Nr. 3.

Mittwoch, den 4. Januar 1888.

5. Jahrg.

Berliner Volksblatt.

Organ für die Interessen der Arbeiter.

Das Berliner Volksblatt"

erscheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Abonnementspreis für Berlin   frei in's Haus vierteljährlich 4 Mart, monatlich 1,35 Mart, wöchentlich 35 Pf. Postabonnement 4 Mart. Einzelne Nummer 5 Pf. Sonntags- Nummer mit dem Sonntags- Blatt" 10 Pf. ( Eingetragen in der Postzeitungspreisliste für 1888 unter Nr. 849.)

Redaktion: Beuthstraße 2.

Der fromme Liberalismus.

3u der widerlichsten Erscheinungen der Reaktions­periode, in der wir leben, gehört der frö mmelnde Libera­lismus.

Daß der moderne Bourgeois sich ber chern will und bei dem Streben nach Erreichung dieses Zieles in der Wahl feiner Mittel nicht besonders engherzig ist, daß er, der sich doch sonst als feuriger Vertheidiger der Selbsthilfe aufspielt, sofort nach Polizei und Staatshilfe schreit, sobald die Ar­beiter nicht mehr blind gefügige Werkzeuge bei seinen Ope­rationen sein wollen, sind gewiß auch keine hübschen Eigen­schaften. Aber die Erwerbsgier, und die Feigheit gegenüber den Arbeitern sind Eigenschaften, die der Bourgeoisie immanent sind, ohne die sie nicht denkbar ist, sie refultiren aus ihrer Stellung in der menschlichen Gesellschaft. Dem einzelnen Gliede der Bourgeoisgesellschaft einen Vorwurf daraus zu machen, daß die Eigenschaften seiner Klasse auch ihm anhaften, wäre ungerecht.

Etwas anderes ist es, wenn die Bourgeoisie und speziell der liberale Bourgeois Eigenschaften heuchelt, die ihm seinem ganzen inneren Wesen nach fremd sind, fremd sein müssen. Eine folche Eigenschaft ist nun die jetzt vom bürgerlichen Libe­ralismus zur Schau getragene Frömmigkeit. Seinem ganzen Wesen nach ist der Liberalismus antikirchlich und auch anti­religiös. Die uns aus früheren Kulturperioden überkom­menen religiösen Verbände, Kirchen genannt, waren enge verbunden mit den im Feudalstaat herrschenden Klassen, mit dem den Grundbesiz repräsentirenden Adel, und der vom Liberalismus geführte Kampf um die Herrschaft war des­halb seit dem Ausgang des Mittelalters gegen den Adel und die Kirche zu gleicher 3eit gerichtet. Und so war es bis in die neueste Beit hinein.

Erft unseren Tagen ist das Schauspiel vorbehalten ge­blieben, daß die liberale Presse sich zum Vertheidiger des Bapstes gegen die Ultramontanen aufwirft, und daß die Führer der Liberalen, die Benda und Miquel, Einladungen zu den Zusammenkünften der Berliner Stadtmission erhalten und auf denselben auch erscheinen. Noch sind es keine zehn Jahre, daß der damalige Führer der Freikonservativen, der Graf von Bethusy- Huc, im Reichstag gegen Junker- und Pfaffen" wetterte und unter dem rauschenden Beifall seiner Parteigenossen und der verbündeten National liberalen erklärte, daß seine Partei nie und niemals es dulden würde, daß in Deutschland   sich ein Junker­und Pfaffenregiment etablire. Der Herr Graf hat sich seit­dem längst zu seinen väterlichen Ochsen" zurückgezogen und die Herren, welche nach ihm die Führung der Botschafter­fraktion übernahmen, haben über den Kornzöllen und den Millionen, welche die Schnaps- und Zuckersteuern abwerfen,

Feuilleton.

( Alle Rechte vorbehalten.)

Der Erbe.

( Nachbruck verboten.)

Roman von Friedrich Gerstäcker  .

Beim Frühstück.

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,, Mama, dieser Lieutenant von Wendelsheim tanzt wirk­lich entzückend," sagte Ottilie, als sie Morgens um zehn Uhr in einem allerliebsten Negligé zur Mutter ins 3immer trat, wo das Kaffeeservice noch auf dem Tische stand. Ich kann Dir versichern, man fliegt ordentlich mit ihm über den Boden hin und wird gar nicht einmal müde."

"

Nun, mein Kind," erwiderte die Mutter, ich kann Dir versichern, daß ich wenigstens müde geworden bin." Aber Du hast gar nicht getanzt, Mütterchen." Das fehlte auch noch," stöhnte die Frau; das Herum fizen ist so schon arg genug und nun auch noch diese schreckliche Räthin Frühbach neben mir! Ich sage Dir, ich war froh, als es drei Uhr schlug und wir mit Ehren fort fonnten.

,, Arme Mama und ich habe mich so gut amüsirt!" " Junges Blut," nickte die Mutter; aber trink Deinen Kaffee, Kind; er steht schon eine ganze Weile und wird sonst talt."

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Ottilie hatte sich neben sie auf das Sopha gesetzt und trant; aber der fleine Fuß flopfte unter dem Lische noch immer leise den Taft eines der erst vor wenigen Stunden beendeten Tänze ihre Gedanken waren noch entschieden bei dem Balle! Und wer hätte es ihr verdenken wollen? War fie doch kaum zwanzig Jahre alt, in der Blüthe ihrer Jugend und der Blick, der unter den langen Wimpern so glücklich hervorleuchtete, sah nur Licht und Freude, denn kein dunkler Tag in ihrem jungen Leben warf seinen Schatten auf der Bukunft Bahn.

Ottilie war die Tochter des Staatsanwalts Witte, eines feiner Tüchtigkeit sowohl als Rechtlichkeit wegen allgemein geachteten Mannes, und das einzige, also auch das ver­

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Insertionsgebühr

beträgt für die 4 gespaltete Petitzeile oder deren Raum 25 Pf. Arbeitsmarkt 10 Pf. Bei größeren Aufträgen hoher Rabatt nach Uebereinkunft. Inserate werden bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition, Berlin   SW., Zimmerstraße 44, sowie von allen Annoncen- Bureaux, ohne Erhöhung des Preises, angenommen.

Expedition: Bimmerstraße 44.

längst ihre antipfäffische Vergangenheit vergessen. Herr von Hammerstein und Herr von Benda sizzen jetzt einträchtig zu­sammen in der Stadtmission und horchen mit untergeschla­genen Augen den salbungsvollen Worten Stöcker's. Ein Schauspiel für Götter!

Freilich, in den Ländern, wo der Liberalismus voll­ständig an der Herrschaft ist, wie in Italien   oder Frankreich  , und wo es keine allmächtige Regierung giebt, vor der er auf dem Bauch liegt, oder eine starke Arbeiterbewegung, vor der er sich fürchtet, da geberdet sich der Liberalismus heute noch so antikirchlich wie ehemals und da gehört das Wizeln über Mönche und Nonnen und das Gezeter über ultra­montaner Verdummung" noch heute zu den täglichen Gaben, die der liberale Philister in seinem Leiborgan vorgesetzt bekommt.

Anders ist es dagegen bei uns, wo es beides, eine starke Regierung und eine Arbeiterpartei, giebt, deren Stärke unseren Liberalen schon lange als schwerer Alp auf dem Magen liegt. Eine starke Regierung hat zu ihrer Voraussetzung, daß sie sich nicht auf eine einzelne Partei stüßt, sondern alle, oder doch fast alle vorhandenen Par­teien nach Bedarf zur Verfügung hat. Das ist nun in Deutschland   in hohem Maße der Fall. Der Reichsregierung steht, wie wir letthin nachgewiesen haben, nicht nur eine Majorität, sondern deren drei im Reichstage zur Ver­fügung, und zwar Majoritäten mit und ohne die Liberalen. fügung, und zwar Majoritäten mit und ohne die Liberalen. So start aber auch eine Regierung sein mag, etwas muß auch sie beachten und ihm Rechnung tragen, und das sind die Strömungen, die sich im Volfe geltend machen.

Deshalb haben wir gesehen, daß dieselbe Regierung in den siebziger Jahren liberal war, welche heute zum Ent­zücken der Herren von Kleist- Rezow und Stöcker konservativ ist. Anfangs der siebziger Jahre war eben auch beim Volfe der Liberalismus oben auf, und um die Stärke einer Regierung, die damals gegen die liberalen Grundsäße hätte regieren wollen, wäre es rasch geschehen gewesen.

Heute, wo sich der Liberalismus, Dank des national­liberalen Eunuchenthums, in vollständigen Mißkredit beim Volke gebracht hat und wo außerdem in­folge der mehr und mehr und mehr sich ausbildenden groß­kapitalistischen Produktion die Verpauperung immer weitere tapitalistischen Produktion die Verpauperung immer weitere Kreise ergreift und damit der Glaube an die soziale Heil­kraft der liberalsten Selbsthilfe schwindet, heute haben zweifellos breite Schichten des Volkes sich wieder dem Kon­fervatismus ergeben. Das ganze Kleingewerbe, welches von der Konkurrenz der Großproduktion erdrückt wird, und der Kleinbauernstand, der mit seiner primitiven Wirthschaftsform außer Stande ist, all' die Schul- und Gemeinde-, Militär­und Steuerlaften zu tragen, welche der moderne Staat seinen Bürgern aufladet, sie sehen ihren Ruin vor Augen,

zogene Kind im Hause. Von Herzen lieb und gut, hatte ihr Charakter dadurch aber doch etwas Eigenwilliges bekommen, was nicht der Fall gewesen wäre, wenn sich der fast über­mäßig beschäftigte Vater hätte mehr um ihre Erziehung be­fümmern können. Leider konnte er das nicht, und sie wurde einzig und allein der Mutter überlassen, die frei lich nicht recht dazu paßte, ein junges Mädchen heran zu bilden.

Die Frau Staatsanwalt Witte war, wie ihr niemand absprechen konnte, eine brave und tüchtige Frau, und als sie vor langen Jahren ihren Mann heirathete und beide sich fast ohne Vermögen fümmerlich durch das Leben arbeiten mußten, da hatte sie bewiesen, daß sie eine tüchtige Hausfrau sei und mit den bescheidensten Ansprüchen gesorgt und ge­schafft und immer den Kopf oben behalten. Solchen ge= Solchen ge­drückten Verhältnissen war sie auch gewachsen gewesen, und Witte hätte sich dafür keine bessere Frau wünschen können. Als er aber in seinem Berufe einen Namen bekam und viel Geld verdiente, ja später sogar Staatsanwalt wurde und sie weit mehr einnahmen, als sie gebrauchten, da fiel sie in einen Fehler, in den nur zu viele Frauen fallen sie wurde auf ihren Mann stolz und beschränkte das nicht allein, wie es passend gewesen wäre, auf die eigene Familie, son­dern suchte es der Stadt zu zeigen.

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Von da an zog der Lurus in ihr Haus ein und wenn Witte auch selber viel zu vernünftig war, sie weiter gehen zu lassen, als er für gut fand, behielt sie doch in vielen Dingen- des Hausfriedens wegen ihren Willen und arbeitete sich mit den Jahren endlich in ein solches Gefühl ihrer Würde hinein, daß Witte selbst oft und bedenklich darüber den Kopf schüttelte.

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In diesem Bewußtsein ihrer Stellung" wurde Ottilie erzogen, und leider bekam sie von der eigenen Mutter öfters als gut zu hören, wie hübsch sie sei und wie vornehm, und daß sie sich mit gutem Gewissen zu den ersten Familien der Stadt, der sogenannten Crême" der Gesellschaft, zählen dürften.

Dadurch wurden viele Verbindungen mit früher be­freundet gewesenen, aber ärmeren Familien abgebrochen und an deren Statt eine nähere Bekanntschaft mit dem Adel

und da die Zukunft ihnen nichts zu bieten vermag, so wen den sie ihren Blick der Vergangenheit zu und bestreben sich, alte abgelebte Institutionen, wie Innungen und dergleichen, wieder in's Leben zu rufen. Sie werden so naturgemäß die Beute jener agrarisch- konservativen Demagogie, welche in der Volksversammlung und in der Presse gegen den Kapitalis­mus und das Judenthum wettert und sich zum Anwalt des kleinen Mannes aufwirft, heimlich aber und nicht selten so­gar durch jüdische Vermittler an der Börse spielt und in Spiritus und Getreide macht.

Diese Strömung nach rechts ist es auch, welche dem Liberalismus das Gebetbuch in die Hand und die Kern­sprüche in den Mund gelegt hat. Aber für den liberalen Bourgeois fommt noch ein weiterer Grund in Betracht. Er sieht mit Schrecken, daß die Arbeitermassen ebenfalls angefangen haben, sich mit dem Hinweis auf die Belohnung im Jenseits für die Mühsalen hier nicht mehr zu begnügen, und daß sie ihren Antheil an den irdischen Gütern immer stürmischer verlangen. Den Arbeitern aber diesen ihren Antheil ge­währen, heißt für den Bourgeois den Profit schmälern, heißt die Rente verschwinden machen, und um das zu ver­hindern, geht Benda in die Versammlungen der Stadt­mission und küssen die Liberalen dem Papste den Pantoffel.

Der Hofprediger Stöcker und der Papst haben aber ihre Zeit erkannt und sie wissen wohl, was sie thun, wenn sie das rothe Gespenst immer und immer wieder in den grellsten Farben an die Wand malen. Es gilt, die Angst der Bourgeoisie vor den Arbeitern bis zur Ünvernunft zu steigern, und zum guten Theil ist ihnen das auch bereits gelungen.

Wer denkt nicht an die Szene aus den Räubern", wo Franz Moor zu beten anfängt, wenn er Herrn von Benda bei Stöcker sieht und die Artikel unserer liberalen Preffe zur Feier des Papstjubiläums liest?

"

, Das ist ein moderner Papst. Selbst mit dem Rüstzeuge der Gelehrsamkeit bewaffnet, ein Freund der Musen, Schüßer der Kunst, beherrscht er das ganze Arsenal der geistigen Waffen unserer 3eit. Seine großen Kundgebungen sind alle getränkt von dem feinen Geiste humanistischer Anschauungen."

So steht wörtlich zu lesen in einem großen liberalen Blatt, das noch vor wenigen Jahren im Kulturkampf in vorderster Linie stand und den Kampf gegen Rom  " sich zur Devise genommen hatte. In ähnlichem Tone geht es aber durch die ganze liberale Presse.

Und warum?

Das oben angeführte Blatt giebt uns offenherzig die Antwort darauf:

Der Papst hat sich zu seinem vornehmsten Ziel die

gesucht, von dem Witte selber gar nichts wissen wollte, aber die Frau Staatsanwalt desto mehr; und wenn sie auch vielleicht nichts derartiges äußerte, so war sie doch jedenfalls im Herzen fest entschlossen, ihre Ottilie komme dermaleinst als" Frau Baronin" einhergehen zu sehen. Dann, wie sie oft im Stillen seufzte ,,, wollte sie gern sterben".

was wolle

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Daß Ottilie selber gegen solche Andeutungen nicht gleichgiltig gleichgiltig blieb, läßt sich denken. Das Samenkorn hatte jedenfalls Wurzel geschlagen, und es war nun jetzt die Frage, wie es gepflegt und genährt werden würde.

Wo ist denn der Vater?" fragte Ottilie endlich. ,, Hat er schon getrunken?"

" Oh, schon seit einer vollen Stunde," sagte die Mutter; aber er wurde mitten darin abberufen."

,, Der arme Papa, nicht einmal seinen Kaffee lassen sie ihn ruhig trinken! Wer ist denn bei ihm?"

Ich weiß es nicht; ich glaube, es war in Sachen einer Scheidungsklage. Es ist erstaunlich, wie das jetzt überhand nimmt. Dente Dir nur, Herr von Löser läßt sich auch von seiner Frau scheiden."

Ottilie war recht nachdenklich grworden und sah eine ganze Weile still vor sich nieder. Endlich sagte sie: Es ist doch sonderbar und eigentlich recht traurig, daß Leute, die geschworen haben, in Freud  ' und Leid treu bei einander auszuhalten, auf einmal so anderen Sinnes werden und sich so unglücklich mit einander fühlen können. Ich bin gar nicht im Stande, mich da hinein zu denken."

,, Gewiß ist es traurig," sagte die Mutter achselzuckend, aber auch nur wieder ein Zeichen, wie leichtsinnig und un­überlegt viele Verbindungen für das ganze Leben geschlossen werden. Ein junges Mädchen sollte nie vor dem achtund­zwanzigsten Jahr heirathen."

Aber, Mama," lachte Ottilie, dann ist sie ja kein junges Mädchen mehr, sondern eine alte Jungfer, und die bleiben regelmäßig fißen. Wie alt warst Du denn, als Du den Vater nahmst?"

Was Du davon verstehst, Kind!" sagte die Mutter ausweichend. Freilich sind die Männer selbst daran schuld, denn sie sollten vernünftiger sein, als solchen jungen Din­