Samstag, den 24. November 1934
Braunes Eiapopeia
Lauter strahlende Papierprinzen
Wer vor dem Krieg oder während des Krieges in einer deutschen Schule seine ersten Leseversuche gemacht hat, der kennt sie noch, die alten Lesebuchgestalten, der kennt sie noch, die guten Könige, die abends in den Wohnungen ihrer ärmsten Untertanen auftauchten, freigebig und unerkannt ,, Meinen Namen werdet ihr nie erfahren!" aller Not ein Ende machten; der kennt sie noch, die edlen reichen Leute, die sich die Seele aus dem Leib arbeiteten, wie Proletarier lebten und, zu gut für diese Welt, nur an andere dachten; der kennt sie noch, die mutigen Generale, die mit bligenden Augen an der Spitze ihrer Truppen gegen den Feind stürmten und nach erfochtenem Siege, blutend, mit einem., Es lebe das Vaterland!" auf den Lippen, zu Boden sanken: der kennt sie noch, alle, alle, die hochgeborenen, aber aufopfernden Herren, die geprügelten. aber treuen Knechte, die rauhen, aber gottesfürchtigen Krieger.
Sie schienen verschollen, die alten Bekannten. In einer Zeit, da denkende Köpfe erwünscht waren, in einer Zeit, da allen die Möglichkeit wurde, ihre Umwelt zu begreifen und formen zu helfen, verschwanden sie wie von selbst, verkrochen sie sich schamhaft in Rumpelkammern Raritätenschränken.
und
Dann aber kam das dritte Reich" und mit ihm feierten die Lesebuchgestalten triumphale Auferstehung. Sie sind die alten geblieben, aber die deutsche Welt hat sich verändert. Geschichten, die man früher immerhin nur Kindern vorzusetzen wagte, serviert man jetzt den erwachsenen Menschen in der Hoffnung, daß sie ehestens wieder zu gläubigen Kindern werden.
Die Lesebuchgestalten haben allen Grund, ihrem Führer dankbar zu sein, denn so hoch in Ehren standen sie noch nie. Wer sie sehen will, der braucht in Hitlers Land nicht lange zu suchen. Aus jeder Bücherauslage lachen sie ihn an, von zedem Zeitungsblatt. springen sie ihm entgegen, auf den Rundfunkwellen kommen sie gezogen, neben den nationalsozialistischen Rednern marschieren sie auf.
sein
Der gute König trägt gewöhnlich die Züge des Kanzlers. Abertausend Fotografien zeigen ihn, er neigt sich über blondgelockte Kinder, er klopft Kriegsinvaliden auf die Schulter, er tätschelt einen Hund, er neigt das Haupt vor der gewaltigen Natur. Jeden Tag drei edle Taten! Natürlich nährt er sich von Blumenkohl und Mineralwasser dicker Bauch ist optische Täuschung, natürlich schläft er überhaupt nicht, sondern wälzt sich ruhelos, das Wohl seines Volkes bedenkend, auf hartem Lager. Einem Handwerksburschen, der über den Obersalzberg zog, soll er hundert Mark geschenkt haben. Wie, das kommt Ihnen komisch vor? Schämen Sie sich! Hat er nicht auch großmütig auf sein Kanzlergehalt verzichtet? Die Aufwandsentschädigung und die paar hunderttausend Mark aus dem Eher- Verlag sind ihm wahrlich zu gönnen. Und was das wichtigste ist: ER weiß von nichts, ER will nur das Beste und Edelste, alles, was in Deutschland geschieht, geschieht hinter seinem Rücken.
Ab und zu pfuscht einer dem guten König ins Handwerk, so der Goebbels, wenn er plötzlich in einem Berliner Obdachlosenasyl auftaucht und goldene Worte spricht, so der Ley, wenn er persönlich auf einem Bau erscheint und mit den Arbeitern wie ein gewöhnlicher Mensch zu sprechen geruht. Nationale Taten sind das, bei deren Betrachtung die Presse in Begeisterungskrämpfe verfällt von den örtlichen Parteibeamten gar nicht zu reden. Nachdem Ley unlängst die Continental- Gummiwerke in Hannover besichtigt hatte, ließen die Betriebsführer zur Erinnerung einen Drei- FarbenDruck herstellen: Ley, wie er einem Arbeiter die Hand drückt. Jeder Arbeiter und Angestellte wurde gezwungen,
ein solches Kunstwerk für dreißig Reichspfennige zu er stehen. Die großen Kinder sollen was für's Gemüt haben. Und die edlen reichen Leute, die sich die Seele aus dem Leibe schuften... usw.? Sind auch wieder da. Und ob sie wieder da sind! Schlagt nur die deutschen Zeitungen auf! Unternehmer, die Seite an Seite mit ihren Arbeitern zu einer Kundgebung marschieren, Direktoren, die im Gemeinschaftslager eine Nacht auf Stroh schlafen, Generaldirektoren, die sich mit dem ärmsten ihrer Arbeiter leutselig unterhalten. Fabrikbesitzer, die selbst den Hammer packen, sind dugendweise, gratis und franko zu beschaffen. Vor allem der Saar- Röchling liebt es, sich in solchen und ähnlichen Posen fotografieren zu lassen. Seiner Eingliede rung ins..dritte Reich" steht wirklich nichts im Wege.
Aber die wichtigste Rolle spielen im Augenblick die tapferen Generale. Wie soll man einen neuen Krieg beginnen. ohne den Heldenglauben, der in den Jahren 1914 bis 1918 einen schweren Stoß bekam, auf neu zu lackieren? Im dritten Reich" ist jüngst ein Buch erschienen: Theodor Jakobs Der Löwe von Brzeziny ". ..Dieses Buch," so heißt es in der Verlagsankündigung, ..wird keinen unberührt lassen, der noch Sinn für die großen Waffentaten und für die männlichen Tugenden besigt." Und in dem Buch es schildert Vorgänge aus dem Weltkriege! steht wörtlich folgendes zu lesen:
,, Ungestüm, den Kopf zurückgeworfen, in der Linken den unvermeidlichen Krückstock, in der Rechten den entblößten Degen, so schreitet der älteste Soldat der Division
Schlappschwänze!
..Haben Sie's gehört, haben Sie's vernommen? Was sagen Sie? Ist das nicht zum Schießen? In Frankreich ist es zur Krise gekommen, Und denken Sie ganz ohne Blutvergießen! Man sagte ,, Adieu" sich. sachlich, kalt: ,, Sie sind entlassen!" ,, Sie jagen uns fort?" ..Sie selber gehn ja!" ,, Nun, Mann über Bord!" Doch keiner hat keinen niedergeknallt. Statt daß Doumergue mit harmloser Miene In einem Provinznest geredet hätte, Und nachts per Flugzeug wie eine Lawine Auf Herriot geprasselt:„ Raus aus dem Bette!" Und ihn, so sehr der sich auch gewehrt. Mit einigen hundert Schicksalsgenossen, In einem Gefängnisbofe erschossen, Und hinterher dies für„ rechtens" erklärt, Statt allés dessen wird unterhandelt! Drei lehnen ab, ein Vierter sagt Ja; Und tags darauf steht, wenig verwandelt Das Kabinett unter Flandin da. Nicht mal, daß einer' nen Tritt bekommen, Man hat sich ganz ruhig und sachlich benommen Gar nichts Erregendes ist passiert.
Was sagen Sie nur?" Au solchen Chosen Sieht man mal wieder, daß diese Franzosen Völlig entnervt sind und degeneriert!"
über die Lichtung. In den von Helmrand beschatteten Händel wird erlaubt
Augen leuchtet es wie„ Tambour schlag ein". Stoßweise geht der Atem, der im Bart zu Eis wird. Den Mann kümmert's nicht. Russeukugeln umschwirren ihn, er hört sie nicht. Wie ein reißender Wildbach jagt die Nachricht ..Unser General Ligmann stürmt mit" durch die lange Front. ,, Kerls ran- n- n!" Der General wartet zähneknirschend auf das Signal. Von links Hörnergeschmetter Trommelwirbel Hurra Hurra Hurra! Spr- u- n- g- auf, marsch marsch!" In gewaltigen Sprüngen stürmt der General voraus. Russenkugeln zischen und schwirren. Was scherts. Er brüllt den Kampfschrei. Das Schienental ist erreicht. Der General stürmt hinunter. Stolpert, Pioniere holen ihn ein, reißen ihn nach oben, hinein in die Russenstellung sie ist leer. ,, Kinder, nachstoßen, holt sie euch mit dem Bajonett!"...
Der General verschnauft sich und horcht in den schwächer werdenden Kampfeslärm. Eine Gestalt nähert sich ihm, spricht ergriffen und glücklich Exellenz".- , Wulfen ," die Hand klopft die Schulter des Hauptmanns, ..war das schön, habe ich eine Freude in mir."
ララ
Das ist nicht für den kleinen Max geschrieben, sondern
für erwachsene Menschen. Und nun sind sie alle beisammen, die Lesebuchgestalten, nun sind sie alle beisammen und loben den Herrn, der sie neu zu Ehren brachte: den Herrn Adolf Hitler .
Wer aber vor dem Krieg und während des Krieges eine deutsche Schule besuchte, der besinnt sich auch darauf, wie es den strahlenden Papierhelden weiter erging. Als der Krieg kam, als die Not wuchs, als die Armut ins Unermeßliche stieg, als der Hunger nagte, als durch dünne Papier -, anzüge der Wind střich, als Kohlrüben ins Brot gebacken, aufs Brot gestrichen und an Stelle des Brotés verschlungen wurden da zerstoben die Lesebuch gestalten in nichts, da sank ihr Glorienschein in den Staub, da standen sie vor sehend geworden Augen nackt, jämmerlich, komisch und verkrüppelt.
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Denn die Wirklichkeit ist stärker als das dickste Lesebuch.
Schutz den Liebespärchen
Unter der Ueberschrift Schuß den Liebespärchen" lesen wir:
,, Die Pressestelle des Essener Polizeipräsidiums teilte dieser Tage mit:
Wenn der Frühling seinen Einzug gehalten hat und die ersten wärmeren Nächte sich einstellen, setzt in den Abendstunden ein reger Spaziergängerverkehr ein. Das Ziel der Wanderer sind die Park- und Waldanlagen, wo sie sich nach des Tages Last und Mühe ausruhen und erholen wollen. Besonders die Pärchen lenken ihre Schritte hinaus zu den Ruhrwäldern, um sich in der freien Natur ungestört zu unterhalten. Der Aufenthalt auf den ver schwiegenen und lauschigen Bänken ist aber nicht immer eine reine Freude für die Erholungssuchenden, denn lichtscheues Gesindel und entartete Burschen machen diese Gegenden unsicher. Die harmlosen Liebespärchen werden von dem herumvagabundierenden Gesindel jeden Alters durch Belauschen, schmutzige Zurufe, schamverlegende und ärgerniserregende Handlungen geängstigt und belästigt. Um dieses ruchlose Treiben möglichst zu unterbinden, sind von der Kriminalpolizei umfangreiche vorbeugende Maßnahmen getroffen worden. Außer den regelmäßigen Streifen der Sitten- und uniformierten Polizei werden in unbestimmten Zeitabständen große Razzien durchgeführt, wobei das ganze Gelände des Polizeibezirks Essen abgekämmt wird. Hierbei werden alle in irgendeiner sich verdächtig machenden oder umhertreibenden Personen gestellt und unter die Lupe genommen. Besonders wird hierbei auf Exhibitionisten, Erpresser, Spanner. Lauscher. falsche Kriminalbeamte, steckbrieflich Gesuchte u. a. m. geachtet. Zur Unterstützung und
Goldene Schemm- Worte Deutsche Charakterschlacht
Tw Bahnhof zu Elmeldingen hängen unter Glas und Rahmen folgende Goldene Wort des bayrischen Kultusminister Schemm: Ehrlichkeit, Biederkeit, Heldisches, das tie finnerliche Gläubige, das ist deutsch ! Einen
entsprechenden energischen Durchführung haben sich SASS.- Formationen und Führer der Hitlerjugend zur Verfügung gestellt, damit die Sicherheit und Ordnung für die Spaziergänger gewährleistet wird. Auf Kinder und jugendlichen Personen beiderlei Geschlechts, die sich zur Nachtzeit zwecklos herumtreiben, wird bei diesen Aktionen die Kriminalpolizei ihr besonderes Augenmerk richten, wobei die weibliche Kriminalpolizei einen erheblichen Teil dieser Tätigkeit ausführt."
Dieser Erlaß der Essener Polizei ist vom bevölkerungspolitischen Standpunkt aus wirklich sehr zu begrüßen.
Was die Führer der Hitlerjugend " betrifft, die an diesen Riesenrazzien teilnehmen, so wäre in Erwägung zu ziehen, ob man nicht die anze HJ. geschlossen teilnehmen lassen solle, um gleichzeitig einen praktischen Anschauungsunterricht für die Aufzucht der germanischen Rasse zu erteilen. Wir schlagen der Polizeidirektion vor, den Schutz der Liebespärchen etwas zu vervollkommnen:
Verbreiterung der verschwiegenen und lauschigen
Bänke";
Anbringung von roten Lampen zum Zeichen dafür, daß die Bank bereits besetzt ist;
Anschaffung von Sprungfedermatratzen;
evtl. Ausgabe von Bankbenutzungsscheinen. wobei verdiente Kämpfer der Bewegung mit den Mitgliedsnummern 1-300 000 besonders zu berücksichtigen sind.
Sollte die Essener Polizei von diesen Verbesserungsvorschlägen Gebrauch machen, so bittet der Verfasser, das Honorar für die Vorschläge an die Redaktion dieses Blattes zu senden, die es gerne weiterleiten wird. Frit Hoff
Menschen, der das zeigt, nennen wir einen echten deutschen Mann. Die Charakterankurbelung ist darum das Entscheidende der neuen deutschen Bildung( aus der bedeutsamen Rede auf dem Lehrerkongreß in Leipzig 9. 9. 33)."
Herr Schemm, der Tiefgläubige, verwechselt Charakter mit einem Automobil. Wie viele HP. hat er selbst?
Ein Wehrwilliger nach Noten
Mucki
Den Mitteilungen der Reichsmusikkammer entnehmen wir ein behördliches Frage und Antwortspiel: Zu Händels 250. Geburtstag. Dieser nach Gesinnung, Lebensführung und Kunsttaten in den vordersten Reihen deutscher Kämpfernaturen stehende große Meister hat die Stoffe zu seinen reifsten Tonwerken aus dem alten Testa. ment entnommen. Zum Aufbau einer musikalischen Volkskultur sind die Kompositionen von Händel nicht zu ent behren. Ich habe deshalb den Präsidenten der Reichskulturkammer um Entscheidung darüber gebeten, ob vom nationalsozialistischen Standpunkt aus Bedenken gegen die Werke Händels bestünden. Antwort: Ich habe keine Bedenken gegen die Aufführung..."
Trot Judas Makkabäus !" Es sind wirklich vorurteilfreie Leute.
Miserere
Miesmacherei mit Begeisterung
Die Kammersängerin Vera Schwarz hat dem Neuen Wiener Journal" einen Originalartikel, gewissermaßen an Stelle eines Interviews, gewidmet, darin sie sich mit der brennenden Frage„ Kammersängerin und Varieté", die man auch als eine Art sozialer Frage betrachten kann, für ihre Person endgültig auseinandersetzt. Da sie gerade in einem Wiener Varieté verpflichtet ist, bejaht sie die Frage und teilt mit: ,, Auch in der Berliner Scala war ich schon zweimal zu Gast, und zwar habe ich dort in vollständiger Opernausstattung die Miserere Szene aus dem 4. Akt von Verdis Troubadour" zur Aufführung gebracht, was von dem Berliner Varietépublikum mit Begeisterung aufgenommen wurde.".
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Etwas ausgerutscht
In der„ Frankfurter Zeitung " lesen wir: Im legten Literaturblatt der Frankfurter Zeitung " ist in einer Besprechung des Buches., Christine Wasa" gesagt, Christine sei im Film verdammt, einen Dialog für Ladenschwengel zu führen". Dieser Ausdruck, den zu beseitigen wir uns vorgenommen hatten, ist aus Versehen stehen geblieben. Die Schriftleitung bedauert das außerordentlich, denn nichts liegt ihr ferner, als in dieser verallgemeinernden abschäßigen Form den Stand junger Kaufleute herabzusetzen; wie denn überhaupt derartige Charakterisierungen bestimmter Berufe niemals Werturteile enthalten sollten."
Langschädel auch nicht zuverlässig
Der Leipziger Professor Kruse hat aus seinen Forschungen die Konsequenz gezogen, daß Langschädel nicht unbedingt der Beweis für arische Abstammung sind und daß die Kopfform allgemein zum großen Teil eine Sache des Zufalls ist. Diese Feststellung wird nicht verfehlen, den heftigsten Widerspruch in den Kreisen der nationalsozialistischen ,, Rasseforscher" hervorzurufen.
Das 3. Totenreich
Inserat in den Greizer Neuesten Nachrichten:
,, Achtung! Als besondere Neuheit empfehle ich matragen ähnliche Einlagen für Särge. Durch diese Neuerung ist es jedem Heimgegangenen möglich, auf einem zeitgemäßen Lager zu ruhen."
Wenn Hitler schon den Lebenden nicht hilft für die Toten sorgt er, wie man sieht, mit rührender Hingabe!
Die ,, Ueberlebende"
In der Nationalzeitung", Essen, lesen wir: ..Es gibt keine Juden mehr auf dem Husumer Viehmarkt. Das ist für den Laien das hervorstechendste Merkmal. Das kärgliche halbe Dutzend Ueberlebende spielt wirklich keine Rolle mehr."
,, Ueberlebende" ist gut! Sind die anderen geschlachtet worden? Schon im Jargon seigt sich der Kannibalismus!