Nr. 7.
Die Gleichheit
5. Jahrgang.
Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.
Die ,, Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nro . 2756) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Inseratenpreis die zweigespaltene Petitzeile 20 Pf.
Mittwoch, den 3. April 1895.
Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.
Ein Urtheil.
Nicht zu einer Sizung, zu einem Urtheil trat der Reichstag am 23. März zusammen, um über die ihm angesonnene Ehrung Bismarck's zu dessen 80. Geburtstag zu entscheiden. Und sein Beschluß kommt einem Urtheil gleich, ist eine Verurtheilung der Bismarc'schen Raub-, Blut- und Eisenpolitik fluchwürdigen Andenkens, ist eine Warnung für die, welche sich nach ihr als nach den Fleischtöpfen Aegyptens zurücksehnen und die Bismarcksverehrung als ein Symbol ihrer volksfeindlichen Gelüfte der vorwärtstosenden Reaktion vorantragen.
-
Was die Reaktion vom Reichstage forderte, war nicht eine bloße Höflichkeitsbezeugung gegenüber einem alten Manne, der einst allmächtig im Mittelpunkt des politischen Lebens stand. Es war eine hochpolitische That, ein Pronunziamento zu Gunsten der Vergewaltigung jeder freiheitlichen Regung, zu Gunsten der nacktesten Raub- und Gewaltpolitik der ausbeutenden und herrschenden Klassen. Bismard war mehr als sonst Jemand der Träger dieser Politik, er, der in seiner Person die kapitalistische Dreieinigkeit Junker, Börsen-, Fabrikkapital- darstellte, war die Verkörperung eines Systems, das alles was Freiheit, alles was soziale Entwicklung hieß, unter den Reiterstiefel trat, mit der ochsengräflichen Stallpeitsche behandelte. Und deshalb seit Wochen schon der bis an blödeste Narrethei grenzende Bismarckrummel aller Elemente, die von Volksausbeutung leben und ein Interesse daran haben, behufs weiterer Auswucherung der werkthätigen Masse dem Nade des politischen Fortschritts durch eine Gewaltpolitik in die Speichen zu fallen. Aus dem Schellengeklingel der Bismarcksnarren tönt deutlich das Angstgeschrei der sich bankerott fühlenden Satten und Ueberfatten nach einem politischen Hausknecht, der mit des Erreichskanzlers Brutalität und Gewiffenlosigkeit gegenüber der Arbeiterklasse seines Amts walten möchte. Ihrer Rolle getreu, als Vortänzerin des reaktionären Herensabbaths, war die Regierung mit Sympathie und That an dem Faschingstreiben betheiligt. Land- und Geheimbderäthe wirkten für die Huldigung Bismarc's durch Ehrenbürgerrecht und Glückwunschadressen; Staats- und Gemeindebeamte ließen sich angelegen sein, zum Besten eines neuen Ottopfennigs den Klingelbeutel zu schwenfen. Und um der Kundgebung eine höhere Weihe" zu geben, um sie zu einer„ nationalen" umzulügen, ward ber Volksvertretung eine Huldigung des Mannes zugemuthet, der Solange er an der Macht saß, den Reichstag bei jeder Gelegenheit mit zynischem Hohn und beispielloser Brutalität behandelte.
"
Wohl wußte man, daß das Zentrum dem Erreichskanzler ben Stulturkampf mit seiner schmählichen Vergewaltigung der Gewissensfreiheit nicht verziehen; daß ihm Polen, Welfen, Elsässer und vor allem Freisinnige und süddeutsche Volksparteiler alten und berechtigten Groll trugen; daß die Sozialdemokraten, die Vertreter des zwölf Jahre lang geächteten Proletariats, dem Vater des Ausnahmegesezes und seinem System in unversöhnlicher Gegnerschaft gegenüber standen. Aber die bürgerliche Opposition wurde von der Reaktion und das nicht unverdient so niedrig eingeschäßt, daß man sie mittels von Drohungen zu Paaren zu treiben erwartete. Jedennoch und auch trotzdem, daß an höchster Stelle recht
Zuschriften an die Redaktion der Gleichheit" sind zu richten an Fr. Klara Bettin( Eißner), Stuttgart , RothebühlStraße 147, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.
deutliche Kommandowinke gefallen sein sollen, ist die Reichstagsmajorität der Reaktion nicht eingeschwenkt. Sie hat Rückgrat be wiesen, ein steifes, festes Rückgrat. Vergeblich zeterten die Vertreter der Konservativen, die ja dem Urheber der Getreidezölle zu großer Erkenntlichkeit verpflichtet sind, von Undank gegen den Mann, der mit dem Reiche den Reichstag geschaffen habe. Umsonst verstieg sich der Vollblutagrarier Kardorff zu der dummdreisten Behauptung, daß sich der Reichstag durch Ablehnung der Huldigung ,, unsterblich lächerlich mache". Ungerührt vernahm auch die Reichstag majorität die Arie von geschichtlicher Größe und nationaler Pflicht, welche Bennigsen im Namen der Nationalliberalen anstimmte. Mit 163 gegen 146 Stimmen wurde die Ehrung Bismarck's abgelehnt, nachdem die Oppositionsparteien in kurzen Erklärungen ihre Stellungnahme dargelegt hatten. Die Parteien würden sich jedes Ehrgefühls bar gezeigt, sie würden ihrer Vergangenheit ins Gesicht geschlagen und vor allem gegen die Würde und leberzeugung ihrer Wähler gehandelt haben, hätten sie sich zu der Huldigung verstanden.
"
Die Reaktion hat die Bedeutung des Reichstagsbeschlusses fräftig unterstrichen. Ihre Presse schäumt vor Wuth und beutet es aus, daß der Kaiser mit der ihm gewöhnlichen temperamentvollen Eigenart wieder einmal persönlich in das politische Leben eingegriffen hat. In einem Telegramm versichert er dem Erreichskanzler seine tiefste Entrüstung" über den Beschluß des Reichstags und seine Ueberzeugung, daß derselbe im vollsten Gegensatz zu den Gefühlen aller deutschen Fürsten und ihrer Völker stehe". Bezüglich der Gefühle deutscher Fürsten dürfte der hohe Herr mit seiner Kundgebung wohl den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Aber die Gefühle des deutschen Volks für Bismarck und seine Werthschätzung des Reichstagsbeschlusses steht auf einem anderen Blatt. Bis nach Hinterpommern hinein haben die Deutschen mehr und mehr mit der vormärzlichen Auffassung gebrochen, sich als Völker ihrer Fürsten zu fühlen und mit der frommen Köhlergläubigkeit des beschränkten Unterthanenverstands ihr Urtheil an die Personen der Fürsten abzudanken. Das deutsche Volk
-
Volk soweit es nicht besteht aus Lieutenants und„ ollen ehrlichen" Wucherern à la Seemann, aus Jobbern, Stumm und Stümmchen, sowie aus den Sippen und Magen der Kanize, oder soweit es nicht durch das Prozenthum mit der Hungerpeitsche durch das - es weist kaudinische Joch der Selbsterniedrigung getrieben wird mit tiefster Entrüstung" jede Huldigung Bismarck's zurück. Nicht vergessen hat es, daß Bismarck's Regierungssystem die Gewissen brutal knechtete; das Nationalitätsgefühl einzelner Bevölkerungsgruppen verlegte; daß es den Armen nahm und den Reichen gab, um auf Kosten von Bettlern Millionäre zu züchten; daß es die Arbeiterklasse mundtodt und gefesselt der schrankenlosesten Ausbeutung durch das Unternehmerthum überlieferte; daß es Lockspißelthum und Nepotismus großpäppelte, auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens eine Korruption säete, die üppig in die Halme geschossen ist. Und die Sünden der Bismärckerei gegen das Wohl
des Volfs, sie leben fort, ste stehen bei jeder Gelegenheit auf und zeugen gegen das System. Wenn deshalb je der Reichstag in Uebereinstimmung handelte mit dem Fühlen und Denken des werkthätigen Volts, wenn er je die Masse bei einem Beschluß hinter