1892

Mißgeburten einst und jetzt

Von E. M.

Im Menschen gelangte die Natur ge­wissermaßen zum Selbstbewußtsein und zur Selbstbestimmung. Im Menschengeist dämmerte allmählich die Erkenntnis der unabänderlichen Gesetzmäßigkeit alles Geschehens sowie der ur­fächlichen Verknüpfung der einzelnen Erschei­nungsdinge miteinander und solche Einsichten lieferten ihm den Schlüssel zum tieferen Ver­ständnis des Naturgetriebes. Im Experiment versuchte der Mensch die Natur nachzuahmen, er wurde zum Erfinder und eröffnete damit das Zeitalter der Technik, der zielbewußten Beein flussung natürlicher Geschehensabläufe und ihrer Nubbarmachung für seine Daseinszwecke. Dadurch wurde er in immer höherem Maße un­abhängig von den Launen seiner Mutter Natur,| deren blind wütenden Gewalten er vordem ohn­mächtig ausgeliefert war. Er lernte das Lent­rad seiner irdischen Geschide mit Erfolg selbst

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Geſchidem foretelben

Naturbeherrschung werden die früher als ver­meintliche Ordner des Geschehens gemutmaßten übernatürlichen Wesenheiten als für die Technik unzulängliche und erkenntnistheoretisch bedeu­tungslose Begriffsbildungen erkannt und müs­sen darum aus dem Bereich des wissenschaft­lichen Denkens ausgeschieden werden. Das La­boratorium wird zur Schöpfertverkstätte, wo in Brutöfen, unter dem Mikroskop und auf dem Operationstisch die Aeußerungsformen und die Enttvidlung lebendigen Seins unter das Dittat des menschlichen Willens gestellt und in solche Bahnen gelenkt werden, die menschliche Ziel­segung ihnen vorschreibt.

Phantasie gesäubert und in zusehends größerem Umfang auch den breiten Volfsschichten zugäng lich gemacht. Organische Mißbildungen erschei= nen heute nicht mehr als übernatürliche Send­linge, seit man die natürlichen Ursachen erkannt hat, als deren zwangsläufige Folgen solche Absonderlichkeiten auftreten. Ten Weg zur Erforschung dieses Erscheinungsgebietes wies das Studium des sogenannten Erjab­wachstumsvermögens( Regeneration und Re­stitution). Das ist die Fähigkeit verschiedener Lebewesen, Körperteile, die im Kampf mit anderen Kostgängern der Erde, durch Krank­heit oder sonstige schädigende Einwirkungen ver­lorengegangen sind, durch neu einseßendes Wachstum an der Wundstelle wieder hervorzu­bringen. Bei den niedersten Tieren ist diese Fähigkeit am vollkommenſten entwidelt. So kann man manche Uriierchen( mistroskopisch

feine Einzeller)( in dubireithe Teile tellones

den, deren jeder, woferne er nur ein Stüdchen Belltern mitbekommen hat, sich innerhalb weni­ger Stunden wieder zu einem ganzen Tier er­gänzt. Allgemein bekannt ist das Nachwachsen des abgebrochenen Eidechenschwanzes. Oft mals verläuft aber das Ersatzwachstum in zweckwidriger Weise, wie es 3. B. die Regen­würmer illuſtrieren, indem man durch entspre hende operative Eingriffe Würmer mit meh reren Kopf- und mehreren Schwanzenden her­vorbringen kann. Bei einer Seesternari ( Lindia) wächst an der Wundstelle einer abge­brochenen Armspike häufig nicht bloß diese allein nach, sondern es bilden sich gleich vier Ein überaus anschauliches Kapitel der Neu- neue Spizen, es wird also die Ergänzung zu gestaltung menschlichen Denkens als der Be- einem ganzen Stern fleineren Formats vorge­gleiterscheinung der wachsenden Naturbeherr- nommen. Durch nacheinander gesezte Vertoun­schung ist das der organischen Mißbildungen derselben Art auch an den übrigen dungen von Lebewesen, wie solche zu allen Armen kann man unter günstigen Umständen Beiten als seltsame Fehlleistungen und Seiten- einen sozusagen quadrierten" Seestern mit sprünge der Natur von findlichem und müßig zwanzig Enden erzeugen. Aber auch bei Ver­spekulierendem Menschengeist bestaunt wurden. tretern des höchsten Tierstammes, bei den Wir­In dem von unsinnigstem Hegenwahn und beltieren, lassen sich ganz seltsame Eniartungen schrankenlosem Aberglauben umdüsterten Mit- fünstlich hervorrufen. An der Larve( Kaul­telalter wurden menschliche und tierische Miz- quappe) der Knoblauchkröte gelingt es durch geburten für Kinder des Teufels angesehen und mehrfache Zufügung ganz bestimmter Ver­galten als Unheil verkündende Herolde von lekungen( Spaltung) der embryonalen Glied­Hungersnöten, Kriegen, Seuchen und allen son- maßenanlage, Tiere mit sechs wohlausgebil­stigen Plagen der Menschheit, weshalb sie oft- deten Hinterbeinen in die Welt zu setzen. mals den direkten Anlaß zu Hegenprozessen bil- Solche Versuche haben gelehrt, daß die in deten. Die dazu sich berufen fühlenden geistigen Autoritäten glaubien, aus jenen gelegentlichen Entgleisungen und Irrungen der Natur Bot­schaften des Himmels" herauslesen zu dürfen, die dann zum Zweck der wirkungsvolleren Ein­schüchterung der unwissenden Volksmassen in ungeheuerlich verzerrien Darstellungen und fraßenhaft bebilderten Druckerzeugnissen ver­breitet wurden. So erschien im Jahre 1654 bei dem Augsburger Kupferstecher Raphael Custo­des ein Flugblatt, auf dem ein siebenköpfiges, fiebenarmiges, mit einem Cyklopenauge ausge­stattetes Ungeheuer abgebildet war, dessen untere Körperhälfte Geſtalt und Gliedmaßen des jagenhaften Sathrs( mutiwilliger Wald­geist) aufwies; es sollte angeblich in Katalonien  von spanischen   Soldaten gefangen worden sein und wurde als Mahnung Gottes zur bußfer­figen Einlehr der fündigen Menſcheit gedeutet. Die Mengen ähnlicher Produkte abwegiger Ein­bildungskraft sind Legion.

Jene schtver unwölften Epochen wissen schaftlichen Stillstandes sind in dem Ozean der Vergangenheit untergetaucht und längst mit dem gnädigen Schleier nachsichtigen Verständ­nisses bedeckt. Die Wissenschaft wurde seither allmählich von den Beimischungen frankhafter

Männchen gemacht. Ein besonders erfolgreicher Zauberer auf dem Gebiet der experimentellen Biologie war Morpurgo, der durch operative Verbindung der Leibeshöhlen einer männlichen und einer weiblichen Ratte ein siamesisches Zwillingspaar erzeugte; das Weibchen wurde befruchtet und von den sich entwickelnden acht Keimlingen wurden vier im weiblichen und vier im männlichen Teil der gemeinsamen Leibes höhle ausgetragen und lebensfähig geboren.

Daß derartige Experimente selbstverständ­lich nicht etwa bloß naturwissenschaftliche Spies lereien oder müßige Tierquälereien fine, ist unschwer einzusehen, wenn man weiß, daß die Tierversuche wesentliches Erkenntnismater.al vor allem für die menschliche Heilkunde liefern. Es sei hier nur an die Verjüngungsoperation nach Voronoff( lleberpflanzung von tierischen Geschlechtsdrüsen auf den Menschen) sowie an die mannigfaltigen Verpflanzungen von Hauts und anderen organischen Gewebeteilen bei ver= unstalteten Verlegungen( 3. B. während des Weltkrieges), bei kosmetischen Korrekturen usw.

Was im Mittelalter nur die fiebrig phan­tasierende Druckerschwärze auf dem Papier ge= bar, das ist, wie wir an einer winzigen Aus leje von Beispielen sahen, im Bereich des grund­jäßlich Möglichen in der modernen Hegenküche des Menschen nüchterne Wirklichkeit geworden. Und das gleißende Licht wissenschaftlichen Er­fenntnisfortschrittes tut noch ein übriges: cs vertreibt aus den tausendfältigen Schlupfwin­feln des von breiten Volksschichten vielfach noch unverstandenen Geschehenz allmählich sämtliche dort nistenden Gespenster, um dem sinnvoll und zielseßend schaffenden Menschengeist den Beden des natürlichen Seins zur möglichst vollkom menen Alleinbeherrschung unter der Regide der Vernunft zu erobern.

Moderne Technik

in der Antike

Unsere moderne technische Zivilisation ist fo stolz auf ihre Leistungen und wir neigen dazu, uns selbst überheblich zu bestaunen, wenn wir mit maschinellen Dingen umgeben sind. Aber die Findigkeit des menschlichen Geistes ist nicht nur unserer Zeit vorbehalten, schon die alten Griechen, sogar die Inder und Aegypter kann­ten technische Einrichtungen, die uns noch heute mit tiefem Respekt erfüllen müſſen.

der Natur gelegentlich vorkommenden organi­schen Ungeheuerlichkeiten ihre Ursache in ge= Der klassischen Kultur war die Einrichtung wissen Verlegungen des Keimlings( Emprhos) der Automaten nicht neu. Wenn man beim baben. Diese Vermutung experimentell be- Betreten vieler Tempel in eine Oeffnung eine stätigend, erzielte man an Individuen des meri- Geldmünze einwarf, so begann aus einem Habn kanischen Schwanzlurches Arolotl durch be- geweihtes Wasser zu fließen. Die Menge war stimmie, in sehr frühem Entwicklungszustand nach der Größe der Münze bemessen. Die auto­von außen auf das Ei geübte Druchwirkungen| matischen Einrichtungen waren so vollkommen, oder durch Einschnürungen des Eies Mißgebur- daß es in Aegypten   und auch in Griechen: ard ten mit drei vollkommen entwickelten Köpfen und Vorderasien Tempel gab, in denen, scvald und zwei Schwänzen. Ja sebſt an Säuge  - die heilige Flamme am Altar aufflammte, die tieren fann sich der Mensch in ähnlicher Türflügel des Tempels von selbst aufgingen, Weise als Diktator der Natur betätigen und hier sind es vornehmlich die Ueberpflanzungen von der Seite und der Decke wunderbare Licht­( Transplantationen) von Körperteilen und spiele ſich automatiſch einschalteten. Organen eines Tieres auf ein anderes, die zu den großartigsten Ergebnissen führen. An Hun­den hat man die Nieren nach der Hals- oder Zeiſtenaceaend berpflanzt und funktionsfäbia er­balten; einem Meerschweinchen wurde seine Milchdrüse ans Ohr bersetzt und gab von dort aus Milch an die Jungen ab. In Wien   haben, die Biologen Steinach und Kammerer durch wechselweise Verpflanzung der verschiedenge­schlechtlichen Keimdrüsen bei Ratten und Meer­schweinchen aus Männchen fast vollwertige Weibchen und aus Weibchen gut gelungen:

Aus

Wer hätte gedacht, daß sogar das Maschi­nergewehr, das wir ja für eine ganz moderne Waffe halten, in einer bescheidenen Form schon vor sawei Jahrtauſenden belanni war? den Aufzeichnungen des griechischen Mathema tilers Heron und des römischen Baumeisters Vitruvius   erfahren wir, daß damals schon Maschinenbogen" verwendet wurden, die schäzungsweise 100 bis 120 Pfeile in der Mi­nute abschießen konnten. Durch eine Kurbel wurde der Bogen jedesmal wieder blitsmell gespannt und ein neuer Pfeil in den Schuß­