Nr. 94.
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Vorwärts
Berliner Volksblatt.
26. Jahrg.
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Telegramm Adresse: ,, Sozialdemokrat Berlin".
Redaktion: S. 68, Lindenstrasse 69.
Fernsprecher: Amt IV, Nr. 1983.
Freitag, den 23. April 1909.
Expedition: S. 68, Lindenstrasse 69. Fernsprecher: Amt IV, Nr. 1984.
Rüstet zur Maifeier!
Patriotische Cartüfferie.
I.
Das parlamentarische Interregnum ist vorüber. Der Reichstag hat am Dienstag, die Finanzkommission am Mittwoch ihre Beratungen wieder aufgenommen. Die bisherigen Verhandlungen der Kommission bestanden in nichts als in ungeschickten Lavierungsversuchen der zu widerlichem Mischmasch zusammengepferchten, ihrer Natur nach auseinanderstrebenden Blockpartikel. Am 28. November vorigen Jahres war die erste Lesung der vom Reichsschatsekretär vorgelegten Steuervermehrungspläne, die man des besseren Aussehens wegen„ ,, Reichsfinanzreform" getauft hat, im Reichstagsplenum beendet, und noch am gleichen Tage fonstituierte sich die Finanzfommission. Am 1. Dezember begann sie ihre Arbeiten. Seitdem hat sie 41 lange Sigungen abgehalten, wozu noch einige Dußend Geheimfizungen der zum Schachergeschäft hinter den Kulissen bestellten Unterfommission hinzugezählt werden müssen. Doch das ganze Resultat der langen Verhandlungen besteht lediglich in der Anhäufung eines Kehrichthaufens vaterländischer Opferwilligkeitsbeteuerungen und in der Versenkung der besonders die bemittelten Geschäftskreise treffenden Steuern, wie z. B. der Gas-, Elektrizitäts- und Inseratensteuer. Sonst ist man über die Abgabe patriotischer Versicherungen faum hinausgekommen, obgleich alle Parteien des Blocks von vornherein entschlossen waren, den unbemittelten Volksklassen die Hauptlast des großen vaterländischen Reformwerks aufzubürden und die Besitzenden in Anbetracht ihrer schwachen Schultern höchstens mit einem Fünftel zu beteiligen.
Aber wie dieser gerechte Ausgleich der Lasten hergestellt werden soll, d. h. durch welche Steuern der den Besitzenden zugedachte Fünftelanteil aufgebracht werden und wie dieses Fünftel auf die einzelnen Schichten der Besitzenden verteilt werden soll, darüber vermochten sich die Vertreter der durch Bildung und Besitz" maßgebenden Kreise nicht zu verständigen. Sobald die Frage auftauchte: Wer soll das Fünftel der sogenannten Besitzsteuern tragen?, war die Innerhalb der die Interessen der Harmonie gestört. herrschenden Klassen bertretenden Blockparteien begann alsbald der häusliche Zwist und ein unter der verlogenen Maske der Besorgtheit um das Volkswohl betriebenes perfides Ränkespiel, wobei jede Interessengruppe der anderen den Hauptanteil an der Aufbringung zuzuschieben suchte. Die Agrarier kämpften mit dem Aufgebot höchster vaterländischer Aufopferung gegen die geplante Nachlaßsteuer und empfahlen an deren Stelle Dividenden-, Börsen-, Quittungs-, Wertzuwachs-, Spekulations, Rohlenausfuhrsteuern sowie die Erhöhung der Matrikularbeiträge. Und die Herren vom mobilen Kapital verlangten die Beschaffung des einen Fünftels durch die Reform der Branntweinbesteuerung( der heutigen Branntweinkontingentierung) und der Einführung von Reichsvermögenssteuern, bis sich schließlich ihre Begeisterung im Widerspruch zu ihrem früheren Verhalten auf die Durchführung einer ermäßigten Erbschaftsbesteuerung in der Form einer Erbanfallsteuer konzentrierte. So schwankte in der Frage, inwieweit die einzelnen Kreise der Besitzenden an dem einen Fünftel der neuen Reichssteuern beteiligt werden sollten, der Kampf um das große vaterländische Reformwerk hin und her, kompliziert durch die Ungeschicklichkeit einiger blockparteilicher Mitglieder der Finanzkommission und ihres Vorsitzenden, des Herrn Paasche.
schiedene andere im Sydowschen Nachlaßsteuerentwurf nicht enthaltene Sondervorteile gewährt werden.
Brotverteuerung durch Einfuhricheine. Selbstverständlich ist die patriotische Opferwilligkeit der Konservativen nicht umsonst zu haben. Ihr Patriotis - Aus dem Reichstage, 22. April. Zu der großen Zahl mus ist eine Ware, die bezahlt werden der indirekten Liebesgaben für die Agrarier gehört auch das System muß, und zwar möglichst hoch. Als Entgelt sichert ihnen die Re- der Einfuhrscheine. Man versteht unter Einfuhrschein eine Quittung, gierung, wie aus der programmatischen Rede des Reichs- die ein Exporteur von Getreide bei der Ausfuhr über die Grenze kanzlers deutlich hervorgeht, die Wiederherstellung des von von der Zollbehörde ausgestellt erhält. Die Quittung entspricht dem der Finanzkommission abgelehnten Branntweinhandels- nominellen Betrage des Bolles, der für das nämliche Gemonopols zu, das, wie die agrarischen Blätter selbst zugeben, treide bei der Einfuhr hätte gezahlt werden müssen. für die großen Brennereien noch vorteilhafter ist als die Diese Quittung tann dann innerhalb einer Frist von sechs jezige Form der Branntweinbesteuerung, da es ihnen neben Monaten bei der Zollbehörde in Zahlung igegeben werden, hohen Preisen den stetigen, von allen Arisen und Markt- wenn Getreide irgendwelcher Art, Petroleum oder Rohkaffee einfonjunkturen unabhängigen Absaz bestimmter Produktions- geführt wird. Diese Einrichtung, die der Form nach verschiedene mengen garantiert. Für die geringe Last, die dem länd- Wandlungen durchgemacht hat, beruht in ihrer jetzigen Fassung auf lichen Großgrundbesitz durch die geplante Erbanfallsteuer auf dem Zolltarifgesetz vom Jahre 1906. Sie beziveckt, den Getreideerlegt wird, höchstenfalls 20 bis 25 Millionen Mark jährlich, produzenten Ostdeutschlands , wo Getreide über den lokalen Bedarf erhält er durch das Branntweinmonopol hinaus produziert wird, die bessere Verwertung ihrer Ware im Ausdes Sydowschen Entwurfes mindestens das lande zu erleichtern. In der Prayis hat diese Einrichtung nun aber zu Mißständen Vierfache an Extraprofiten zurü d. Sicherlich ein höchst rentables Wuchergeschäft. Dennoch genügt es der bedenklichster Art geführt. Es hat sich der Brauch herausgebildet, die Unersättlichkeit der Großagrarier nicht; und genau bekannt Einfuhrscheine sofort nach der Ausstellung bei Banken diskontieren mit dieser, durch die altpreußischen Traditionen geheiligten zu lassen, so daß also Leute, die Getreide ausführen, auf die Weise Eigenschaft der Junkerkaste, hat deshalb der„ agrarische" ein Mittel haben, sich sofort bar Geld zu schaffen. Das ist ein Stanzler den Agrariern noch allerlei andere schöne Entschädi- direkter Anreiz zur Getreideausfuhr auch über die durch die Marktgungen auf anderen Gebieten in Aussicht gestellt, indem er verhältnisse gegebene Notwendigkeit hinaus. Daraus ergab sich dann ihnen mehr als deutlich versicherte, daß sie doch unter einer eine fünstliche Berteuerung des Getreides und Gesetzgebung lebten, die mit der größten Ge- Brotes, dessen Preis sowieso in Deutschland durch den Zoll wissenhaftigkeit ihre gesamten Inter - tünstlich in die Höhe getrieben wird. Dazu kommt, daß gerade den kleinen Mühlen das Getreide ent essen fördert und am Herzen trägt".
Aber wird der Freifinn das Branntweinmonopolprojekt 8 ogen wird, während das wiedereingeführte Getreide von afzeptieren? Den früher von ihm vertretenen wirtschafts- den Großmüllern aufgekauft oder das zu viel ausgeführte Getreide politischen Anschauungen und seinem Programm nach kann durch eingeführtes Mehl ersetzt wird. Daraus erklärt es sich, daß er es nicht; denn in seinem 1894 in Eisenach ange- gerade die Mühlenbefizer gegen dieses System mit Petitionen vornommenen, erst vor einigen Monaten vom Verlag der Freis. gegangen sind. Bei der Budgetberatung war nun von den Freisinnigen eine Zeitung" neu herausgegebenen Programm heißt es: „ Entlastung der notwendigen Lebens- Resolution eingebracht worden, worin gewisse Einschränkungen des Systems der Einfuhrscheine gefordert werden. Es soll die Frist mittel und unentbehrlichen Verbrauch zur Vertvertung der Einfuhrscheine von sechs Monaten auf gegenstände von Steuern und 3öllen, brei. Monate herabgesetzt werden; ferner sollen die Einfuhrfeine 3oll- und Steuerpolitik im Dienste bon Sonderinteressen, keine Steuer privilegien, feine Monopole, progressive Besteuerung von Einkommen und Erbschaften." Und ferner:
Beseitigung der Liebesgaben für die Brennereien und der Ausfuhrprämien für Zucker und damit Fortfall der Erschwerungen aus der Steuergesetzgebung für die Anlage neuer Brennereien und für die Ausdehnung der Rübenkultur, Verwendung der bisherigen Aufwendungen für Liebesgaben und Prämien zur Aufhebung der Maischraumsteuer und zur Ermäßigung der Zuckersteuer."
scheine nur bei der Zollentrichtung für die Einfuhr derjenigen Warengattung beschränkt werden, bei deren Ausfuhr sie ausgestellt wurden. Diese Resolution war mit zwei einschlägigen Petitionen für eine besondere Beratung zurückgestellt worden. Sie tam denn
auch heute zur Verhandlung.
In der Debatte gruppierten sich die Parteien natürlich so, daß die agrarischen Konservativen aller Färbungen aber auch das Zentrum gegen den Antrag sich erklärten, die Nationalliberalen nahmen eine vermittelnde Stellung ein, die Freisinnigen waren dafür, während namens der Sozialdemokratic Genosse Südekum erklärte, daß der freisinnige Antrag. das mindeste sei, was im Interesse der großen Masse des Volkes verlangt werden müsse, um diese künstliche Verteuerung der Lebensmittel nach Möglichkeit einzuschränken. Gübelum wies noch mit Recht darauf hin, daß das Zentrum es leichten Herzens geschehen lasse, daß die Aufbringung der Mittel für die Witwen- und Waisenversorgung durch die Einfuhrscheine beschränkt würde.
Außerdem haben alle leitenden Politiker und Blätter Herr v. Bethmann Hollweg suchte die Beibehaltung des der Freisinnigen Volkspartei , die Freis. 3tg." noch erst wieder vorgestern, wiederholt versichert, daß ihre Partei jede Systems zu rechtfertigen. Eine sehr lebhafte Auseinandersetzung entrechtliche Sanktion der Branntweinliebesgabe, welche Ge- spann sich dann zwischen dem Grafen Kanit( f.), Herrn Sped( 3.), ſtalt sie auch annähme, ablehne, und deshalb alle Be- Gamp( ft.) und Herrn Gothein( frs. Bg.) in die auch Genosse hauptungen, der Freisinn würde eine die Liebesgabe in Stolle eingriff, indem er betonte, daß auch die Einfuhrscheine irgendeiner Form aufrechterhaltende Branntweinsteuerreform ein Mittel seien, um Brotwucher zu treiben. Schließlich wurde die Resolution der Budgetkommission überakzeptieren, elende Verleumdung sei. wiesen gegen die Stimmen der Sozialdemokratie, die dieser Verschleppung nicht zustimmen wollte.
Die türkische Krife.
Die jest nach den Osterferien wieder aufgenommene Tätigkeit der Finanzkommission beginnt unter weit besseren Doch freisinnige Schwüre, selbst wenn sie auf das Bedingungen für eine Verständigung. Durch das Eingreifen Eisenacher Parteiprogramm abgelegt werden, haben längst der Beamtenschaft, der Universitätsprofessoren und vor allem nur geringen Kurswert, obgleich ihr Kurs noch immer weit des städtischen konservativen Mittelstandes zugunsten einer über dem faktischen Wert steht. Unter den Richterschen Erweiterung der Erbschaftssteuer ist der Widerstand der Epigonen von der Qualität der Wiemer, Kopsch, Mugdan Agrarier gegen die Nachlaßsteuer halb und halb gebrochen. und Fischbeck ist die freisinnige Parteileitung längst zu der Ein Teil der Landbündler von der geistigen Qualität des tiefen Erkenntnis gelangt, daß im allgemeinen Grundsätze Den Jungtürfen ist es gelungen, der einzigen Gefahr, Herrn von Oldenburg- Januschau wird jedenfalls in der im politischen Kampfe unbrauchbarer Ballast sind und nur die ihnen noch drohte, Herr zu werden. Die Flotte, deren Oppofition gegen die Ausdehnung der Erbschaftssteuer auf höchstens ein Grundsatz eine gewisse Berechtigung hat, näm- Haltung bisher zweifelhaft war, wird keine Komplikationen direkte Nachkommen und Ehegatten beharren; aber der lich der Grundsatz der prinzipiellen Grundfatlosigkeit. Bald mehr herbeiführen. Die fünf Kriegsschiffe, die im Bosporus größere Teil der konservativen Reichstagsfraktion ist unter werden voraussichtlich, sofern nur in diesem oder jenem lagen, find abgedampft und damit ist auch die Befürchtung gewissen Bedingungen zur Nachgiebigkeit bereit; und die nebensächlichen Punkt ihren Bedenken Rechnung getragen eines Bombardements von den Jungtürfen genommen. Dem Regierung wird, froh, einem ernsthaften Konflikt mit den wird, die freisinnigen Wortführer entdecken, daß im Vergleich Sultan verbleibt jetzt nur zu seinem Schutze die schwache Agrariern ausweichen zu können, nur allzu willig diese Be- zu einer Erhöhung der bisherigen Besteuerung das Zwischen- Balastwache und vielleicht noch das vierte Bataillon der dingungen akzeptieren. Wie bereits Fürst Bülow beim handelsmonopol doch nicht so ohne weiteres zu verwerfen sei, Salonikier Jäger, das die Furcht vor der zu gewärtigenden Empfang der Deputationen patriotischer Finanzreform daß es vor dem heutigen Besteuerungssystem sogar noch Strafe noch einen Widerstand der Verzweiflung wagen lassen deliranten zusagte, wird die Regierung nach dem Wunsche mannigfache Vorzüge habe, und wenn es auch in feiner Weise könnte. Der Abfall der Flotte vom Sultan bedeutet aber eine der umfallsüchtigen Agrarier die Nachlaßsteuer in eine den wirtschaftlichen Anschauungen des Freisinns entspräche, Erbanfallsteuer umwandeln, so daß nicht der Gesamtnachlaß, doch die Rücksicht auf das Wohl des teuren deutschen Vater solche Machtverschiebung zugunsten der Jungtürken , daß es sondern nur die einzelnen an die Erben gelangenden Erb- landes, dessen Sicherheit die schnelle Erledigung der Reichs- nicht wunder nehmen kann, daß auch ihre Haltung zu teile versteuert werden, wodurch dann, wenn ein Nachlaß an finanzreform dringend erfordere, allen Bedenken Einhalt Abdul Hamid eine Aenderung erfährt, Allerdings find mehrere Erben fällt, die Steuer beträchtlich ermäßigt wird gebiete. Um schöne entschuldigende Redensarten waren die in diesem Punkte die Jungtürken nicht einig. Während der oder gar ganz wegfällt. Außerdem sollen die berechtigten freisinnigen Kapazitäten ja noch nie verlegen, wenn es feigen Obersttommandierende Mahmud Schewket Pafcha, der mittags Ansprüche der Agrarier möglichst in Betracht gezogen, d. h. Brinzipienverrat zu beschönigen galt. aus Saloniki im Hauptquartier von Tschateldscha eingetroffen
dem Landbesitz gegenüber dem beweglichen Besitz noch ver
ist, für die Weiterregierung Abdul Hamids eintritt, verlangt