98Für unsere Kindersich so auffällig verändert. Vielleicht wurdedurch diesen Anfall sein Geistesleben wiederlichter. In solchen Stunden kommen ja aller hand törichte Hoffnungen. Und wenn schonnicht zu helfen war. so konnte der Arzt gewißdie Schmerzen lindern oder betäuben. Abersicherlich war noch Hilfe möglich. Wie langenur Mutter blieb! Ach. sie konnte noch garnicht zurück sein, sie war ja kaum eine halbeStunde fort. Gewiß kam der Arzt gleich mit.da mußte sie langsam gehen. Vielleicht mußtesie auch erst noch auf ihn warten. Wenn nurdieses röchelnde Stöhnen nicht gewesen wäre!Am liebsten hätte ich mir die Ohren zuge halten. Würde denn das gar nicht mehr auf hören? Und plötzlich stand der Wunsch ganzstark und groß vor mir: wenn Vater doch ersttot wäre. Ebenso klar wußte ich, was ich da mit verlor. War doch mein Vater trotz seinerKrankheit stets mein heimlicher Bundesgenosse.Wenn mich Mutter schalt oder schlug, so zwin kerte er mir lustig zu. und ich verstand ganzgenau, daß er damit sagen wollte: nimm'snur nicht so ernst, Mutter wird schon wiedergut. Vater und ich lebten überhaupt immerim heimlichen Einverständnis gegen meinetatkräftige, hitzige Mutter. Und nun solltedas alles aus sein. Ich sollte ganz alleingegen Mutter stehen. Mir bangte vor demGedanken daran, doch das Mitleid mit demLeidenden siegte: Wenn Vater doch erst totwäre! Nun, es würde wohl nicht mehr langedauern. Wenn nur erst der Arzt da wäre, derwürde schon helfen, so oder so. Horch, daswar endlich Mutterns Schritt. Sie kam allein.Der Doktor hatte sie wohl nicht gleich be gleiten können, gewiß kam er nachgefahren.Aber mit der Ruhe, an die Not und Schicksal schläge die Armen gewöhnen, sagte die Mutter:„Der Doktor meinte, es hätte doch keinen Zweck,und er habe keine Zeit für unnütze Gänge."Ich starrte sie ganz entsetzt an.„Aber Mutter,das ist doch nicht unnütz. Hast du ihm dennnicht gesagt—"„Unsinn," schnitt mir Mutterdas Wort ab,„er kommt nicht, weil wir ihnja doch nicht bezahlen können." Ein Weilchenwar ich wie betäubt, dann raffte ich mich auf.Was die Mutter sagte, war ja gar nicht mög lich. Wozu wäre der Doktor denn Doktor, wenner nicht den kranken Menschen helfen wollte?Ich hatte im allgemeinen vor den Großenwenig Respekt. Nur für wenige von ihnenhegte ich Bewunderung, und unter diesen standder Arzt cb:"an. Als wir noch in der Stadtwohnten und ich die Bräune halte, da war derArzt so gut gegen uns und so lieb zu mir ge wesen. Und war es denn nicht das schönste, seinenMitmenschen so sichtbar helfen zu können? Undeiner, der das tat, mußte ein gutes Herz haben.Sonst hätte er doch diesen schweren Beruf garnicht erwählt. Denn er mußte ja stets bereitsein, nachts sein warmes Bett zu verlassen,um womöglich durch Schnee und Regen zueinem fernwohnenden Kranken zu eilen. O,ich wußte, was das hieß, nicht schlafen dürfen.Mußte ich doch selbst häufig nachts arbeiten.Aber ließ sich vielleicht das Flicken eines altenFilzschuhs oder das Nähen von Pantoffelfuttermit der herrlichen Tätigkeit eines Arztes ver gleichen? Und dann tat der Doktor das allesdoch freiweillig, nicht weil ihm Mutterns Handim Nacken lag, oder weil er sonst morgen nichtszu essen gehabt hätte. War er doch reich undwohnte in einem schönen Haus. Und nunsollte der Doktor mit einem Male den Wegzu meinem sterbenden Vater scheuen, nur weilwir arm waren? Das konnte nicht sein. Mutterhatte es ihm sicher nur nicht richtig gesagt.Sie war immer gleich so heftig, vielleicht hattesie zu schimpfen angefangen.Jedenfalls mußte nun so schnell wie nurmöglich der Arzt nochmals gerufen werden.So sprang ich die Treppe hinab und hetzteüber die Felder. Mir war's, als hörte ichhinter mir, mich vorwärts peitschend, immernoch das entsetzliche Stöhnen meines Vaters.Aber ich holte ja Hilfe, und nur an meinerSchnelligkeit lag es, sie rasch zu bringen. Atem los kam ich am Hause des Doktors an. Ichlief durch den Vorgarten. Als ich die Klingelziehen wollte, fühlte ich, daß ich noch wartenund Atem schöpfen mußte, ich hätte kein Wortherausgebracht. Doch da öffnete sich auch schondie Tür, und der Arzt kam mir entgegen.„Herr Doktor, bitte, bitte, kommen Sie dochschnell zu meinem Vater," brachte ich mühsamheraus, und da er nicht stehen blieb, lief ich,immer noch keuchend, schwitzend und mitschmutzigen Füßen neben ihm den Gartenwegentlang. Mißbilligend blickte der Doktor michan.„Wem gehörst du denn?" Ich nanntemeinen Namen, sagte, daß es mit Vater jetztso ganz anders wäre als wie vor vier Tagen,wo der Herr Doktor zum letztenmal bei unswar, daß Vater so furchtbare Schmerzen hätte,und flehte ihn immer wieder an, nur nochein einziges Mal zu uns zu kommen. Wirhatten jetzt das Gitter des Vorgartens erreicht,und der Arzt blieb stehen. Es war ihm wohl