Zu feit schwersten Besorgnisseit feku gerafe in fen letztenS'öfien die orientalischen Wirren geführt, man hat sogar von einerGefährdung des Weltfriedens gesprochen. Wir haben es stets ge-ibilltgt, daß die deutsche Politik darauf ausging, die Integrität derTürkei aufrechtzuerhalten. Niemals konnte es allerdings die Auf-gäbe Deutschlands sein, das absolutistische Regiment in der Türkeiaufrechtzuerhalten. Wenn der Sultan in rascher Entschlossenheitund klarer Erkenntnis die Hand bietet zur Einführung der Kon-stitution in der Türkei, so kann das von jedem Deutschen nur auf-richtig begrüßt werden. Zuzugeben ist, daß Deutschland durch dieneuen Verhältnisse schwer geschädigt worden ist, wenn wir auchzweifellos nicht alle Sympathien verloren haben. Jedenfallsscheint unsere Sympathie dem neuen Regime nicht so schnell bekannt-gegeben zu sein, wie seitens Englands und Frankreichs. Der deutschekLotschafter weitle in den lritischen Tagen fern bvn Konstanti-Nvpel.(Hört! hört!) ES mag sein, daß er, wie mancher andere,von den Umwälzungen überrascht worden ist, obwohl das eigentlichnicht recht bcgreislich ist.(Sehr wahr!) Die Vorbereitung solcherUmwälzung kann nicht ganz geheim geschehen, um so weniger, alsja 700 türkische, in Europa gebildete Offiziere über die Türkei der-teilt waren. Noch erstaunter war man in Deutschland, daß derBotschafter nicht sofort auf seinen Posten zurückkehrte. Es sindauch andere schwerwiegende F'agen hinzugetreten: die Unabhängig-keitserklärung Bulgariens und die Annexion Bosniens und derHerzegowina. Auch hier war Deutschland nicht orientiert. Dabeikonnte jeder Reisende in Bosnien sehen, was dort beabsichtigt wurde.Angesichts der Erregung über diese Borgänge in der Türkei mußman doch fragen, ob nicht eine vorherige Verständigung mit derTürkei möglich gewesen wäre, zumal doch die mazedonische Fragedadurch zum Verschwinden gebracht ist. Eine Konferenz kann sehrwohl zur Erhaltung des Friedens beitragen, aber sie kann ihn auchebensowohl gefährden. Wir wollen hoffen und wünschen, daßder Weltfrieden erhalten bleibt und daß die unverantwortlichenKriegshetzer ihr Ziel nicht erreichen. Hierin gehen Frankreichs undDeutschlands Interessen Hand in Hand.Herr Speck hat auch von unserem Verhältnis zu Oesterreich gesprechen. Der Friede kann nur aufrechterhalten werden, wenn wirSchulter an Schulter mit Oesterreich stehen, zumal in einer Zeit,in der es den Anschein hatte, als sollte ein Kesseltreiben gegenOesterreich eröffnet werden. Wie notwendig der Dreibund alsFriedensmstrument ist, zeigt auch der Umstand deutlich, daß diejüngsten Debatten in der italienischen Kammer mit einem Ver-trauensvotum für den Minister Tittoni schloffen. Wie groß aberauch unsere Freundschaft für Oesterreich ist, so haben uns mittiefem Bedauern die Exzesse in Prag erfüllen müssen.(LebhafteZustimmung.) Leider hat eS sehr lange gedauert, bis die Polizeienergisch eingriff, so daß es zur Verhängung des Standrcchts kam.Wenn wir Oesterreich in schweren Stunden unterstützen, müssenwir auch verlangen, daß unseren Angehörigen, wo eS auch seinmöge, genügender Schutz gewährt werde. Wir hoffen und wünschen,daß es das Auswärtige Amt in dieser Beziehung an der nötigenEnergie nicht hat fehlen lassen. Die internationale Lage erfordertein außergewöhnliches Maß von Geschicklichkeit unserer Diplomatie.Es vollzieht sich eine Neugruppierung der Mächte. Wemr Englandsich mit Rußland� verständigt, so ist das angesichts der wachsendenErregung in Indien verständlich. England trägt mit seinen Bund-nissen ein System der Unruhe in die Welt(Ähr richtig!), zumalwenn der Eindruck erweckt wird, daß es darauf abgesehen ist,Deutschland zu isolieren und wirtschaftlich zu schädigen.(Sehrricktig l bei den Nationalliberalen.) Wirtschaftliche Gesichtspunktesind es auch, die Italien näher an Rußlanb führen, ebenso wiewirtschaftliche Fragen das Anlehnungsbedürsnis Frankreichs anRußland erklären. In Amerika und Japan erheben sich neue jungeRiesen, und selbst in China und Persien künden sich die Geburis-wehen einer neuen Zeit an. Eine solche Lage erfordert e r st eKräfte in unserer Diplomatie, die ein hohes Gefühl der Ver-antwortlichtcit besitzen. DaS deutsche Volk hat alle Veranlassung,seine volle Aufmerksamkeit auch der auswärtigen Lage zuzuwenden.Mit seltener Einmütigkeit hat seine Vertretung, das deutscheParlament, in den letzten Tagen die innere Politik besprochen.Diese Einmütigkeit der Nation bietet uns auch d-ie Gewähr, daßdas deutsche Volt in jeder Lage, die von außen droht, einig seinund ihr in vollem Umfange gewachsen sein wird.(Lebhaftes Bravo!bei den Nationalliberalen.)Abg. Scheibemann(Soz.):Der Herr Reichskanzler hat vor wenigen Wochen hier eineschöne Rede über die Sparsamkeit gehalten. Wir kennen aber auchans früherer Zeit einen Ausspruch von ihm, welcher lautete: Ichbin kein Konsequenzenmacher. Dieser Ausspruch ist jedenfalls derrichtigere gewesen(Heiterkeit), denn wäre der Reichskanzlerein Konsequenzenmacher, so hätte er uns diesen Etat nicht vor-legen können, der sich darstellt als eine keineswegs lustige Parodieauf seine Sparsämteitsrede.(Sehr richtig! bei den Sozialdemo-traten.) Herr Erzberger hat bor einigen Tagen schon betont, daßdie vorhandenen Abstriche niemand täuschen können, da dort, woAbstriche gemacht worden sind, in absehbarer Zeit Nachforde-rungen erhoben werden müssen. Die Ausgaben für Heer,Warine, Kolonien, Schuldentilgung, ReichsinvalidenfondS, allgemeine Pensionsfonds betrugen 18S3 noch 790 Millionen, währendsie heute aus1578 Millionengestiegen sind.(Hört? hört! bei den Sozialdemokraten.) Unzweifel.hast sind eine Quelle unseres Finanzelends die ungeheuerlichen An-forderungen des Heeres, der Marine und des Kolonialetats.(Sehrrichtig! bei den Sozialdemokraten.) Eine Position deS Etatskönnen auch meine Freunde mit großer Genugtuung begrüßen,nämlich die Erhöhung deS Soldes der Soldaten. Wir wollen beidieser Gelegenheit nur die Hoffnung und den Wunsch aussprechen,daß unsere Soldaten niemals in die Lage kommen, daß an sie derBefehl ergehen kann, von fem hier so oft gesprochen worden ist:von dem Schießen auf Vater und Mutter. Ich hoffe im Gegen-teil, daß derjenige, der sich jemals unterstehen sollte, ciken solchenBefehl zu erteilen, innerhalb weniger Stunden in die Zwangsjackegesteckt werden würde.(Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.)Ein Wort überdie Besoldungsvorlage.Hier ist die Sparsamkeit leider an verkehrter Stelle ge-übt worden, nämlich bei den unteren und mittleren, also denschlechtest gestellten Beamten. Was diese Leute jcht petitionieren,ist vollauf berechtigt, namentlich mit Rücksicht auf die Ver-sprechungen, die ihnen bei den letzten Wahlen gemacht sind. Mitdieser Sparsamkeit steht schlecht im Einklang die Nachricht, daßeine große Summe verausgabt sein soll, um ein Interview desdeutschen Kaisers in einer amerikanischen Zeitung zu unterdrücken.Ich weiß nicht, aus welchem Fonds die Summe bezahlt wird. Viel-leicht hat irgendein Privatmann sie aus seiner Schatulle bezahlt.Traurig wäre es jedenfalls, wenn wir jährlich Hunderttausendevon Mark ausgeben müßten, um alle möglichen Redereien nichtan die Oeffentlichkeit kommen zu lassen.(Sehr gut! bei den Sozial-demokraten.) Ist es denn wirklich so schlimm, Dinge veröffentlichenzu lassen, die aus dem Munde des deutschen Kaisers kommen? Esscheint ja fast, als wenn es Leute gäbe, die sich schämen. daS bekannt werden zu lassen, was da gesprochen sein soll.(Hört! hört!bei den Sozialdemokraten.)In den Etateinnahmen vermisse ich einen Posten. Da bezieheich mich auf die Aeußerungen des Staatssekretärs Dernburg, dieschon Herr Bassermann erwähnt: daß in Südwestafrika außerordent-lich reicheDiamantfelderaefunden seien: viel reichere, als jemand ahnen könne! HerrStaatssekretär, wo sind denn Ihre Diamanten?(Große Heiterkeit.)Es wäre doch wünschenswert, daß Sie möglichst bald damit er-scheinen würfen, das könnte unseren Finanzen erheblich aufhelfen.Dann könnten auch die Versprechungen in Erfüllung gehen, dieman den Hanauer Diamantarbeitcrn gemacht hat. In dieserBeziehung wird bei uns furchtbar rasch gearbeitet: In den Zeitungenerscheint die Notiz, daß der Staatssekretär Diamanten aus AfrikaMitbringt, sofort ergeht die Verfügung, daß sie nur in Hanau ge-'schliffen Kerdeki dürfen. Bisher haben die Hanauer Diamantarbeiter aber vergeblich auf die Diamanten gewartet.(Heiterkeit.)Es ist alles da, die maschinellen Einrichtungen� die geschickten Ar-bester. Bitte, Herr Dernburg, genieren Sie sich nicht, mit IhrenDiamanten heauszurückcn.(Große Heiterkeit und Beifall bei denSozialdemokraten.)Einnahmen und Ausgaben der Etats sind von den Rednern derbürgerlichen Parteien sehr eingehend besprochen worden. Ich mochteaber vor allem eine dritte Frage aufwerfen, die ebenso wichtig ist:Wem sollen wir diesen Riesenetat von annähernd 3 MilliardenMark bewilligen?(Sehr gut! bei den Sozialdemokraten.) Könnenwir der Regierung des Fürsten Bülow noch irgendwelches Vertrauenschenken, nach dem, was wir in den acht Jahren seiner Kanzler.schaft erlebt haben? Vor wenigen Tagen habe ich in einem franzosischen Blatte ein Bild gesehen, eine Photographie ans Potsdam,auf der zwei Herren abgebildet waren mit der Unterschrift:„Wiekönnen Sie verlangen, daß ich Ihnen Vertrauenschenke, wenn Sie mir Vertrauen schenken?" DerMann, an den diese Worte gerichtet waren, war Fürst Bülow, denanderen zu erraten, dürfte nicht schwer sein.(Hesterkeit und Sehrgut! bei den Sozialdemokraten.) Einer Regierung, die uns derartige Blamagen eingebrockt hat wie die Regierung des FürstenBülow, kann man einen derartigen Etat nicht bewilligen, wennman sich nicht mitverantwortlich machen will für alles, was sie ge-tan hat, für alles, was man ihr noch zutrauen muß.(LebhafterBeifall bei den Sozialdemokraten.)Ich komme zu dem Worte„Sparsamkeit". Die beste Sparsamkeit ist eine gute auswärtige Politik.(Sehr wahr! links.) Damitkönnen auch kleinere, weniger leistungsfähige Staaten eine außer-ordentliche Rolle im Völkerionzert spielen, damit auch auf demWeltmarkt eine günstige Position erringen. Eine schlechte aus-wärtig« Politik wird das selbst mit großen Mitteln nicht fertigbringen, wird ungeheure Opfer an Gut und Blut erfordern, ohnedem Staate irgendwie zu nützen, ihn im Gegenteil durch die schlechtePolitik in die größte Verlegenheit bringen. Von allen Seiten istin fen letzten Wochen mit seltener Einmütigkeit anerkannt worden,daßunsere auswärtige Politikgeradezu zusammengebrochen ist. Da ist es mir unbegreiflich, wieKollege Bassermann, der im Eingang seiner Rede einige kritischeTöne anschlug, sie ausklingen lassen konnte in eine Verherrlichungdes offiziellen Deutschlands. Dazu lag in dieser Situation keineVeranlassung vor.(Sehr wahrl) Herrn Bassermann muß manals nationalliberalen Parteiführer sehr vieles zugute halten, aberwenn man ihm vieles in den letzten Wochen zugute geschriebenhat. weil auch er manches mitgemacht hat, so hat er heuteseine Lage wiederum um ebensoviel verschlechtert.(Sehrwahr! links.) � Unter dem Eindruck, daß unsere aus-wärti�e Politik außerordentlich schlecht gewesen ist, ist in letzterZeit in den nationalistischen Kreisen die absonderliche Idee auf-getaucht, unsere Position durch einen oder mehrere Kriege zuverbessern.(Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Auf demalldeutschen Verbandstage ist gesagt worden: Was nicht in denKopf geht, geht in die Beine. Wir sollen also sozusagen einePolitik der Beine treiben.(Große Heiterkeit.) Ich dankeschön für eine solche Politik. Diejenigen, die mit dem Kriegs-gedanken spielen, sollten sich vor allen Dingen des Wortes erInnern, daß zumeist die Heerführer nicht besser sind als die Diplomaten, die in derselben Zeit am Werke sind. Das sollte denen,die unausgesetzt mit kriegerischen Gelüsten arbeiten, zu denkengeben. Wie kann bei all diesen Dingen, fei all unseren Erlebnissen,die offenkundig zutage liegen, daS Ausland vor der deutschenDiplomatie irgendwelchen Respekt haben? Eine Diplomatie, diebald an das Schwert appelliert, bald von„Pulver trocken halten"stricht, muß ja den Anschein erwecken, daß sie ohne weiteres bereitei, Hunderttausende aus die Schlachtbank zu führen, und das mußdann zu dem führen, was Bassermann als eine neue Gruppierungder Machte bezeichnete, wobei er nur vergaß, daß Teutschland dabeivollkommen allein auf dem Jsolierschemel sitzen wird. Wie eineiserner Ring wird sich ja das Auslano um uns legen müssen.(Sehrwahr! bei den Sozialdemokraten.) Wie kann man nach alledem,was wir erlebt haben, Vertrauen zur deutschen Diplomatie haben?Ich will nur Weniges erwähnen. Was ist aus dem berühmtenEhinakuchen gelvorden, was aus unserem Platz an der Sonne? Ausdem Nagel, an den unsere Rüstung gehängt werden sollte? Ge-blieben ist uns von unserer ganzen ostasiatischen Politik nur dasschöne Wort: Kotau I Und wie haben sich die Dinge in Chinaletzt gestaltet? Der Kaiser ist gestorben, die Kaiserin-Witwe, eineTante des Kaisers, gleichfalls.(Zuruf recht: Sehr richtig! GroßeHeiterkeit.) Aber nun kommt die Hauptsache. Auf dem Throne,wahrscheinlich aus einem kleinen Schemelchen, sitzt jetzt ein drei-jähriges Kind, und der wirkliche Regent dieses volksreichsten Landesder Welt ist auf Jahrzehnte hinaus der Prinz, den man lächerlicher.weise gezwungen hat, nach Deutschland als Sühneprinz zu reisen.Mit welchen Gefühlen muß dieser Mann, in dessen Hände jetzt eineso große Gewalt gegeben ist, nach Deutschland blicken, wo man ihmzugemutet hat. sich in unglaublicher Weise zu demütigen!(Sehrwahr! bei den Sozialdemokraten.) Diese ganze Chinapolitik wareine Kette von Lächerlichkeiten. Ich erinnere an die Hunnenrede,an das Knackfußbild mit seiner Unterschrist, an die ganze Wälder-see-Operette, an das Schauspiel, wie dieser Weltmarschall schon dieLorbeeren des Siegers erntete, ehe er nur den Fuß auf das Schiffgesetzt hatte, und das geht so weiter bis zur Kaifertuterviewdcbatte.Die sehen, dasselbe in der ganzen deutschen Politik, soweit Ost-ästen in Betracht kam.(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)Und jetzt sehen wir das englisch-japanische Abkommen und dasamerikanisch-japanische Abkommen. Die Integrität Chinas ist voll-kommen sichergestellt, und wir sind vollkommen ausgeschaltet.(Sehrrichtig! fei den Sozialdemokraten.)Wie im fernen Orient, so ist eS auch im nahen. Die so viel-fach betonte Freundschaft zu allen Sultanen der Welt ist voll»kommen nutzlos geworden. Die Alldeutschen haben über Oester-reich und die Türkei hinaus von einem deutschen Einfluß bis anden persischen Golf geträumt. Diese Idee ist kläglich gescheitertschon durch das Bagdadunternehmen und durch das russisch-türkischeEinvernehmen. Die türkische Revolution hat unseren Einflutzvollkommen ausgeschaltet.(Zustimmung fei den Sozialdemo-kraten.) Wie eigenartig wirkte eS, daß gerade in dem Moment,wo das alte Regime in ver Türkei zusammenbrach, wo der Sultannicht etwa, wie Herr Bassermann tagte, sich entschloß, eine Ver.fassung zu gebe», sondern wo man ihn dazu zwang,(Sehr wahr!bei den Sozialdemokraten) daß gerade in fem Moment der SchwarzeAdlerorden eintraf, so daß Feri Pascha sich ihn ycrade noch an-stecken konnte und dann verschwand.(Große Heiterkeit bei denSozialdemokraten.) Es ist dieselbe Geschichte, wie mit dem Ordenfür fen General Stößel, dieselbe Geschichte wie mit GoluchcwSki,Abdul Alis.Herr Bassermann erwähnte schon, daß Deutschland so merk-würdig langsam überdie Vorgänge in der Türkeiunterrichtet wurde. Als die Verfassung in Konstantinopel der-kündet wurde, flaggten die Schiffe aller Nationen. Aber türkischeFreude war nicht deutsche Freude! Die deutschen Schiffeflaggten zunächst nicht. AIS dann Herr Bassermann die Frageauswarf, wie es möglich war. nichts von den Vorgängen zumerken, wo so viele intelligente junge Türken in Europa sich auf-hielten, da rief ich dazwischen:„Das sind die Schnorrer und Ber-schwörer I" Ja, mein Herr Reichskanzler!(Heiterkeit.) Siewerden sich dabei wohl gesagt haben:„So ganz unrecht hat ernicht!"(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Kann es femReichskanzler denn gleichgiltig sein, wenn er sieht, wie in einemStaate, der in der Ilmbildung begriffen ist. dieselben Leute amRuder sind, die sich mit Mandelstamm und Silberfarb als„Schnorrer und Verschwörer" herumgetrieben haben? Ja, meinFürst Bülow, diese Schnorrer und Verschwörer, die sich jahrelangin England und Frankreich aufgehalten haben, die haben in denJahren, die sie dort in England und Frankreich lebten, auch dieganze Rückständigkeit Deutschlands kennen gelernt.(Lebhafte Zu-stiminung Cef den Sozialdemokraten.) Wir dürfen überzeug! fern,daß die Jungtürken, die jetzt am Ruder sind, diese ehemaligen„Schnorrer und Verschwörer", nicht mit Begeisterung für diedeutschen Interessen eintreten, sondern viel eher Frankreich undEngland berücksichtigen werden. Solange der Sultan Abdul Hamidder Schlächter Armeniens war, solange er der Höchstkomman»dierende über das größte Spitzelhecr der ganzen Welt gewesenist— wer sich dafür interessiert, mag die sehr interessanten Artikelim„März" nachlesen—, war die Türkei bezw. der Sultan derbeste Freund der Herren hier in Berlin. Jetzt, Ivo ein modernesRegiment am Ruder ist, ist es mit der Freundschaft aus. Wiesteht es heute mit unserer Einflußsphäre am persischen Golf?Unsere Einflußsphäre hört heute in Bodenbach auf.(Sehr wahrtbei den Sozialdemokraten.) Die Okkupierung Bosniens und derHerzegowina durch Oesterreich bedeutet eine offenkundige Bei-letzung, eine Zerreißung des Berliner Vertrages.(Sehr wahr! beiden Sozialdemokraten.) War cS nicht möglich, daß die deutscheRegierung versuchte, diese Nichtachtung des Vertrages�u der-hüten?— Ich möchte weiter anfragen, ob es richtig ist, daßKaiser Wilhelm an fen Kaiser von Oesterreich geschrieben oder,was wahrscheinlicher ist, telegraphiert hat, daß er bereit sei,ihm deutsche Truppen zur Verfügunq zu stellen!(Hört, hört! beiden Sozialdemokraten.) Wir wissen, wie fei den zugespitzten Ver-hältnissen zwischen Oesterreich und der Türkei Tag ifür TagTruppen an die Grenze befördert werden, so daß wir immer nochmit der Möglichkeit einer furchtbaren Explosion, von der man nichtweiß, wie weit sie geht, rechnen mutz. In dieser Situation, wo dieTürkei einen für Oesterreich geradezu vernichtend wirkerdenBoykott inszeniert hat, wird von unserem„Erbfeind" Frankreichversucht, zwischen der Türkei und Oesterreich zu vermitteln, trotz-fem früher gefaßt worden ist; keine Entscheidung darf in derWelt fallen, ohne daß wir dabei die Finger im Spiele Hafen.(Sehrgut! bei fen Sozialdemokraten.) Das Ergebnis dieser sogenanntenOrientpolitik ist für uns ein neues Schlafmittel, das sichererwirkt, als Trional und Verona! oder das hier im Opernhause auf-geführte Ballett„Sardanapal".(Heiterkeit. Rufe rechts: Kakau!)Bei der Besprechung derMarokkofrageist Herr Bassermann an einigen Kernfragen vorbeigegangen, trotz-fem er betonte, er hätte das französische Weißbuch gelesen. Ausdieser Kenntnis heraus hätte er eigentlich mehr sagen müssen, alser gesagt hat. Ich will das nachholen. Natürlich rede ich nichtüber die famose Tangerfahrt und auch nicht über Algeciras. Wohlaber darüber, wie wandelhaft unsere auswärtige Politik gearbeitethat. Die lebhafte Freundschaft für den rechtmäßigen Sultan AbdulAsis haben wir endgültig aufgegeben und Hafen unsere Freund-schaft seinem vefellischen, aber siegreichen Bruder Mulai Hafidzugewandt. Damals wurde der offiziösen Presse zugemutet, voneinem Tage zum anderen ihre Begeisterung von dem einen auf denanderen Sultan zu übertragen. Das Tanger-Versvrechen war da-mit meines ErachtenS gebrochen.(Sehr wahrl bei fen Sozial-demokraten.) Während Frankreich im Kriege lag, kam von MulaiHafid eine Sondergesandtschaft nach Europa, die vergeblich an dieBotschaften oder auswärtigen Aemter in Paris, Madrid, Rom undLondon angeklopft hat, die aber hier in Berlin im AuswärtigenAmt empfangen worden ist, allerdings, wie eS in der Zeitung hieß,inoffiziell. Charakteristisch dafür ist, daß nachher von derPariser Botschaft festgestellt worden ist. daß diese Sondergesandt-schaft aus niederen Angestellten bestanden haben soll, d. h. Diplo-maten dritten oder vierten Ranges, Handlanger können wirsagen.(Heiterkeit bei fen Sozialdemokraten.) Abgesehen vondiesem merkwürdigen Verhalten, daß, während Frankreich mitMarokko im Kriege lag, Deutschland diese Gesandtschaft empfing,ist noch folgendes Moment charakteristisch: Am 17. Juli 1998 bc-richtete Baron Bertheim, französischer Geschäftsträger in Berlin,an seine Regierung über ein Gespräch mit dem deutschen Staats-sekretär v. Schön. Dieser habe ihm gesagt:„Angesichts der reißen-den Fortschritte, die die Sache Mulai Hafids zurzeit macht, ist diedadurch geschaffene Lage, soweit sie die eventuelle Anerkennungdes letzteren betrifft, für uns fast ebenso heikel, wie für Sie." Derfranzösische Botschafter ferichtct weiter:„Ich dankte Herrn v. Säünfür diese so freundschaftlich abgegebene Versicherung." Am29. August fragte der deutsche Geschäststräger in Paris im Mini-sterium an und erfuhr, daß zwischen Frankreich und Spanien Vor-Handlungen im Gange wären, und demgemäß Vorschläge wegen derAnerkennung Mulay Hafids zu machen. Jetzt hieß es natürlichfür die deutsche Diplomatie: Nun aber eilig zuvorkommen! Am1. September reiste der deutsche Konsul nach Fez an den Hof dcSnoch nicht anerkannten Mulai Hafid, und am selben 1. Septemberteilte die Berliner Regierung den Signatarmächen von Algecirasmit, die kaiserliche Regierung glaube, angesichts der neuen Lage inMarokko darauf hinweisen zu sollen, daß«ine rasche Anerkennungdes Mulay Hafid im Interesse der endlichen Beruhigung der marokkanischen Verhältnisse liege.(Hört! hört! fei fen Sozialdemo-kraten.) Also, die Regierung hatte in dem kurzen Zeitraum von8 Wochen vollständig vergessen, waS sie zuvor der französischen Re-gierung versprochen yatte!(Hört! hört! fei den Sozialdemokraten.)Und da verlangt man von uns und von dem Ausland, dieser Re-gierung mit Vertrauen entgegenzukommen.Herr Bassermann hat auchdie Casablanca-Affärekurz gestreift und sich über das Schiedsgericht gefreut. Diese Freudeteilen wir, aber die Einsetzung feS Schiedsgerichts stellt einen un-zweifelhaften Triumph Frankreichs und eine neue Blamage desdeutschen auswärtigen Amts dar.(Lachen rechts.) Lachen Sicnicht zu früh, meine Herren! Wie kam z. B. die deutsche Regierungdazu, noch im November dieses Jahres von der französischen Nc-gierung eine Entsckuldigung zu verlangen, nachdem damals schonder Bericht des Polizeikommissars Dorday vorgelegen hat? Es gibtnur eine Erklärung dafür, daß man nämlich diesen Bericht imAuswärtigen Amt niemals gelesen hat.(Hört! hört! fei den So-zialdemokraten.) Wie waren denn die Dinge? Schon am 25. Sep-tcmber behaupteten die französischen Zeitungen, daß eine deutscheOrganisation bestehe, die praktischen Antimilitarismus in der fran-zösischen Fremdenlegion treibe. Die Regierung des Fürsten Bülowleugnete das selbstverständlich, aber diesmal war eö mit demLeugnen eine verflucht heikle Geschichte. Kaum war das Dementierschienen, da veröffentlichte ein in Köln bestehender Verein gegendie Fremdenlegion mit großem Stolz, daß die Desertionsgeschichtesein Werk sei.(Hört! hört bei den Sozialdemokraten.) Diefranzösische Regierung hatte also vollkommen recht. Aus fem Be-richt geht hervor, daß ein gewisser Sievers, ein Emissär diesesVereins, in Casablanca eine Agentur zur Verleitung zur Fahnen-flucht begründet hatte. Dieser Sievers verleitete sechs Legionäre.unter ihnen einen französischen Staatsbürger(Hört! hört! bei denSozialdemokraten), einen Russen, einen Schweizer, einen Oester-reicher und zwei Deutsche zur Fluch:. Der Konsulatssekretär fe-suchte die Flüchtlinge in ihrem Versteck und soll sie sogar mit Geldund Zivilkleidern versefen haben!(Hört! hört!) Das sind denndoch Dinge, die wirklich zu wichtig sind, als daß sie Herr Basser-mann so einseitig darstellen sollte oder, WaS für Teutschland nochbeschämender ist, die Rechte deS Reichstages sie hier belacht.(Leb.hafte Zustimmung fei den Sozialdemokraten.) Wenn wir darüberlachen wollten, man könnte es verstehen. Aber wir lachen nichtdarüber, wir schämen uns über diese Blamage der deutschen Reichs-regierung!(Stürmische Zustimmung fei fen Sozialdemokraten.)Hören Sie doch, was ein Blatt von so unentwegt loyaler undnationaler Gesinnung, wie die„Tägliche Rundschau", im Hinblickaus die Casablanca-Affäre schreibt:„Wir s ind gegen Bla»magen in der auswärtigen Politik ja nun nach-gerade abgebrüht.(Lebhaftes Hört! hört! links.)...So wundern wir uns nicht über diese neueste Un-geheuerlichkeit in der Führung der auswärtigenPolitik."(Hört! hört!) Bitte, merken Sie sich daS, HerrStaatssekretär v. Schön!(Sehr gut! fei den Sozialdemokraten.)Wir müssen auf Notwehr denken, Notwehr nichtgegen die französische Marokkopolitik, sondern