele Bourgeois werdenaus Angst vor der Revolution reaktionär wählen gehen, und denArbeitern erzähle» die Agitatoren der Konföderation in allen Ver-sammlungen, die Parlamentarier seien alle Vollsbetrüger. Offiziellhat die Konföderalion ihre Unparteilichkeit in der FragedeS Parlamentarismus erklärt und an die Solidarität allerArbeiter appelliert, äber ihre Sprecher mißbrauchen die Acht-stundenagitation zur Verdächtigung der sozialistischen Partei.Man darf sich heute keiner Täuschung darüber hingeben, daß sich dieSituation, die noch vor zwei Wochen für die Sozialisten überausgünstig war. jetzt erheblich verschlechtert hat. Aber die bürgerlicheDemokratie ist noch mehr gefährdet. Schon sehen viele Leute einereaktionäre Kammcrmehrheit voraus. In der„Humanitö" sprichtheute Marcel S e m b a t die Befürchtung aus, daß die Panik invielen Provinzwahlkreisen der Reaktion den Sieg verschaffen werde.Es könnten, meint er, die Tage von 1335 wiederkommen, wo dieRechte einen unheilvollen Vorstoß gemacht hat.Die Konföderation hat die Achlstiindenbewegung in Fluß ge-bracht. Das Verdienst wird ihr bleiben. Ob aber ihre Methodeder Sache des Sozialismus nützen kann, wird man bald sehen. AnAgitation läßt sie eS nicht fehlen. Sie hat Redner in alle Industrie-Zentren gesendet und überschwemmt diese Gegenden förmlich mit Flug-schristen. ll. a. hat sie auch eine Rede Brian ds über den Generalstreikaus dem Jahre 1899 in einer ungeheueren Auflage wieder heraus-gegeben. Gestern veranstaltete sie auch eine Versammlung der inPari« lebenden ausländischen Arbeiter. Im Aufruf hieß es genuggrotzsprecberisch:„Wenn die friedliche Geltendmachung der Rechtenicht genügt, überlassen wir eS der Initiative dereinzelnen, ihre Energie mit allen Mitteln gegen dieKapitalistenklasie und die Institutionen, die sie stützen, kund zu tunzu dem Zwecke, eine noch umfassendere und bedeutsamere Be-wegung zur Befreiung des Proletariats aller Länderhervorzurufen."— Die Versammlung, die sehr stark besucht war, bewegtesich ganz im syndikalistischen Fahrwasser. Der Anarchist M a l a t ogriff auch die deutsche Sozialdemokratie an. weil sie sichvon der patriotischen Idee nicht losgemacht habe. Ein andererRedner warf dem hiesigen deutschen sozialdemokratischen Klub vor,daß er— wie alle Jahre— auch dieseSmal am 1. Mai ein Festveranstalte. Jetzt dürfe man keine Feste feiern, jetzt heiße eskämpfen... Alle Redner stellten die„direkte Aktion" als eineneue Idee und als das einzige Mittel der sozialistischenRevolution hin.Die verschiedenen Gewerkschaften treffen ihre Vorbereitungen.Die Bauarbeiter fordern neben dem Achtstundentag eine höhereLöhnung. Die Goldarbeiter, zirka 10 000 an der Zahl, sindim Begriff in den Streik einzutreten. Die vereinigten Staats-a r b e i t e r haben eine Resolutton angenommen, die den Kampf umden Achtstundentag gutheißt. Die Kürschner dagegen haben eineTeilnahme am Streik abgelehnt, da er bei der herrschendenArbeitslosigkeit aussichtslos erscheint.— Bei den Typographensind weitere Erklärungen von Unternehmern eingelaufen, die dieForderungen bewilligen. In den übrigen Offizinen stehen dieStreikenden fest. Ein Tageblatt, der klerikale»UniverS" hat infolge des Streiks sein Erscheinen sistiert.Euq der Partei.Zum t. Mai. Die Handschuhmacher und die K l e m p n erund Installateure zu Magdeburg, sowie die Bild-Hauer, die im Straßenbau beschäftigten Arbeiter(Steinsetzer, Rammer und HülfSarbeiter) und die Tapezierer zuBreslau haben ArbeitSruhe beschlossen.In Neckarau(Baden) erhielten Partei und Gewerkschaftenvon der Polizei einen Umzug gestattet.Vom Wachstum der Organisationen. Der Sozialdemo-kratischc Verein für Königsberg ist, wie in feinerGeneralversammlung bekannt gegeben wurde, im letzten Geschäfts-jähre von 1526 auf 2039 Mitglieder gewachsen. Die Abonnenten-ziffer der„Königsberger Volközeitung" hat sich im selben Zeitraummehr als verdoppelt.Eine ganz unverständliche Auslegung findet ein Passu» desArtikels„Der 1. Mai und der Massenstreik", den die GenossinRoland-Holst in der deutschen Maifestzeitung ver-öffentlicht hat, im„BolkSblatt" für Bochum. Dieser PassuSlautet:„Die Feinde des Proletariat» aber, die fich damit brüsten, diebesonderen Unterschiede zwischen Deutschland und Rußland schlössenfür das erste Land jede Möglichkeit des erfolgreichen Massenstreiksaus,— ihnen ward der Wunsch zur Mutter des Glaubens. Sicwiegen ihre Angst zur Ruhe mit Ucberlegungen wie die: da» alteRegiment war in Rußland geschwächt, morsch, von allen lebenS-kräfttgen Elementen verlassen, und selbst die kapitalistische Eni-Wickelung habe dort parlamentarische Einrichtungen notwendig gemacht. Sie erklären weiter: daß der Absoluttsmus das Land zumfinanziellen Untergänge führte, daß die Verzweiflung über poli-tischen Druck und Willkür das Volk zum äußersten trieb. InDeutschland aber sei die» alles anders, ganz anders. Nun, derUnterschied ist nicht so groß, wie sie meinen."Da»„Volködlatt" für Bochum sagt dazu:„Wir fassen diesen Satz so auf, daß diejenigen als Feinde desProletariats bezeichnet werden, denen die russischen Massenstreiksnoch kein Beweis für den Erfolg desselben Mittels in Deutschlandsind. Dagegen legen wir Protest ein, weil in den Reihen derorganisierten Arbeiter sehr viele sind, die sich an das neueMassenstreikevangelium nicht so schnell gewöhnen können. Mögeauch die Genossin Holst immerhin die Massenstreikgegner alsFeinde deS Proletariats betrachten, so durste eine solche Dar-stellung auf keinen Fall in der Maifestzeitung der BuchhandlungVorwärts erscheinen.Außer dem„Bolksblatt" für Bochum wird wohl kein Parteiblattund kein Genosse auf eine solche Auslegung der Worte der Ge-nossin Roland-Holst versallen. ES ist ganz klar, iver mit denFeinden deS Proletariats gemeint ist. Jene klassenbewußten Arbeiter,die au» ehrlicher Sorge für das Proletariat Bedenken gegen dieAuwendung de» Massenstreik» haben, wird kein Parteigenosse al»Feinde des Proletariat» bezeichnen.Eine Parteikonferenz für den IS. hannoverschen Wahlkreis(Geestemünde« NeuhanS- Otterndorf), welche am letzten Sonntag inWestersode— einem ländlichen Ort de« Kreises— stattfand, beschloßeinstimmig die Gründung eines Zentralvereins der Partei für dengesamten Wahlkreis und Bremerhaven. Letztere Stadt gehörteigentlich zum bremischen Wahlkreise, ist jedoch organisch und auchhinsichtlich der Agitation,— weil direkt inmitten des 19. hannove-tischen Kreises liegend— mit dem letzteren derart verbunden, daßdie Eingliederung eine zwingende Selbstverständlichkeit war. Für denZentralverein wurden die cmen Städtekomplex bildenden Unterweser-orte Bremerhaven-Geestemünde-Lehe als Vorort bestimmt, wo derBorstmd deS Vereins seinen Sitz hat. Als EinheitL- und Minimal-beitragssatz wurden 30 Pf. pro Monat festgesetzt, doch haben dieOrtsvereine das Recht, einen höheren Beitragssatz— die Unter-weserorte erheben z. B. schon jetzt 40 Pf.— zu beschließen. DieOrtsvereine, wo solche noch nicht bestehen die Vertrauensleute, haben60 Proz. der erhobenen Beiträge an den Zentralverein abzuliefern.Letzterer hat 20 Proz. der Beiträge an den Parteivorstand in Berlinabzuflihren. Alljährlich, spätestens 14 Tage vor dem allgemeinendeutschen Parteitage findet eine Kreiskonferenz statt.— Es steht zuerwarten, daß die neue Organisationsform einen festeren Zusammen-schluß der Genossen herbeiführen und für die Agitation im Kreiseförderlich sein wird.Die württembergischen Parteigeniffen werden am Sonntag, den29. April, in Massen ein Flugblatt„Die neue SteuergesetzgebiuigWürttembergs und die Sozialdemokratie" verbreiten.Totenliste. Zu Mannheim ist einer der ältesten Partei-genossen, der Schreiner Ludwig Hu ber. im Alter von 53 Jahrennach langen schweren Leiden gestorben. Er war haichtsächlich inden 80 er und Anfang der 90 er Jahre im Dienste der Partei tätig.Personalien. Genosse Georg Simon, seit 13 Jahren Leiterder Holzarbeiterbewegung in Augsburg, ist an Stelle des am1. Jaimar ausgeschiedenen Genossen Schlegel in die Redaktion der