Einzelbild herunterladen
 
Nr. 273 1918
Unterhaltungsblatt des vorwärts
Ireitag, 4. Oktober
Alm unö Tatkraft. Bon Adrien Turel  . Bei der gewaltigen Ausdehnung, welSe die Filmindustrie ge­wonnen hat, ist es nicht verwunderlich, daß in den Zeitungen gegen- wärtig io viel darüvcr geschrieben wird. Und bei der literarisch so mittelmäßigen Produltion dieses Gebiete« ist eZ nicht erstaunlich, daß so viel Abfälliges über den Film geschrieben wird. Den meiste» Tadlern merkt man eS an, daß sie sich außerordentlich eingehend mir dem Gegenstand beschäftigt haben. Daraus kann man ihnen schwerlich einen Vorwurf machen, denn nur ein Narr schreibt über Dinge, die er gar nicht kennt. WaS man ihnen aber zuweilen ver- Übeln möchte, ist, daß das Studium des Films sie so wenig zur Erkenntnis eines Wesens geführt hat. Immer wieder dieselben Vor- würfe werden gegen das Filmrepertoir erhoben. Ganz allgemein wird da zunächst geklagt, in den meisten dieser Dramen und Luftipiele geschehe überhaupt nichts oder doch wenigstens nichts Vernünftiges. Was ist vernünftiges Geschehen? Arbeit in irgend einem Sinne. Das zuschauende Erfasien einer geistvollen Handlung ist gleichfalls Arbeit. Wenn sich nun nachweisen ließe, daß die wirksame Filmliteratur dieser Mühewaltung im aktiven ebenso wie im passiven Sinne fast überall aus dem Wege geht, läßt sich vielleicht aus dieser Beobachtung das Grundgesetz heraus- destillieren, daß es eben die tiefste ErfolgSbedingung� des FilmS sei, daß er keine Arbeit vorführt und keine voraussetzt. Sehen wir zunächst weiter zu! Man sagt: die Helden de« Films verrichten niemals einen vernünftigen Handgriff, so gut wie niemals. Sie leiden nur in schöner Pose, sie genießen und wandeln mit Würde und Anmut wirkungslos wie Traumschatten durch die Landschaft oder Staffage. Zumeist stehen oder sitzen oder liegen sie gan» still und warten' Sie erwarten das Essen, das Diener ihnen bringen, sie rauchen Zigaretten und erwarten Besucher, die immer SchicksalSboten find. Sie erwarten Glück und Unglück, nie von der eigenen Kraft, immer von außen her, Schicksalsbriefe. Telegramme, welche Ruin und Reichtum. Millionenerbschaft oder Enterbung, das große Los, irgend ein Gnadengeschenk des Himmels bringen. Ihr Leben scheint von dem Grundsatz beherrscht zu sein: du darfst nicht arbeiten, du brauchst auch nicht zu arbeiten! Lass' dich nur treiben I Wenn sie ihre Geldmittel erschöpft haben, so kämen sie nie auf den Gedanken zu�arbeiten. Sie können sich eine Mitgift erheiraten oder ein Vermögen aus einem Geldschrank brechen. Sie können sich auch an den Spieltisch setzen und mit hervorquellenden Augen Fortuna   zu hypnotisieren suchen. Wenn auch da« mißlingt, bleibt nichts übrig als Selbstmord oder Gaunerei. Da fällt ihnen ein: eine ErwerbSmöglichkeil gibt e« doch noch im Film. Vor Ein« setzen der Handlung hat der Held zuweilen eine Erfindung gemach«, die ihm in drei Minuten Frack. Lack, Claque und das so sehr mit Recht beliebte Automobil verschafft. Nun könnte man auf den naiven Gedanken kommen: eine Er« findung zu machen, das wäre Arbeil. Dies ist im wirklichen Lebe» auch tatsächlich der Fall, nicht aber im Film und nicht für den Filmziischouer. Erfinden ist eine Wollust und eine Oual. aber für den Durchschnittsmenschen, welcher dergleichen niemals durch- gemacht hat, fällt der Erfolg dem Erfolgreichen unverdienter- «nahen zu. Ein Gnadengeschenk der Intuition. Ich habe die Ehre, einen faulen und wenig erfolgreichen kleinen Fabrikdirek- tor zu kennen. Wenn der mit dem Abschluß so recht von Herzen unzufrieden ist, oder einen tiefsten Widerwillen verspürt, inS Ge- fchäft zu gehen, dann erträumt er große Patentsachen. So beim Frühstücken, beim Ankleiden cfocr Rasieren fällt ihm etwas ein, da« fiür die Zukunft so epochal und revolutionierend sein wird wie für die Vergangenheit Telephon oder Unterseeboot. Dolch eine geniale Erfindung ist ihrem Wesen nach bekanntlich in einer Viertelstunde zu Papier gebracht, nach drei Wochen patentiert und '.ine halbe Stunde später begannen die Milkionen in« HauS zu strömen. Diese Pfeudoerfindertätigkeit des Filmheroen ist wieder nicht« anderes als der Glücksfall des großen Loses, der Traum de« Kinde?, der den goldenem Blitz des Himmels mühelos ab­fangen möchte wie einen zugeworfenen Kranz. Da! ist der Sinn des FilmS: Traumland aller Wunfcherfül- lungen, Schlaraffia des kleinen Mannes zu sein. Wer in der Wirklichkeit tagein tagairS erbittert um seinen mähigen Lebens- unterhalt mit dem Schicksal balgen muß, der ruht am Abend gern von den Enttäuschungen des Lebens vor den schwelgerischen Per- spektiven. geschenkten Reichtums aus. Der Mensch ist nicht aus weichlich femininer, der empfangen und sich verhätscheln lassen will. Ter Intellektuelle soll sich nicht allein für tom- pliziert halten wollen. Auch die Arbeiter, sonderlich die Frauen daunter, sind so. Nachdem das Mril-Tatkraftige an ihnen sich in einer nicht gerade leicht bemessenen Arbeitsleistung erschöpft
und verausgabt hat, abreagiert wie die Psychopathologen sagen, stellen sie sich vor der zuckenden Leinwand zuschauend und empfangend ein und lassen sich mit ihren Helden vom Glücke ver- wohnen oder mißhandeln, auf jeden Fall aber führen. Sie empfin- den etwas wie eine mystische Wollust, sich beherrschen zu lassen. Nachdem so eine arbeitende Frau sich zwei oder gar viermal des Tage? alle Eingeweide im Leibe von einem diletticrenden Straßenbahnführer hat müssen durchbuttern lassen, welcher, wie »in schlechter Staatsmann, durch unmotiviertes Rucken und Bremsen daS Gefüg« des ihm anvertrauten Gefährtes erschüttert, gibt sie sich dann am Mend, mit Held oder Heldin, in den gleichen Polstern fahrend, dem wogenweichen Traumgefühl einer Fahrt in einem gut abgefederten Auw hin. Den Hoch- und Höchst- intellektuellen kommt das albern vor, aber wenn man das Symbol- auto durch Fausts Zaubermantel ersetzen würde, der unS hoch oben durch rosenweiche Lüft« über alle Unebenheiten des Erden- lebenS hinwegzutragen verheißt, leuchtet e? dem Durchgeistigten schon bedeutend besser etn; und doch ist es genau dasselbe, nur um einige Grade sublimiert und gesteigert. AlleS ist ckben relativ, auch die Wunföberfülkung; man kann nicht billigerweife verlangen, daß eine Hökerfrau die tragische KatarsiS, die im Schicksal von Strindberg« Menschen liegt, als ihrem LebenSproblemkreiS entsprechend empfindet. Seit der Zeit. welche die volkstümliche Gestalten de« GargantaS. des Hanswurst und Pickxlhering schuf und liebte, haben wir doch wohl einige Fortschritte gemacht. Trotz der gewiß harten Entbehrungen, die der Krieg unS auferlegt, ist mir noch niemals ein Film begegnet. der feine Wunscherfüllung etwa rein auf völlerifcheS, schlaraffia- mäßigeS Essen und Trinken eingestellt hätte. Wonach sich daZ Volk gegenwärtig sehnt, ist offenbar das gesicherte, etwa? spießige Behagen der DurchschnittSlebenShaltung, wie man sie vor dem Kriege hier zu Laüde auch bei bescheidenen Mitteln haben konnte. Auf die Filmleinewand projiziert, machen diese dielfach verkapp- ten, aber sich doch wenig wiederholenden Szenen sonntäglichen Kleinbürgerleben? naturgemäß nicht de» Eindruck künstlerischer Offenbarungen. Aber unS scheint eS ganz klar, daß die kriegZ- wirtschaftliche Entwicklung darauf einen weit stärkeren Einfluß hat als di« vielverschriene Phantasielosigkeit der Filmregisseure. Je mehr uns die Wirklichkeit das Notdürftigste entbehren läßt, desto mehr werden wir. wird wenigstens eine große Masse in der Darstellung allerplattesten Komforts die Befriedigung ihrer be- herrschenden Wünsche finden.
Unser Kompagnieführer. Die Granaten kann ich nickt vergessen, die hoch in den Himmel hineinfliegen, zwischen die engelguten Sterne. Die Sterne dachten sich gerade ganz liebe, silberweiße Kinder- gebetlein aus. Die Blumen kommen mir nicht aus dem Sinn, die von meinen Stiefeln zerstampft wurden. Ich kann die weichen, hellen Kinderaugen einer Quelle nicht vergessen, in der ich meine blutigen Hände gewaschen habe. Und dann--- Unser Kompagnieführer war ein Dorsschullehrer. Do einer, der immer, wenn er die Kinder das ABC lehrte oder das Einmaleins oder die Bibelkapitel, einfach dachte: War doch Kirmes, damit ich tanzen könnte. Oder da. gerade bei der Frage: wieviel ist 7 mal 7, da klapperte auf dem SckulhauSdache ein Storck. Unser Kompagnie« führer, der Dorfschullebrer, der dachte da: Gott, wenn meine Frau doch ein lleines Mädchen kriegt, damit mein Junge Gesell- schaft hat. Oder: Wie heißt der Erfinder des SchießPulverS?-- Der Dorfschullebrer, unser Kompagnieführer. der dachte da: Uebermorgen hat meine Frau Geburtstag. Hoffentlich ist da der Flieder noch nicht verblüht, damit ich ihr einen schönen Strauß pflücken kann. Und der war unser Kompagniesübrer. Ein Gesicht: Wenn der Helm nicht gewesen wäre, ein richtige» MathiaS-ElaudiuS-Geficht. So ein Paar Augen, die die Sterne zählen können und ganz glücklich gucken können, wenn da mal ein Soldat ein leises Liedchen auf Posten singt. » Ein grauer Morgen; ein grauer, grauer Morgen. Er in der Mitte, der Dorfsckullehrer, der daheim ein SchulhauS bat mit Klapverstörcken auf dem Dache. Wir um ihn rum. Kameraden I Habt ihr eure Gewehre gereinigt? Ein dreckigeS Gewehr ist kein Gewehr. ISO Patronen müßt ihr haben. Habt ihr euch auch
satt gegessen?--- Sturmriemen runter.--- Nicht bange fein.--- ES ist ja nur halb io schlimm.--- Ueberhaupt, ich bin ja bei euch.--- Ich bin ebenso dran wie ihr.--- Ich--- ich-- ick habe--- einen----- kleinen Jungen--- zu Hause.--- Der hat einen Papier  - Helm auf dem Kopfe und ein Holznewehr in den kleinen Händen. --- Den Jungen habe ich vorlassen müssen.--- Es hilft nichts.--- Aber wir haben ja immer Glück gehabt.--- Denkt an die Njemenschlacht.--- Verzagt nicht, eS wird noch alles gut werden.--- Nach diesem Sturm.--- Paßt auf, eS wird der letzte Sturm,--- Der liebe Gott da oben --- der kann uns nicht verlassen.-- Lo?!---- Erster Zug schwärmt auS!--- Zweiter Zug einschwärmen. --- Bajonett pflanzt auf I---- Trumm tumm---- tumm--- terumm--- tumm--- tumm.-i Hurra!--- Hur-- r-- a a!-- * Grau war der Morgen' grau; ganz grau.-- Unser Kompagiiieiiihrer ist nicht wiedergekommen.-- Und er hatte doch daheim einen kleinen Jungen mit einem Papierhelm auf dem Kopfe und einen Holzsäbel in der Hand. DaS will mir gar nicht auS dem Sinn. Es war so schade um ihn, lieber, lieber Gott  . _ Max Jungnickel.  £fn Wettrennen zwischen Kopf und Mafchine. Die Maschine ersetzt nicht nur Hände, sondern auch Köpfe. und wenn auch nicht die ganzen Köpfe, so doch manche ihrer Fähige ketten, deren Ausübung viel Nerven und Zeit kostet und schließ- lich sogar von der Maschine noch besser gemacht wird. DaZ trifft vor allem auf das Rechnen zu. Die Rechenmaschine ist in ihre» An- sängen eine ehrwürdige Erfindung, aber ihre ersten Vertreter ver- halten sich zu den neuesten Errungenschaften der Erfindung und Kvnstrukrion ewa wie ein Hundekarren zu einer elektrischen Unter- grundbahn. Es ist nützlich, einmal auf Grund wissenschaftliche:: Untersuchungen zu erfahren, wie sich die Leistungen der heute besten Rechenmaschinen zu denen der besten Rechenköpf« verhalten. Solche Prüfungen sind am psychologischen Institut in Zürich   vor- genommen worden und werden in ihren Ergebnissen von Dr. Hintermann in derUmschau" erörtert. Drei Fragen sollten dabei beantwortet werden, ersten? ein Vergleich der Höchstleistung bei kurzer Dauer, zweitens ein Vergleich des Zeitaufwandes bei lau- ger Rechentätigkeit, und dritten? die Veränderungen der Leistun- gen durch Uebung. Es stellte sich zunächst heraus, daß bei kurzer Dauer die Maschin« etwa Sf�mal schneller arbeitete, als der beste Rechner. Ferner war die Ueberlegenheit der Maschine umso größer, je länger die zu addierenden Zahlen waren. Für ein« Maschine gilt«S eben gleich, ob eS sich um zwei, oder fünfstellige Zahlen handelt, während sich der Zeitaufwand bei fünfstelligen Zahlen beim Rechner schon nahezu vordoppelt. Sodann arbeitet« die Maschine ganz gleichmäßig, WaS beim Menschen auch unter den günstigsten Bedingungen nicht zu erwarten ist. Die mensch» lichen Nerven sind eben stets einer gewissen Ermüdung unter» warfen, die sich sowohl bei der Dauer der Arbeit wie bei ihrer Er, schwerung zeigt. Die Uebung hilft dem Rechner auch nicht so viel wie bei der Benutzung der Maschine, deren Leistungen sich schon um ein Mehrfaches steigern, wenn sich ihre Bedienung auch nur eine Stunde lang mit ihr vertraut gemacht hat.
Notizen. Volksbühne. Am kommenden Mittwoch findet die Erst- auffuhruttjj von Tschechows Kirschgarten statt. Königliches Opernhaus. Am kommenden Montag findet nachmittags 2% Uhr ein« Vorstellung von Hänsel und Gr«tel und Pu p p«n f«« zu ermäßigten Preisen statt. Kleine? Tyealer. Die für heute angesagte Erstauf- führung vonA l t» N ii r n b e r g" muß wegen Erkrankung dreier Mitglieder auf näckste Woche verschoben werden. Humboldt-Akademie Freie Hochschule. Am Dienstag. 15. d. Mt?., beginnt Direktor Friedrich Moest   in derReickertschen Hockschule", Fasanenstr. 38, einen zebn Dienstag­abende umfassenden Kursus»Die Kunst des Vortrags" mit prakliscken Hebungen. G o r ki über die russische Revolution. Die Aufsätze, die der bekannte Schriflfteller und Sozialist Maxim Gorli seit Ausbruck der Revolution bis in die jüngste Zeit über die inneren Zustände seines Vaterlandes geschrieben hat, erscheinen jetzt in deutscher Sprache als Hauptinhalt des OkioberhefteS der»Süd- deutschen Monatshefte":.Ein Jahr russische Revolution".
IO  «]
iobj.
Das gelobte Land. Roman von W. St. Reymont  . Tie schauerte nervös. Heber �ihr schönes Gesicht flog ein Sckiein des Ekels und AbscheuS. Sie hielt ein Spitzrntaschen- tuch vor die Nase, als ob sie einen unangenehmen Geruch abwehren wollte. Dem ist nicht abzuhelfen, um so mehr, als Ihr Sohn seine Patienten lieb hat. DaS ist eine Utopie von ihm," er- widerte Borowiecki mit leiser Ironie. Frau Wysocka hüllte sich eine Zeitlang in Schweigen. Seltsame Reflexe cineö grünlichen GoldeS, daS durch den blaß- grünen Wandschirm vor dem Fenster durchsickerte, fielen auf ihre vornehme Gestalt. Sie beugte sich etwas zu Borowiecki vor und fragte leise: Kennen Sie Fräulein Melanie Grünspan?" Sie sprach den Namen mit sichtlichem Abtcheu auS. Ja, aber bloß vom Sehen, von den Gesellschaften her, persönlich nur ganz flüchtig." Schade!" sagte sie leise und erhob sich. Mit majestätischem Ernst durchschritt sie einige Male das Zimmer. Karl folgte neugierig ihren königlichen Bewegungen und fühlte, daß sie sehr erregt war. obwohl er in der Dämme- rung, die daS Zimmer erfüllte, ihren Gesichtsausdruck nicht genau sehen konnte. »Wissen Sie, daß diese? Fräulein Melanie in Mjctschek verliebt ist?" fragte sie endlich offen. Ich habe daS Gerücht in der Stadt gehört, beachtete eS aber nicht weiter." DaS redet sich also schon herum! DaS ist ja kom- promittierend!" Entschuldigen Sie, gnädige Frau, ich werde eS Ihnen gleich erklären. Man erzählt sich, daß die beiden sich lieb haben. Man spricht von einer eventuellen Heirat." Niemals! Ich gebe Ihnen mein Wort, daß eS nicht dazu kommen wird, solange ich lebe!" rief sie mit gedämpfter. leidenschaftlicher Stimme.Mein Sohn sollte eine Grünspan heiraten!" Die nußbraunen Augen flammten in kupferrotem Glanz auf, und tiefe Empörung strahlte aus dem stolzen, schönen Gesicht,
Fräulein Melanie erfreut sich in Lodz   eine? besonders guten RufeS. Sie gilt für sehr klug, dabei ist sie sehr reich und auch sehr schön. Deshalb wäre.. DaS nützt alles nichts. Sie ist doch eine Jüdin!" flüsterte Frau Wysocka. Tiefe Verachtung lag in ihren Worten, fast Haß. Stimmt, sie ist eine Jüdin. Wenn sie aber Ihren Sohn lieb hat und er sie auch, dann ist doch die Sachlage cigcnt- lich klar und die Unterschiede ausgeglichen." Borowiecki sprach hart. Ihr Protest reizte ihn und erschien ihm lächerlich. »Mein Sohn kann wohl in eine Jüdin verliebt sein, darf aber nie daran denken, unser Blut mit fremdem Blut zu vermischen, und dazu noch mit dem Blut der jüdischen Rasse!" Entschuldigen Sie, gnädige Frau, aber ich erblicke eine große Uebertreibung in dem. was Sie da sagen." Und warum heiraten Sie Anka? Warum nehmen Sie sich nicht eine von den deutschen oder jüdischen Mädchen auS Lodz   zur Frau, wie?" Weil mir keine von ihnen gefallen hat, ich meine in solchem Grade, daß ich an die Ehe dächte. Wenn eS aber der Fall wäre, würde ich mich keinen Augenblick besinnen. Ich habe keine gesellschaftlichen und auch keine Rassevorurteile und halte solche für völlig überlebt." Borowiecki sprach' sehr ernst. »Wie blind seid ihr doch. Nur von den Sinnen laßt ihr euch leiten und denkt nicht an die Zukunft, nicht an eure eigenen Kinder, an die künftigen Generationen!" rief sie und rang die Hände vor Empörung und Mitleid. Warum?" fragte Borowiecki kurz und schaute auf die Uhr. Weil ihr zu Müttern eurer Kinder Jüdinnen wählen könnt, weil ihr nicht einsehet, daß diese Frauen uns ganz fremd sind, daß sie keine Religion haben, keine Ethik, keine gesellschaftlichen Traditionen. Daß eS Frauen sind ohne Vergangenheit und ohne Ideale." Borowiecki erhob sich, um sich zu verabschieden. Daß Gespräch wirkte lächerlich auf ihn und empörte ihn zu- gleich. Herr Borowiecki. ich habe Sie herbemüht, um Sie um Hilfe zu bitten, um meinem Sohn diese Heirat auszureden. Ich weiß, daß er Sie schätzt, vielleicht wird er auf Sie, als auf unseren Detter, mehr hören. Sie verstehen mich doch, und Sie müssen es mir nachfühlen: ich kann es nickt zu- lassen, daß eine KrämerStochter hier herrschen soll, inmitten
der Andenken und der lebendigen Erinnerungen der vier" hundertjährigen Vergangenheit unseres Geschlechts. WaS würden die dazu sagen!" rief sie schmerzlich und wieS mir einer breiten Geste auf die Reihe der Porträts, auf die Reihe der Rittergestalten und Senatorenköpfe, die in der Dämmerung wie gelbe Flecken sich vom Hintergrund ab- hoben. Borowiecki lächelte bissig, berührte mit den Fingern eine alte, verrostete Rüstung, die zwischen den Fenstern stand, und sagte rasch, mit Nachdruck: Leichen. Die Archäologie gehört in die Museen, daS heutige Leben hat keine Zeit, sich mit Gespenstern abzu- geben." Sie lachen! Ihr lacht alle über die Vergangenheit, dem goldenen Kalb habt ihr eure Seele verschrieben. Die Traditionen nennt ihr Leichen, die Aristokratie Vorurteil, und die Tugend ist für euch ein lächerlicher Aberglaube." Da? nicht. Bloß ist daS heute überflüssig. Was nützt mir die Achtung der Traditionen, wenn ich meinen Pcrkal absetzen will! WaS nützen mir meine Ahnen, wenn ich eine Fabrik baue und Kredit suche! Juden gewähren mir ihn, und nicht Wojwoden. Und wenn die Tradition nur so ein Trüinmerballast ist. dann ist sie eben ein Dorn im Fuß. der einen am Gehen hindert. Der heutige Mensch muß, wenn er keine Lust hat, als Knecht zu freniden Leuten zu gehen sich frei machen von allen diesen Banden, von der Ver- gangenheit, von der Aristokratie und ähnlichen Vorurteilen. Das knebelt bloß seinen Willen und nimmt ihm die Kraft im Kampf mit dem skrupellosen Gegner der öben keinen Traditionen huldigt. Und der Gegner ist vor allem deshalb gefährlich, weil er sich selbn Vergangenheit. Gegenwart und Zukunft ist, weil er sich selbst Mittel und Ziel ist." Nein, nein! Aber lassen wir das. Vielleicht haben Tie recht. Ich werde von meinem Standpunkt nie ab- lassen." Wysocki stürzte herein. Er sah übermüdet imd blaß auS. Seine Krawatte hatte sich verschoben, sein Haar ver­wirrt. Er entschuldigte sich, daß er nicht gleich herübergekommen wäre, und verschwand sofort wieder. Man rief ihn tele- phonisch in die Fabrik, wo die Maschine einem Arbeiter die Hand zerquetscht hatte. Borowiecki benutzte die Gelegenheit, um sich zu verab» schieden. Eorts. folgt.)