Nr. M. 26. Jahrgang.1. Kcilqe des Jonuirts" StiiiiietsDie Parteipreüe über den IliiMer-wecbiel.„Leipziger Bolkszeitung":„Dem Manne, der jetzt abtritt, ging, als er vor zwölf Jahrenzum Staatsjekretär avanzierte, der Ruf voraus, ein„moderner"Flmin zu sein, und dem Manne, der ihm folgt, gehts ebenso. Erist„modern". Gewiß!„Moderne" Männer sind sie alle! DasWort: modern scheint in diesem Zusammenhange eigens für denZweck erfunden zu fein, um als lindernder Balsam für die Ent°sagungsschmerzen des Liberalismus zu dienen. Man will damitden Anschein erwecken, als sei der gehend« wie der kommendeMann„eigentlich" liberal, und hege in seines Herzens Grundeeinen moralischen wie physischen Abscheu vor den hinterbackigenGranden aus der Uckermark und Hinterpommern, ä la Kreth undJanuschauer. Er sei ein zartest organisiertes Wesen, tief gebildetund ein hoher Verehrer von Kant und Goethe. So konnte man»damals von Bülow lesen und so wieder jetzt von Bethmann. Willsich die liberale Presse wirklich mit Absicht blenden? Hat sie nichttraurige Erfahrungen genug gemacht mit ihren„modernen"Männern? Wie stand's denn mit dem einzigen wirklich bedeutendenManne, den Wilhelm II. bisher um sich gelitten hatte, wie stand'sdenn mit Miguel? Der war doch gewiß„modern" genug, dieseralte Atheist und Kommunist, dieser einstige Schüler von KarlMarx und Organisator von Bauernaufständen? Und trotzdemwurde er der gefügigste Hausknecht der Junker. Und Herr Bülow?„Man soll mir einst auf meinen Leichenstein schreiben: das ist einagrarischer Reichskanzler gewesen!" Das waren seine eigenenWorte. Glaubt man wirklich, daß es mit Herrn Bethmann andersgehen wird? Seine„Modernität" kann höchstens dazu dienen, umdie tiefe Barbarei der deutschen Zustände mit einer trügerisch-glänzenden Lackschicht zu versehen. In der Sache wird er sichgenau so in den Dienst der agrarischen Interessen stellen, wie esalle seine Vorgänger auch getan haben. Deshalb entbehrt derKanzlerwechsel auch jedes tieferen politischen Interesses. In jedemanderen Lande bedeutet ein Kabinettswechsel auch einen System-Wechsel. Bei uns bedeutet er lediglich einen Personenwechsel. Dereigentliche Reichsregent, die Junkerklasse, bleibt ja doch am Ruder."„Dresdener Bolkszeitung":„In Preußen-Deutschland ist solch serviles Lobhudeln billigerals Brombeeren. Der normale Untertan freut sich seiner Knechts-seligkeit. Bethmann beherrscht die Kunst der glatten Rede undbat seinem Meister Bülow nebenbei auch die Kunst abgeguckt,Geistesarme durch eifriges Zitieren zu blenden. Aber mit glattenReden löst man keine schwierigen politischen Situationen, und mitSentenzen erschließt man keine Bahnen zu gesunder politischerEntWickelung. Gewiß findet sich in den Reihen der Fuselblock-Verbrüderten keine große Neigung zu neuen Blockexperimenten.Man ist vorläufig mit dem Erreichten, das den Volksmassen un-erhärte neue Lasten aufbürdet und die Schultern der Tragfähigenliebevoll verschont, durchaus zufrieden. Aber Bethmann mutz mitder neuen Mehrheit rechnen, die sich in jedem Augenblick zu neuenUntaten zusammenfinden, jeden Augenblick zu verderblichemHandeln bereit sein kann. Sie hat ihre Macht bewiesen und wirdfordern, daß mit ihr als mit einer Tatsache gerechnet wird. DenLuxus, ein philosophischer Kanzler zu sein und nach dem Ruhmzu streben, von Toren und politischen Kindern ein modernerMensch genannt zu werden, wird man dem neuen Manne gönnen,solange er nicht Miene macht, die Geschäfte der Reaktion ernstlichzu stören.Aber Bethmann Hollweg denkt gar nicht daran. Es ist vonuns oft genug darauf hingewiesen worden, daß an eine Gesundungder kranken politischen Zustände im Reiche erst dann gedachtwerden kann, wenn in Preußen mit der Dreiklaffenschmach gründ-lichst aufgeräumt wird, wenn dort die stärkste Stütze aller Re-aktionsmitzwirtschaft in Trümmer gelegt wird. Die Frage derpreußischen Wjahlreform entscheidet alles; ihre befriedigendeLösung bedeutet Bahnsäuberung und Anfang des Gesundungs-Prozesses. Daß das Proletariat die Tragweite dieses Problemserfaßt hat, beweisen die leidenschaftlichen, opferschweren Wahl-rcchtskämpke."„Fränkische Tagespost":„Wilhelm II. hat geruht, seinem Gedächtnis einige neueNamen einzuprägen. Sein verantwortlicher Handalnger heißt nichtkleines feuiUeton.EdisonS Zementhaus. Ein italienischer Journalist, der Edisonbesuchte, erzählt von dessen„Zukunstshaus":„Das ZementhauS isteine Neuheit, der der Erfinder eine große soziale Bedeutung zu«schreibt. Man baut eine Hausform auS eisernen Platten und Trägern,die leicht zusammengesetzt und leicht wieder auseinandergenommenwerden können, so daß man sie von einem Ort zum anderen schaffenkann. Die Form wird dorthin gebracht, wo das Haus gebautwerden soll; wenn sie aufgestellt ist, füllt man sie durcheine Oeffnung mit einer flüssigen Mischung von Sand und feinemZement. Sobald die Mischung fest und trocken ist, wird die Formentfernt und das Haus ist in allen seinen Teilen fix und fertig...DaS Gerippe— eigentlich müßte man es die Kruste nennen— desZementhauseS wiegt nur wenige Tonnen und kann von 10—12 Arbeiternin wenigen Tagen aufgestellt werden; die Füllung der Form erfordert zweibis drei Tage; der Verhärtungsprozeß dürfte eine Woche dauern;in weniger als drei Wocheu ist also daS Haus so weit, daß eS be-zogen werden kann.„Es bildet sich bereits eine Gesellschaft für dieMassenherstellung meiner Zementhäuser", sagte Edison.„Die Gesell-schaft soll jedoch meine Erfindung nicht ausbeuten, denn ich will, daßrnein Haus zuallererst den ärmeren BevölkerungSflassen zugute kommensoll. Ich werde bestimmen, daß der Reingewinn der Gesellschaftnicht mehr als 15 Proz. betragen darf. Ein ZementhauS von siebenZimmer mit allem Zubehör soll nicht mehr kosten als 1600 Dollar(COOO Mark). 600 Dollar sollen in jährlichen Raten von 10 Proz.gezahlt werden, während der Rest als dprozentige Hypothek ein-getragen werden soll."ES versteht sich, daß diese Lösung der Wohnungsfrage eine Utopieist so gut wie alle anderen, und daß daS Kapital es schon lernenwird, auch diese— unsertwegen zum Besten der Menschheit er-sonnene— Erfindung seinen Interessen dienstbar zu machen.Die Sonn« als Triebkraft von Motoren. Der kühne Gedanke.die rastlose Wärmeabgabe der Sonne an die Erde durch Hilfe sinn-reicher Apparate in motorische Kraft umzuwandeln, ist bereits oftvon der technischen Wissenschast aufgegriffen worden. Schon imAltertum beschäftigte sich ArchimedeS mit ähnlichen Problemen. Intieuen Zeiten hat der Franzose Mouchot eine Sonnenmaschine kon-struiert, in der eine große Anzahl von Spiegeln bei einer Flächen-auSdehnung von 30 Quadratmetern fo angeordnet find, daßsie die Sonnenstrahlen ailf einen gemeinsamen Mittelpunkt werfen,der dann eine so große Hitze entwickelt, daß er einen Motorvon einer Pferdekraft antreibt. Seit Mouchots Experimenten,so wird in T. P.s Weckly ausgeführt, hat man in der Lösung dieserFrage bedeutsame Fortschritte gemacht, aber der Tag ist freilich nochfern, da jenes Land soviel„Sonnenmotore" besitzen wird, alsHolland Windmühlen. Die größte Sonnenmaschine steht in Kali-fornien im Betriebe, in South Pasadena. und dient als Pumpapparat,um auS der Tiefe eines Brunnens Wasser zu Bewässerungs-zwecken emporzuheben. Der Apparat hat die Form einerriefigg» Eüixjc, derea kleinster Durchmesser elf Meter beträgt.mehr Bernhard, sondern Theobald, mit Zunamen Bethmann Holl-weg. Dieser aus einer Frankfurter Bankierfamilic jüdischer Her-kunft stammende Mann, der sich auf dem herrlichen märkischenRittersitz zu Hohen-Finow unter den schönsten alten Bäumen derProvinz Brandenburg mit der notwendigen junkerlichen Gesinnungerfüllt, darf nun eine Weile, so lange es seinem Herrn gefällt, denReichskanzler spielen.—Es ist nur ein Grundsatz in der Auswahl der Personen zuerkennen: die schrankenloseste Geltendmachung des persönlichenRegiments. Es ist aufs peinlichste vermieden, daß der verant-wortliche Kanzler eine Konzession an irgendeine parlamentarffcheMacht darstellt. Herr v. Bethmann Hollweg ist eine vollständigneutrale Persönlichkeit. Er ist lein charakterfester Junker wie dieKröcher, Heydebrand, Oldenburg, er ist noch weniger ein Zentrums-mann, er ist aber auch nicht liberal, und er ist auf keinem Gebietefachmännisch begabt. Er wird wie Bülow seinen Herrn regierenlassen.Dennoch genügt die Ernennung Bethmanns, um bei den deut-scheu Liberalen alsbald wieder Hoffnungen auszulösen: Gottlob,nicht der ewig gefürchtete starke Mann, sondern wieder einer, dersich mit dem Chefredakteur der„Vossischen Zeitung" anfreundenkann! So klingt es aus der Berliner Freisinnspresse wie aus demNürnberger„Fränkischen Kurier". Als ob es nicht fast immer sogewesen wäre, daß man in Preußen unter halb liberaler Flaggeschamlos reaktionär« Politik treibt, so reaktionär, daß sich einechter Junker und starker Mann in verantwortlicher Stellung nichteinmal zum Werkzeug eines solchen Systems machen würde.Dieses ewige Gerede von dem starken Mann ist ebenso ein-fältig, wie das Geschwätz der liberalen Presse, daß das Genie de»Kanzlers sich in der Verhinderung der Ausschreitung der persön-lichen Regiments herrlich bewähre. Gerade darin, daß der Kaiserkeinen Mann neben sich setzt, beweist sich die Schrankenlosigkeit desAbsolutismus. Der Kaiser kann keinen starken Mann brauchen,weil er selbst schon der starke Mann ist oder doch sein will. Unower sagt, daß der Kanzler irgend etwas Unheilvolles verhindert,der begeht die schwerste Majestätsbcleidigung....Die Kanzler unter Wilhelm II. sind nicht die Verhindererabsolutistischen Unheils, sondern die Verhinderer jeden Fortschrittszur�Temokrotifierung und zur Sozialisierung der deutschen Ver-Bernhard Bülow ist von seinem agrarischen Leichenstein er-schlagen worden, auf ihn klettert nun der fromme Theobald, derneue Handalnger des alten Systems!"Frankfurter„Bolksstimme":«Herr von Bülow liebte eS, sich mit dekorativer Geste aufseinen wohlpomadisierten Scheitel den Kürassierhelm Bismarckszu setzen, aber sein freundliches Antlitz mit den historischen Grüb-chen nahm sich nur grotesk aus unter dieser martialischen Wehr,denn wenn man preußische Vorgänger zum Vergleich heranziehenwill, darf man bei weitem nicht an Bismarck denken, sondern andas elegant herumwimmelnde Diplomatenvölkchen vor Jena undAuerstädt, an die Haugwitz und Lombard und wie sie alle heißen.„Süßlich und geschmeidig" hat für einen von ihnen der scharf be-obachtende Freiherr vom Stein das Kennwort geprägt, und süßlichund geschmeidig war auch Bülow, der im besten Fall ein Diplomatim üblen Sinn des Wortes, aber nie ein Staatsmann gewesen.Wie er in der auswärtigen Politik nichts kannte als die Taschen-spielerstückchen der Diplomatenzunst des achtzehnten Jahrhunderts,so war sein Grundsatz für die innere Politik, die ihm übrigensHekuba gewesen sein soll, die Losung Aberdeens: Nur keine innerenKrisen! Nirgends wollte er bei den matzgebenden Faktoren an-stoßen: die Dackel Wilhelms II. ließ er ohne ein Wort des Wider-spruchs kläffend durch seine Beine fahren, wenn er dem Kaiserhochwichtige politische Vorträge hielt, für die Funkerklasse hat ersoviel getan, daß ihm zu tun fast nichts mehr übrig blieb, aberauch mit der Bourgeoisie wollte er es nicht verderben. So war erein Kanzler des Verzuckerns und Vertuschens, und von seinerPolitik konnte man wie vom Wiener Kongreß sagen, daß sie wohltanze, aber nicht marschiere....Bismarck und Caprivi waren wenigstens, der eine mehr imschlimmen, der andere mehr im guten Sinn, politische Persönlich-keilen, aber schon der müde Hohenlohe war nur ein Wandschirmdes Absolutismus, und auch in Bülow lebte nichts von einem ziel-klaren politischen Willen. Es sind nicht Männer, es sind Nummern,die einander folgen und verbraucht werden: Hohenlohe— Numerodrei, Bülow— Numero vier, Bethmann Hollweg— Numero fünf.Und eben deshalb mag das Federvieh der bürgerlichen WeltIn der Fläche find in sinnreicher Anordnung nicht wenigerals 1783 kleine Spiegel angebracht, die alle Sonnenstrahlen auf einenbestimmten Punkt konzentrieren, an dem sich ein Kessel befindet mit800 Liter Fassungsgehalt. Ein Rohr leitet dann den entwickeltenDampf zu dem Motor über, der zehn Pferdekräfte entwickelt. DasWasser aus dem Brunnen wird dabei mit einer Schnelligkeit von11 000 Litern in der Minute emporgepumpt. Der ganze Apparat istwie ein Teleskop eingerichtet, so daß er verstellbar ist und der Sonnein ihrem Stande folgen kann.Heuschnupfen. Die Ursache des Heuschnupfens ist sehr häufig indem Reiz gesucht worden, den der Blütenstaub verschiedener Gräser-arten auf die Schleimhäute ausübt. Auf das Irrige dieser Ansichthat in der französischen Akademie der Wissenschaften Pierre Bonnierhingewiesen, der unter Heranziehung der Häufigkeit der Erkrankungenauf See oder bei Schneewetter ei�en rein nervösen Ursprung desHeuschnupfens annimmt. Der schlagendste Beleg für die Berechtigungseiner Theorie ist wohl der. daß die Krankheit auch zu Zeiten auftritt,wo überhaupt keine Grasart in Blüte steht. Es handelt sich viel-mehr um eine Störung gewisser Nervenzentren, die die Schleimabsonderung beherrschen. Die Behandlung muß sich darauf richten,die Reizbarkeit der Schleimhäute herabzumindern und die nonnaleFunktton der in Frage stehenden Nervengruppen der Nasenschleimhautwieder herzustellen.Kunst.Der Streit um die Echtheit der Altkölnrr Bilder. Vor einiger Zeitwurde die allgemeines Aufsehen erregende Entdeckung gemacht, daß einigeder schönsten Bilder der Altkölner Malcrschule, besonder» der Claren-Altardes Kölner Domes und die Madonna mit der Wickenblüle, Fälschungenaus dem Anfang des 19. Jahrhunderts seien. Der Generaldirektor derBerliner Museen, Bode, war sogleich für die Echtheit dieser Gemälde ein-getreten. Er läßt nun eine Begründung seiner Ansicht folgen, dieim„Cicerone" veröffentlicht wird. Danach ist die Madonna mit derWickenblüte»sogar trefflich erhalten und ist und bleibt ein köstlichesMeisterwerk der Altkölner Schule. Alles ist an diesemAltärchen charatteristtsch für eine Kölner Arbeit des frühen fünf-zehnten Jahrhunderts. Nicht eine Stelle ist verdächtig, selbst nichtder eine kleine bis auf den Grund gehende Riß der Blüte, durchden der Verdacht gegen die Echtheit entstanden ist. der allmählich soriesenhafte Dimensionen angenommen hat." Solch kleine Rissesollen gerade bei den primiliven Kölner Meistern nicht selten vor-kommen. Auch der Claren-Altar hat nach Bode in seinen Ueber-malungen als ein altes Werk zu gelten. Der Restaurator Fridtnahm an, daß diese die alten Gemälde des 14. Jahrhunderts be-deckenden Malereien bei einer Restauratton im Anfang des 19. Jahr-Hunderts aufgemalt seien. Aber eine solche rücksichtslose Ueber-nialung würde sich nicht mit den Anschauungen der damaligen Zeitvertragen, die bei Restaurationen bereits vorsichtiger vorging.während das Mittelalter eine solche Schonung des Alten nicht kannte.Bode meint,„daß die Malerei in jenen verketzerten Bildern mitmoderner Malerei, vor allem auch mit der deutschen Malerei derersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts nicht das geringste zu tunhat. daß auch heute kein Maler imstande Ware, auch nur das kleinsteTäfelchea treu im Charakter jener Bilder zu male»",über den Kanzlerwechsel gackern so viel es will— wir zerbrechenuns weder den Kopf um ungelegte Eier, noch messen wir einerPersonalienfrage, wie es letzten Endes Kanzlerabschied undftanzlerankunft ist, übertriebene Bedeutung bei. Auch BethmannHollweg tragt seines Schicksals Sterne nicht in der eigenen Brust,sondern durch die Klaffengliederung sind ihm die Richtlinien seinerPolitik vorgezeichnet, und deshalb hat die Arbeiterklasse im günstig-sten Falle wenig von dem neuen Mann zu erhoffen und wird imschlimmsten Falle schon mit ihm fertig zu werden wissen.■'Denn ihr unaufhaltsamer Ausstieg ist der einzig ruhende Polin der politischen Tageserscheinungen Flucht!"„Braunschwciger Bolksfreund"t„Bethmann Hollweg ist nicht einmal das; er spielt in dasernste, nüchterne Genre dieser wohlerzogenen Muttersöhnchen, ohnedoch die strohtrockene Buchstabennatur des avancierten Bureaukratenaufzuweisen, wie sie bei einem Krätke, Sydow oder Nieberdingzutage tritt. Er ist kein stallduftender, schnoddriger Nurjunker.Dafür ist er zu verhätschelt. Er ist über auch kein Schreibtisch-streber. Dafür war ihm der Weg zur Höhe zu bequem gemacht.Er ist ein Mann ohne Schneid und Galle; noch kein derbes Scherz-wort ist über seine Lippen gekommen, noch keine Temperaments«entgleisung ist ihm passiert, aber auch noch kein geistreiches Bonmotist ihm entschlüpft, geschweige denn, daß er jemals einen originellenGedanken geboren hätte. Seine Reden sind ölig fade, ohne Ecken,aber auch ohne Spitzen. Er mauert gewissermaßen in Kleisterund macht aus der einfachsten Erklärung, die sich mit drei klarenWorten sagen ließe, ein glattes, gelecktes, unpikantes Geschwafel,das nach etwas aussehen soll und doch nichts ist. Die philosophischenRosinen, die er mit Vorliebe hineinspickt, machen das Ragout erstrecht unschmackhaft. Es ist alles angelernt, alles im fast jungferlich-zierlichen Boudoir des Muttersöhnchens zurecht gestriegelt. Manglaubt immer den furchtbar wohlerzogenen jungen Mann zu hören,der seiner Mama aus seinen juristischen und philosophischenKollegien im sorgsam abgedämpften Familicnsalon kritiklose Vor-träge hält. Kurz und gut, es ist lein Feuer in dem Kerl. Nichtsgeht mit ihm durch, weil er nichts Eigenes in sich hat.Aber auf die Person des neuen Kanzlers kommt es am wenig-sten an. Es wurde ja kein Kanzler, sondern ein Kammerdienergesucht, und Bethmann ist der perfekte politische Kammerdienerwie er im Buche steht, perfekter als der fortgeschickte; der schwätztezu viel und war zu eitel geworden.Man kann also sagen, daß der Schnapsblock mit Herrn Beth-mann einen guten Griff getan hat; denn es mutz viel Oel aus-gegossen werden, um da» über den Fünfhundertmillionenraubzugbis ins innerste erbitterte Volk noch einmal wenigstens äußerlichzu beruhigen."„Essener Bolkszeitung":„Schneller wie je trieb unter der Aera Bülow das Reich demBankerott entgegen. Fürwahr, der zitatenkundige Schönredner darfsich auf seine„Ordnung der Reichsfinanzen" was zugute tun!Ungeheuer war die Steigerung der Lasten für Heer und Flotteunter diesem Kanzler, der so freudig auf die Intentionen„seineskaiserlichen Herrn" einging. 982 Millionen Mark betrugen 1900die Ausgaben für Heer, Flotte, Pensionen, über 1500 Millionenbetragen sie heute!2298 Millionen Schulden hatte Deutschland 1900, heute hat eSfast 5000 Millionen! Und zu dieser ungeheuren Schuld die Tat-fache, daß eine unsinnige imperialistische Auslandspolitik Deutsch-land in der Welt sozusagen unc den Rest seines Ansehens gebrachthat! Phantomen jagte man nach. Hunderte von Millionen opferteman dem Vergnügen, koloniebesitzcnde Macht zu werden und—ein großer Katzenjammer ist die Folge.Mit Kiautschau, dem„Platz an der Sonne", ging dieserKolonialschwindel los, der dem deutschen Volk nichts einbrachte alsRachefeldzüge und viele Hunderte Millionen Mark Kosten. All dieGroßmäuler, die noch bei der Hottentottenwahl dem deutschenMichel was vorschwindelten von dem Segen der Kolonien, sie habennichts mehr zu verkaufen, und so endet auch die kolonialpolitischeAera Bülow mit einem jämmerlichen Fiasko.Und die sonsttge Auslandspolitik? Da braucht man nur auf-zuzählen: Krügertelegramm— Feldzugsplan gegen die Buren;Fahrt nach Tanger— Defizit der Marokkopolitik, und man hat dieNase voll. Als unheilvollsten Gewinn der Diplomatie Vülows kanndas deutsche Volk buchen die gefährliche Spannung zwischenDeutschland und England, die je länger je mehr zur Gefahr fürdie Welt wird.Also: Fiasko an allen Ecken und Enden! Was hindert natür-lich nicht, daß die Schnapsjunker dem agrarischen Kanzler feierlicheUnd diese sehr bestimmt vorgetragenen Urteile Bodes richtig zuwürdigen, muß man wissen, daß sie gegen den Münchener ProfessorK. Voll gerichtet sind, der dem herrschsüchtigen Generaldirektorschon lange ein Stein des Anstoßes ist. Da indes Voll einerunserer besten Kenner der altniederländischen und altdeutschenMalerei ist, so wird man gut tun, Bodes Feldzug gegen die„hyperkritischen und feuilletonistischen Abenteuerlichkeiten" mit sehrviel Skepsis aufzunehmen. Um so mehr, da man bei Bode, der andem Sturze unseres früheren Nationalgaleriedirektors, des ihm unbequemen Tschudi, stark beteiligt ist, nicht genau wissen kann, inwieweit er sich durch die Rücksicht auf seine Kunstpolitik(lies: Macht-stellung) beeinflussen läßt.Humor und Satire.Die meschuggere Ente.200 der ulkigen Tiere, die im Blätterwalde deutscher Zeitungendurch die Bosheit des Setzkastentenfels und die besondere Begabunghervorragender Stilisten ausgebrütet werden, hat Felix Schloempgesammelt.(Verlag von G. Müller in München.) Einige Probenmögen die Nützlichkeit der Sammlung erweisen:Passende Straßenbezeichnung. Beim Aufziehen derWache verunglückt ist in der Friedrich st r i ch straße nahe bei derBesselstraße ein siebenjähriger Knabe.„Verl. Lokal-Anzeiger", 22, Okt. 1899.Die Kuh mit den höheren Absichten. ES ist, ummit Schiller zu reden, nicht die„hohe, himmlische Götttn", sonderndie„Kuh", die uns mit Butter oder— mit Milch versorgt, freilichnicht die Kuh mit den höheren Absichten, nicht die Kuhdes Egoismus, sondern die des Altruismus.»Vossische Zeitung' v. 9. April 1902.Sportdeutsch. Die Schimmelstute ist großartig auf demPosten, sieht famos aus und pullte bei dem Canter ihremReiter enorm in die Hand. DaS ist ein untrüglichesZeichen, daß sie ihre höchste Leistungsfähigkeit zur Verfügung hat.»Deutscher Sport" 1903, Nr. 144.Aus dem Roman:„Die Waldmühle". In derKammer auf dem Bett lag ein gebrochenes Mutterherzund flüsterte unaufhörlich den Namen Karl vors ijch h i n."»Trcffurter Nachrichten" 1906, Nr. 120.AuS der Erzählung„Ada".»... Hugo seufzte undstrich mit der Hand über die Stirn.„Du bist da» Muster eineredlen Frau. Luise; b e s ch n e i d e n s w e r t der Gatte, der Dich einstsein nennt." Herborner Tageblatt 1899, Nr. 176.Notizen.— Matteucci, der Direktor des Observatoriums auf demVesuv, ist gestorben. Er war einer der hervorragendsten Erdbeben-beobachter; durch seinen Mut und seine Umsicht tat er sich besondersbei dein letzten großen Ausbruch des Besubs hervor,