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Nr. 76.

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Zentralorgan der fozialdemokratifchen Partei Deutschlands  .

Redaktion: S. 68, Lindenstrasse 69. Fernsprecher: Amt Morigplak, Nr. 1983.

Mittwoch, den 18. März 1914.

Die Epigonen und die Vollstrecker.

1848- 18. März

1914.

Expedition: S. 68, Lindenstrasse 69. Fernsprecher: Amt Moritzplatz  , Nr. 1984.

Die Tat der Frau Caillaux  .

Der Tod Calmettes- Demission des Finanzministers. Die unselige, sinnlose Tat der Gattin des französischen   Finanz­ministers hat zwei Opfer gefordert: Der Direktor des Figaro" ist tot und Caillaug hat aufgehört, Finanzminister zu sein in dem Moment, wo endlich das so schwere Werk der Einkommensteuer dem Gelingen näher schien als je.

Calmette, der Herausgeber des Figaro", fällt als unrühm­Einen demokratischen Ideologen muß schwere Melancholie eben erst dem Druck der feudalen Faust entwunden hatte, tiches Opfer in einem unrühmlichen Kampfe. Als journalistischer überkommen, wenn er am 18. März der Entwickelung ge- über unseren heutigen Links Tiberalen, die jeden Fußtritt Vertreter der sozialen Reaktion hat er in den letzten Wochen mit denkt, die seit dem tollen Jahre" 1848 das deutsche Bürger- eines Offiziersstiefels, jede absolutistische Anmaßung, jeden allen Mitteln der persönlichen Berunglimpfung ihrer Verfechter die tum genommen hat. polizeilichen Willtürakt ohne Murren hinnehmen, dafür aber Einkommensteuer zu verhindern gesucht, deren Fehlen eine Schande Welcher fortschrittlich Denkende hätte sich Anno 48 in hysterische Entrüstungskrämpfe fallen, wenn ein Einfalts- für das Steuersystem der Republik   bedeutet. Tag für Tag erschienen träumen lassen, daß das Jahr 1914 nicht nur einem wilden pinsel einen Denkmals sockel mit roter Farbe beklert! im Figaro" Artifel von außerordentlicher Heftigkeit gegen Caillaug, Lande weit hinten in der Türkei   einen landfremden König be- Daß der schöne Enthusiasmus des freiheitlich begeisterten Angriffe, die sich immer mehr zu perfiden Verleumdungen des Finanz­scheren könne, an den vordem keine Seele in Albanien   ge- Bürgertums so rasch zerrann und an den Bajonetten der ministers steigerten, dem die schmuzigsten Machenschaften nachgesagt dacht, sondern auch einem deutschen   Landesteile, dessen Volks- Reaktion zerschellte, vermag seinen ästhetischen und moralischen wurden. Zur Gemeinheit aber wurde diese Kampfesart, als mehrheit alles andere als Sehnsucht nach einem solchen Wert zwar nicht zu mindern, bietet aber umsomehr Belehrung Calmette nicht davor zurückschreckte, intimste Privatbriefe, die ,, Landesvater" befundet. Wer unter den ehrlichen bürger- für die proletarischen Freiheitskämpfer. Der schmähliche Zu- Caillaug vor 13 Jahren an seine jezige Frau, die damals noch die lichen Demokraten und Fortschrittlern hätte es damals ausfammenbruch der 48er Revolution beweist eben, daß es mit Gattin Leo Clareties war, zu veröffentlichen, um eine angebliche zudenken gewagt, daß dreiviertel Jahrhundert später in tüchtiger Gesinnung, schönen Reden und tapferen Beschlüssen Wandlung des Ministers in der Einkommensteuerfrage zu beweisen. deutschen   Landen ein dynastischer Ehehandel über die politi- nicht getan ist. Denn während die in Frankfurt   tagende Frau Caillaug wußte, daß eine weitere Veröffentlichung solcher schen Geschicke der Staatsbürger entscheiden könne! Denn deutsche Nationalversammlung mit allerhand theoretischen Briefe beborstand. Nachdem ihr von einem hohen Richter gesagt damals, als der politische Märzsturm unter Blitz und Donner Problemen ihre Zeit vertrödelte, statt erst einmal durch stritte wurde, daß fein Mittel bestände, diese Gemeinheit zu verhüten, ging in ganz Europa   Gottesgnadentum und feudalen Bust Durchführung der Volksbewaffnung und und Auflösung der sie anstatt zum Staatsdiner, das der Präsident der Republik dem hinweggefegt zu haben schien, reckte sich der Bürgerstolz und stehenden Heere der Reaktion endgültig die Macht aus den italienischen Botschafter gab, in die. Redaktion des Figaro" und die freie Selbstbestimmung der Völfer schien gesichert. Und Händen zu ringen und ihrem eigenen Willen den nötigen beging die Schreckenstat.

heute? Haben wir nicht die Tragikomödie von Zabern   un- Rückhalt zu sichern, und während auch das preußische Parla- So gewiß man diesen verzweifelten Att der Selbsthilfe ver­mittelbar hinter uns? Hat nicht das Gesetz, die Konstitution ment nichts tat, um seine Position materiell zu feftigen, urteilen muß, so sehr fann man den Seelenzustand dieser Fraut be­schmählich kapituliert vor der Militärdiktatur, vor dem vor- sammelte die geschlossene Reaktion emsig ihre Wachtmittel, greifen, deren privateste Beziehungen preisgegeben werden sollten, märzlichen Absolutismus, vor der Kabinettsorder von 1820? um zum entscheidenden Gegenschlage auszuholen. So um in ihren Mann den politischen Gegner zu vernichten. Und es Haben nicht die Gralshüter des extremsten bürgerlichen tonnte bereits im November 1848 General Wrangel liegt ein Stüd Tragit darin, daß Frau Caillaug in ihrer Sinnlosig­Liberalismus feierlich beschworen, daß sie nicht entfernt daran den Rumpf des preußischen Parlamentes auseinanderjagen. teit nicht nur ihren Feind getroffen, sondern auch ihren Mann aus dächten, die unbeschränkte Kommandogewalt des obersten Um die gleiche Zeit war das revolutionäre Wien   von der dem politischen Kampffeld geschlagen hat. Der Ministerrat hat die Kriegsherrn" irgendwie antasten zu wollen? Soldateska zurückgeschlagen und Robert Blum   erschossen worden, Demission Caillaug angenommen. Und wie immer man über

Das Attentat.

Baris, 17. März. Ueber das Attentat wird noch gemeldet:

Frau Gaillaug erschien gegen 5 Uhr im" Figaro" und ersuchte fragte nach dem Namen, worauf die Frau erwiderte:" Sagen Sie

einen Bureaudiener, sie bei Calmette anzumelden. Der Diener

All das Unsägliche geschah an der Jahreswende und im Sommer 1849 hatten sämtliche Regierungen das Heft diesen harten und energischen Bolitiker denken mag, gerade diese 1913/ 14- und im Jahre 1848 beschloß das Preußen- wieder in ihre Hände gebracht. Im Juni dieses Jahres Härte und Energie bürgte dafür, daß er allen reaktionären Machen­parlament, die preußische Nationalversammlung". daß wurde der erneut auflodernde Aufstand in Baden durch schaften zum Troz sein Projekt der Einkommensteuer zum Siege ge­die preußische Militärverwaltung rücksichtslos alle Elemente preußische Truppen niedergeworfen. Vergebens erließ jekt, in führt hätte, das er jetzt schwächeren Händen anvertrauen muß. aus dem Offiziersforps ausmerzen solle, die reaktionärer Ge- zwölfter Stunde, das auf hundert Mitglieder zusammen­sinnung verdächtig seien! Dabei war dies Preußenparlament, gefchrumpfte Frankfurter   Rumpfparlament den Aufruf zur das seiner Nachfolgerin von Gnaden des Verfassungsbruchs, Schaffung von Volkswehren. Die Bajonette sprengten auch der Dreiklassen Duma, solche Schmach antat, zwar aus dem diesen lezten Rest unverwüstlicher Ideologen auseinander. allgemeinen und gleichen, aber zugleich auch aus indirektem Und im Juli begann in Rastatt   die schauerliche Blutarbeit Wahlrecht hervorgegangen, dieweil man das Volt für die der Standgerichte Herrn Calmette, es ist eine Dame, die er kennt, die ihn für einige direkte Wahl noch nicht für reif" erklärt hatte. Und dennoch Seit diesem Triumph des Absolutismus und Feudalismus   Augenblicke zu sprechen wünscht". Man führte Frau Caillaur in faßte dieses aus gefiebter Wahl hervorgegangene Preußen- über das deutsche Bürgertum ist der deutsche Bürgerstolz und einen Salon. Nach etwa einer Stunde gab sie einem Diener einen parlament Beschlüsse, vor denen einem heutigen Dreiklassen- Freiheitssinn immer fümmerlicher zusammengeschrumpft. Was versiegelten Briefumschlag mit der Bitte, den Brief mann das Schaudern ankommen muß. Schaffte fie doch ihn schon damals- halb unbewußt lähmte, der Argwohn Calmette zu überreichen. Als Calmette um Uhr sein Bureau kurzerhand den Adel ab, und obendrein mit der frivolen Be- gegen den Stiefbruder Proletarier, den ungebetenen Gast bei ihm die Diener den Brief. Calmette öffnete den Brief und ent in Begleitung des Akademikers Bourget verließ, überreichten gründung eines Abgeordneten: wenn eine Firma bankrott ge dem Völkerschmaus"- das ist im Laufe der kapitalistischen   nahm ihm eine Starte, die er seinem Begleiter mit den Worten worden sei, sei es Pflicht, sie nicht mit in das neue Geschäft Entwickelung, die aus dem Agrar- und Kleinbürgerstaat zeigte: Entschuldigen Sie mich, ich werde die Dame empfangen." hinüberzunehmen. Solch dicken Strich wollte dies preußische unsere großkapitalistische Gesellschaft mit hundertfach ge- Bourget sagte zu Calmette: Sie werden sie doch nicht empfan­Parlament unter die Zeit des verkrachten Feudalismus steigerter tapitalistischer Raffgier schuf, zum schweren Klok für gen, was sollte sie Ihnen zu sagen haben." Calmette er und Absolutismus   ziehen, daß sie auch mit 217 jeden liberalen Aufschwung zu umgestümer Freiheitsbegeisterung widerte: Es ist eine Frau, ich kann ihr das nicht verweigern." gegen 134 Stimmen beschloß, dem König die Formel geworden. Kaum war er in sein Amtszimmer zurüdgekehrt, als sich die bon Gottes Gnaden" abzuerkennen. Besucherin ihm näherte, und fünf Revolverschüsse gegen Dreist und tempel- Der Junker ist zwar ein unbequemer Barafit und ihn abfeuerte. Alle Redakteure des Figaro", die sich in den be= schänderisch folgte man den Darlegungen des Antragstellers anmaßlicher Patron, aber er stellt doch der ausbeutungsnachbarten Zimmern befanden, eilten in das Arbeitskabinett ihres er trug obendrein den plebejischen Namen Schneider, gierigen Bourgeoisie und dem stupid egoistischen Kleinbürger- Direktors, der blutüberströmt in einem Fauteuil lag und leise natürlich: Gevatter Schneider und Handschuhmacher! der tum seine derben Fäuste zur Verfügung, wenn es gilt, den föhnte. Die Täterin stand unbeweglich in einer Ede da meinte, der Ausdruck von Gottes Gnaden sei ein Begriff gemeinsamen Feind, die moderne Arbeiterklasse in Abhängig. des 3immers. Sie sagte zu den eindringenden Redakteuren: des gestürzten absolutistisch- patriarchalischen Regierungssystems, feit und kapitalistischer Sklavenfron zu erhalten. Da es feine Gerechtigkeit mehr in Frankreich   gibt, wo der Fürst der Herr, der Bürger der Untertan gewesen sei. Die Revolution habe bewiesen, daß auch das Volt bon ziehen. Aus dem revolutionären Bekennermut und Drauf automobil nach einer Privatklinik gebracht wurde. Während der Mag darum das Proletariat aus der Geschichte die Lehre fonnte der Revolver allein hier Einhalt tun." Calmette wurde ein Notverband angelegt, worauf er in einem Gottes Gnaden" sei. gängertum des Bürgertums im Wonnemond des revolutio Fahrt flüsterte Calmette wiederholt die Worte:" Ich habe meine Die Revolution! Welcher Fortschrittsmann von heute nären Freiheitsrausches, daß es seine demokratischen Ziele Pflicht getan." verhüllt nicht sein Haupt vor diesem schreckhaften Begriff. nimmer zu hoch stecken, niemals rücksichtslos genug Der Tod Calmettes. Aber damals waren die Abgeordneten in der preußischen vertreten kann, will es nicht selbst hinter den Vorgängern Nationalversammlung gar nicht so schreckhafter Natur. Ein unseres Liberalismus kläglich zurückbleiben. Aus dem Verlegungen erlitten, daß die Aerzte ihn andauernd Abgeordneter stellte den Antrag, in Anerkennung der Revo- jammervollen Versagen, aus der kläglichen Entartung des lution zu Protokoll zu erklären, daß die Kämpfer des 18. und Bürgertums aber soll das Proletariat lernen, daß es sich bei 19. März sich ums Baterland verdient gemacht haben." Möge feinem Emanzipationstampfe auf nichts verlassen darf, als auf man, so führte er aus, die Schrecken des Kampfes beklagen, seine eigene Straft.

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Paris  , 17. März. Calmette hatte dreiso schwere unter Morphium hielten, um die furchtbaren Schmerzen, die er litt, zu mildern. Eine der Kugeln hatte das Bauchfell durchschlagen, während eine andere eine der großen Arterien getroffen hatte. Die Aerzte hatten ursprünglich beschlossen, so stehe es doch fest, daß eine solche Staatsumgestaltung nur Das Proletariat aber verdiente nicht Freiheit und Leben, nehmen. Der Zustand des Kranken war jedoch so schwer, daß im Verlaufe des heutigen Vormittags eine Operation vorzu­in großen Katastrophen des Kampfes geboren und fest ge- wenn diese Erkenntnis es zu entmutigen vermöchte, statt es der erste chirurgische Eingriff bereits im Laufe der Nacht ge= gründet werden könne. Dieser Antrag wurde zwar- freilich mit Stolz und Kampfeszorn zu erfüllen. Denn mehr als macht werden mußte. Calmette war jedoch nicht mehr zu nur mit winziger Mehrheit abgelehnt, allein in der acht Zehntel des Voltes bestehen aus Proletariern. Niemals retten. Er starb, ohne das Bewußtsein wieder erlangt au motivierten Tagesordnung, die alsdann Annahme fand, hieß hat eine kämpfende Klasse ein solches Schwergericht an Baht haben. Er hat ein Alter von 55 Jahren erreicht. An seinem es immerhin, daß das Verdienst der Kämpfer um die großen in die Wagschale zu werfen vermocht. Sorge der Klaffen- Sterbelager weilte seine Gattin und zwei seiner Kinder. Märzereignisse unbestritten sei. bewußte Teil dieser Masse dafür, daß etwas vom Geiste der Das Verhör. Wir alle wissen ganz genau, wie wenig Bedeutung diese Märzstürme von 1848 das Proletariat durchbrause, und die Paris  , 17. März. Caillaug erfuhr die Nachricht von dem papierenen Beschlüsse für den unerbittlichen Gang der poli- Zeit, die seit einem halben Jahrhundert bleiernstem Schlafe Attentat telephonisch von dem Direktor des Polizeipräfekten. Er tischen Ereignisse gewannen und gewinnen konnten aber verfallen, wird sich ermuntern und mit Siebenmeilenstiefeln war aufs tiefste erschüttert, da nichts in dem Benehmen seiner dennoch, wie chimborassohoch steht dies Bürgertum, das sich marschieren! Frau darauf schließen ließ, daß sie fich mit dem lan trug, einen

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