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Abendausgabe

Nr. 331 44. Jahrgang Ausgabe B Nr. 163

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Vorwärts

Berliner Volksblaff

10 Pfennig

Freitag 15. Juli 1927

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Zentralorgan der Sozialdemokratifchen Partei Deutschlands  

Straßenkämpfe in Wien  .

Demonstrationen gegen den Schattendorfer Freispruch.  - Die Polizei geht

gegen Demonstranten vor und schießt.

Wien  , 1.30 Uhr mittags.( Eigener Drahtbericht.) Als heute morgens die Arbeiter von Wien   das frei­sprechende Urteil der Geschworenen über die Arbeiter mörder von Schattendorf   erfuhren, bemächtigte sich ihrer stürmische Empörung. Sie äußerte fich alsbald darin, daß das Personal der städtischen Straßen- und Stadtbahn den Verkehr von 8 bis 9 Uhr morgens ftillegte. Die Arbeiter traten in den Betrieben zu Beratungen zusammen. Eine Parole 3u irgendwelchen Demonstrationen oder sonstigen Affionen ist von der Sozialdemokratischen Partei nicht ausgegeben worden.

Eine Reihe von Betriebsversammlungen beschloß, sofort die Arbeit niederzulegen und auf die Ringstraße vor das Par­lament und das Rathaus zu ziehen. Gegen halb 10 Uhr morgens Irafen die ersten Züge vor dem Parlament ein. Rasch waren viele Tausende versammelt. Es wurde eine Abordnung in das Parlament entfendet, um gegen das Urteil zu profeftieren. Die demonstrierenden Arbeiter warteten in Ruhe auf das Wiedererscheinen und den Bericht der Abordnung.

Inzwischen aber war von der Polizeidirektion auf dem Schol­tenring ein Trupp berittener Polizisten zum Parlament entfandt worden. Der Führer der Berittenen wußte offenbar nicht, worum es fich handelte und gab seiner Mannschaft ohne ausreichenden Grund den Befehl, die Straße vor dem Parlament von den Demonstranten zu räumen. Die Menschenmenge wurde aber fortwährend durch weiteren 3uzug aus den Arbeiter. tezitten verstärkt. Dem Borgehen der Polizei wurde Wider­fund entgegengesetzt.

Dies hatte wieder zur Folge, daß mit Cast autos und mit der Straßenbahn, die den Betrieb um 9 Uhr wieder aufgenommen hatte, Polizeifrupps aus allen. Stadtteilen herbeigeschafft wurden. Es entspann sich vor dem Parlament ein Hin und Her sschen der Polizei und den Arbeitern, wobei wahrscheinlich auch Demonstranten dem gewaltsamen Vorgehen der Wachleute gewalt­fame Abwehr entgegenfehlen. Abwechselnd war die Ringstraße enfdjenleer und gleich wieder, als die Polizei sich kaum zurückgezogen hatte, wieder von Tausenden von Arbeitern besetzt. Es sollen gegen die Wache Steine geworfen sein.

Die Polizei schießt.

- Tote und Verwundete.

Da auch die Zeitungsfeher und Druder in den Pro­teft ftreit getreten sind, konnten die Mittagsblätter nicht erscheinen und auch das Erscheinen der Abendblätter ist äußerst zweifelhaft. Die Kämpfe beschränken sich auf die Gegend des Parlaments, sonst ist in der Stadt nichts vorgekommen. Gerüchtweise verlautet, daß auch in Wiener- Neustadt   infolge des Schaffendorfer Frei­ipruchs große Demonftrationen der Arbeiter vor fich gehen, die die Arbeit niedergelegt haben.

Die Parlamentstätigkeit ist unterbrochen. Sämtliche Ausschüsse wurden auf Dienstag vertagt, allgemein herrscht die Auffassung, daß eine Weifertagung des Parlaments taum möglich sein wird. Die sozialdemokratischen Abgeordneten befchloffen, dahin zu wirken, daß der 3uzug von Arbeitern aus den Vorstädien zum Parla­ment aufhört. Die Kundgebungen dauern an.

Die Polizei zurückgezogen.

Wien  , 15. Juli.  ( WTB.) Der Polizeipräsident hat den Auftrag gegeben, die Wache, insbesondere die berittene wache zurückzuziehen. Trotzdem dauern die Demonftra­fionen, insbesondere vor dem Justizpalast, mit unverminderter Heftigkeit fort.

Neun Todesopfer gemeldet.

Wien  , 15. Juli.  ( TU.) Wie im Parlament joeben verlautet, haben die heutigen Demonstrationen bisher neun Todesopfer gefordert. Die ersten Toten gab es bei dem Sturm der Demon­ftranten auf die Wachstube in der Lichtenfelsgaffe.

Ein Trupp Demonstranten stürmte die Expeditionsräume der Großdeutschen Wiener Neuesten Nachrichten". Sämtliche Möbel und das Expeditionsmaterial wurden auf die Straße geworfen und in Brand gesteckt. Ein Versuch der Demonstranten, auch in die Re­daktionsräume einzubringen, wurde von der Polizei mit Unter­

Das antifaschistische Lettland  .

Nun machte die Polizei, da ihre Führer die Sicherheit ihrer Ein halbes Jahr Koalitionsregierung. Truppen gefährdet glaubten, von der Waffe Gebrauch. Es wurde mit Säbeln eingehauen, da aber die Massen immer noch

Riga  , Mitte Juli. Am 25. Dezember vorigen Jahres wurde die sozialdemo­nicht wichen oder auch bald wieder zurückkehrten, und da die Stim- kratische Koalitionsregierung in Kowno   gestürzt und vom mung immer gereizter wurde, fielen auch Schüsse aus den Pistolen der Polizei, durch die Demonstranten verleht und eine noch nicht feststehende Zahl sogar getötet wurde. Da die Rettungsgesellschaft mit der Bergung der Toten und Verwundeten auf dem Kampfplatz beschäftigt ist, kann die ge­

naue Zahl der Opfer im Augenblid nicht angegeben werden. Inzwischen hatten fowohl die Straßen- und Stadtbahn als auch die Auto buffe ihren Betrieb wieder eingestellt. Des Heranrüden demonstrierender Arbeiter aus den Außenbezirken

dauert an.

triumphierenden Faschismus abgelöst. Am Tage darauf ent­stand in Riga   die Koalitionsregierung unter Führung der Sozialdemokratie. Das litauische Beispiel wurde für sie zur Mahnung, die politischen Bügel fest in die Hand zu nehmen. Republikanisierung der Verwaltung, Kampf gegen den Faschismus wurde ihre Hauptaufgabe; die linksradikalen Elemente, die Kommunisten, bedeuten für die lettische Demokratie teine Gefahr mehr; eine solche droht mur von rechts; dieser galt es zu begegnen.

Das tat die Regierung, als in Wolmar   ein betrunkener faschistischer Leutnant mit seiner Kompagnie Postamt und einnahm. In wenigen Stunden war der

ftüzung der Redakteure und des Personals vereitelt. Bei dem Hand­gemenge wurde ein Schuhmann verwundet. Die Feuerwehr ist be­müht, das Feuer in der Polizeiwachstube und im Gebäude der Wie ner Neuesten Nachrichten" zu löschen. Im Parlament und in den öffentlichen Gebäuden sind Rettungsstationen eingerichtet worden, die ununterbrochen in Anspruch genommen werden.

Schweres Eisenbahnunglück bei Kaffel.

Ein Toter, zwei Verlekte.

affel, 15. Juli.  ( WTB.) Die Reichsbahndirektion Kaffel teilt mit: Heute vormittag gegen 8 Uhr fuhr der Personenzug 640 mit: Heute vormittag gegen 8 Uhr fuhr der Personenzug 640 von Warburg   nach Altenbeken   auf den vor dem Bahnhof Altenbeken  haltenden Güterzug 6710 auf. Von dem Güterzug find zwei Wagen zertrümmert und mehrere Wagen zur Entgleifung gebracht. Die otomotive des Personenzuges ist start beschädigt und der Padwagen des Personenzuges zer­trümmert. Der Zugführer des Personenzuges ist tot, ein Schaffner schwer und einer leicht verlegt. Die Reifen­den blieben unversehrt. Die Strede Altenbeken- Warburg wird voraussichtlich zehn Stunden gesperrt sein. Der Zugverkehr wird durch Umleitung aufrecht erhalten.

Die Ursache des Unglückes konnte, wie die Reichsbahndirettion mitteilt, noch nicht einwandfrei geklärt merden. Da der Personenzug jedoch in einen ganz anderen Abschnitt, in dem der Güterzug hielt, hineingeraten ist, scheint irgendein Mißverständnis den Zusammenstoß verursacht zu haben. Die Züge werden jedesmal telegraphisch zurückgemeldet und ist in diesem Falle die Meldung vermutlich versäumt worden. Kurze Zeit nach Bekanntwerden des Zusammenstoßes erschien eine Untersuchungskommission an der Unfallstelle, um alle näheren Einzelheiten zu überprüfen.

Bedeutet somit der Faschismus immer noch eine Gefahr, so hat der Bolschewismus in Lettland   längst aufgehört, es zu sein. Die Dritte Internationale   ist jetzt vollauf mit dem Fernen Osten und mit dem Nahen Westen beschäftigt, und da dürfen sich die Randstaaten, Bolen allerdings ausge­nommen, einer gewissen Ruhe erfreuen. Die Kommunistische Partei   ist hier nach wie vor illegal; fie führt aber ihr Dasein in legalen Gewerkschaften und anderen Institutionen und wird von den Behörden geduldet. Die Sozialdemokratie Lett­ lands   hätte nichts gegen ihre Legalisierung, denn in diesem zustande wäre sie noch weniger gefährlich. Die Sozialdemo fratie sieht aber keinen Grund, die kommunistische Frage zum Bantapfel innerhalb der Koalition zu machen.

Der Waffengebrauch der Polizei ftachelte die Erregung der Demonstranten zur hellen Wut an. Die Polizeiwachstube in der Bartenfteingaffe, unmittelbar neben dem Rathaus, foll in Butsch" liquidiert. Die Fäden schienen aber weiter die Nichtaggression harrt zwar noch immer seiner Bollen­Brand gestedt sein.

Der Justizpalast in Brand gesteckt.

Biel   schlimmer aber ist die Situation gegenüber dem Parlament: Da unter den Maffen sich die Meinung rasch verbreitete, daß die Polizei aus dem Justizpalast geschossen habe, wurde diefes gewaltige Gebäude, in dem sich die Obersten Gerichte befinden, gestürmt. Biele Affen wurden in die Borhalle geschleppt und ein großer Scheiterhaufen daraus errichtet, der ange­zündet wurde. Das Feuer griff rafch um sich, da es an den Holz­möbeln, Tuchbelagen usw. Nahrung fand, so daß der Justizpalast zur Stunde ein Feuerherd ist, ja jogar bis unter das Dach in Flammen steht.

Die rasch herbeigeeilte Feuerwehr konnte die Löschungs­arbeit nicht aufnehmen, da sie von Demonstranten be hindert wurde, nahe genug an den Justizpalast heranzukommen.

Die Polizei soll entfernt werden. Der Nationalrat   ist augenblicklich nicht versammelt, wenigstens nicht zu einer Bollfigung. Der sozialdemokratische Par­teivorstand ist inmitten des Sturmes auf der Ringstraße im Parlament zusammengetreten und hat sich sofort mit der Bundes regierung und dem Polizeipräsidenten in Berbindung gefeht, mit dem Ergebnis, daß die Polizei aus dem Kampfviertel zurüdgezogen worden ist und starke Abteilungen des Republi­tanischen Schuh bundes und uniformierte Straßenbahner den Ordnungsdienst in der Gegend des Parlaments übernommen haben. Man hofft, durch die Entfernung der Polizei, deren An­wesenheit die Demonftranten nach dem Borgefallenen noch mehr er­regte, der Wiederherstellung der Ruhe nahezukommen,

: zu führen. Der Wolmarer Erzeß war mehr als das. Das Abrücken der nationalistisch- faschistischen Elemente in Riga  vom Leutnant in Wolmar   fonnte niemanden täuschen; er hatte zu früh losgeschlagen und sollte nun allein die Rechnung begleichen. Diese war aber gar nicht hoch: ein paar Monate Psychiatrischer Klinik war alles, was für ihn dabei herausfam.

Die Regierung griff durch. Die Haussuchungen und Ver­haftungen, die Schließung des nationalen Klubs, die die poli­tische Polizei vornahm, waren dabei von geringerer Bedeu­tung als die verschärfte Ueberwachung aller faschistischen Ele­mente, wie die Schaffung von Feldgerichten. Die Regierung hatte weder einen Anlaß, den ordentlichen, noch den Kriegs­gerichten zu vertrauen. Sie wollte für die Feinde der Re­ publik   und der Demokratie besondere Gerichte schaffen. Sie entstanden laut Gefeß, nicht ohne Widerstreben eines Teiles der sozialdemokratischen Fraktion. Die Feldgerichte besitzen auch das Recht, die Todesstrafe zu verhängen, die das ordent­liche Strafgesetzbuch Lettlands  , vom zaristischen Rußland  übernommen, nicht fennt. Allein das Kriegsgericht ist be­fugt, Todesurteile zu fällen.

Die Regierung ist nach wie vor auf der Hut, um der lettischen Demokratie das Schicksal Litauens   zu ersparen; zwar ist das niedere Militär im allgemeinen verläßlich, doch kann man dasselbe nur von einem nicht allzu großen Teil der Offiziere behaupten. Und den 20 000 Soldaten steht eine 20 000 Mann start bewaffnete Landmiliz gegenüber, die zwar den Landräten unterſtellt ist, im übrigen aber ein selbständiges Dasein führt. Diese Landmiliz ist bürgerlich und reaktionär. Der sozialdemokratische Schutzbund zählt da gegen nur 4000 Mitglieder und ist unbewaffnet,

Die verringerte Aktivität der Dritten Internationale in Lettland   ist aber der Fortentwicklung freundschaft­licher Nachbarbeziehungen zwischen der USSR  . und Lettland   zuträglich. Der Handelsvertrag zwischen Ruß­ land   und Lettland   konnte perfekt werden und birgt für beide Teile günstige wirtschaftliche Bedingungen; der Vertrag über Lettland   ist wohl bereit, die Neutralität zu wahren, sofern dung, enthält jedoch keine unüberwindlichen Schwierigkeiten. Rußland mit irgendeinem Nachbarstaate in Händel   geriete; es weigert sich aber, als Teil des Bölterbundes Verpflichtun­es will nicht etwa seine Haut für Polen   zu Markte tragen; Das verlangt aber Rußland  , indem es Forderungen aufstellt, gen einzugehen, die gegen diefen eine Spitze haben tönnten. die darauf hinauslaufen, daß Lettland   unter feinen Um­ständen dem Völkerbund   Folge leiste.

Nachdem der russisch- lettische Handelsvertrag abgeschlossen ist, geht die Regierung daran, einen weiteren Vertrag mit Bolen unter Dach und Fach zu bringen und trifft die erfor derlichen Vorbereitungen zu einem Vertragsabschluß mit Amerika  . Die Ratifizierung aller dieser Verträge soll in einer besonderen Saeima- Periode erfolgen. Die Opposition will den russischen Handelsvertrag unter Umständen zu einer Kraftprobe ausnutzen und den Sturz der Regierung herbei­führen. Die Koalitionsregierung hat sich aber nicht abhalten lassen, den Handelsvertrag mit der USSR  . gerade in dem Augenblick zum Abschluß zu bringen, da England seine diplo­matischen Beziehungen zu Rußland   abbrach und den Arcos aus dem Lande wies. Englands Beispiel lockt die lettischen Faschisten zur Nachahmung. Sie wünschen teine freund­schaftlichen Beziehungen zu Sowjetrußland. Sie hoffen die übertriebene Angst verschiedener Kreise vor dem Bolschewis­mus gegen die Koalitionsregierung, die unter Führung der perhaßten Sozialdemokratie steht, als Trumpf gegen sie aus­fpielen zu fönnen und ihr den Garaus zu machen.

Danach gelüftete es ihm auch bei der Annahme des Ein­bürgerungsgesehes turz vor Abschluß der legten Saeima- Periode. Die Nationalisten wollten verhindern, daß