wird durch die jetzigen Zustände auf dem Gebiete des Vereins- und Versammlungsrechts. Das Lebensinteresse der Arbeiterklasse fordert, daß hier Wandel geschaffen werde, daß das Proletariat in Deutsch land die nämliche Koalitionsfreiheit erhalte, die es in England, Amerika , Australien besitzt. Denn da keine Interessengemeinschaft zwischen Kapitalisten und Arbeitern bestehe, müßten letztere das Recht besitzen, sich in Kampfesorganisationen gegen die kapitalistische Macht zusammenschließen zu können. Freilich werde das Proletariat erst dann die Vereins- und Versammlungsfreiheit erhalten, wenn die Arbeiter eine solche Macht im Staat geworden seien, daß auch der reaktionärste Politiker es für nützlich erachte, ihnen Konzessionen zu machen.
Der sozialdemokratische Antrag, der gleiches Recht für Männer und Frauen forderte, bot natürlich bürgerlichen Politikern der verschiedensten Schattirungen Gelegenheit, ihr vollkommenes Unverständniß für die Frage der Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts wieder einmal zu betheuern. Wie immer geschah es unter dem Aufgebot der üblichen Phrasen von dem Naturberuf der Frau und der Frauen Pflicht und Recht. Einzig und allein der Freifinnige Lenzmann ertlärte sich bürgerlicherseits und im Gegensatz zu seinen Fraktionsgenossen für gleiche Rechte für beide Geschlechter, da die Frauen wirthschaftlich gleich thätig seien wie die Männer.
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den Siebengescheidten der Bourgeoisie, so wird man in der Zusammenstellung von Gegenwart und Feudalismus einen unerhörten Widerspruch sehen. Die Leibeigenschaft ist doch in deutschen Landen seit nun bald einem Jahrhundert in Folge der großen Revolution der Franzosen , unserer„ Erbseinde", gänzlich abgeschafft. Sie mag heute in Afghanistan und im afrikanischen Sudan noch existiren, aber doch nicht in Preußen, wo nach dem Zusammenbruche des alten Regims und des bevorrechteten Adels in der Schlacht bei Jena Friedrich Wilhelm III. zur Stein- Hardenbergischen Bauernbefreiung und damit zur Abschaffung von Feudalsystem und Leibeigenschaft gezwungen wurde. Gemach! Gemach! Trotz der übrigens weit über Verdienst gerühmten Stein- Hardenbergischen Gesetzgebung ist noch viel von Feudalismus und Leibeigenschaft in Preußen übrig geblieben. Ein Wort beweist dies treffender als die längsten Ausführungen, das Wort: Gesindeordnungen. So lange diese nicht mit Stumpf und Stiel ausgerottet sind, so lange auf Grund derselben die Rechte Hunderttausender abhängen von der Willkür ihrer Arbeitgeber, die selbst zur körperlichen Züchtigung berechtigt sind, so lange ist der Feudalismus in Deutschland nicht beseitigt. Mit seiner Versklavung von Arbeitern und vor allem von Arbeiterinnen blüht dieser Feudalismus noch heute in Stadt und Land. Ihn zu bekämpfen, ist heute wie nur je eine der dringendsten Aufgaben unserer Partei. All die Schattenseiten des Feudalsystems haften dem Dienstbotenwesen an: vollständige Knechtung der Arbeiter, ungemessene Arbeitszeit, ungenügender Schutz gegen Uebergriffe der„ Arbeitgeber", geringer Geldlohn, Ueberwiegen der Naturalleistungen, gemeinsame Wohnung mit dem Arbeitgeber, Mangel jedes Arbeiterschutzes, Fehlen der Pausen, der gesetzlichen Regelung der Arbeitszeit, der Sonntagsruhe, und vor allem Jehlen des Koalitionsrechtes. Im umgekehrten Verhältnisse zu den staatsbürgerlichen Rechten des Gesindes stehen die rechtlichen und thatsächlichen Befugnisse des„ Arbeitgebers". Wir haben hier ein vollkommen ausgebildetes patriarchalisches System vor uns, aber die Lichtseiten desselben sind vollkommen verschwunden, nur die Nachtseiten sind übrig geblieben.
Im Uebrigen waren die Ausführungen sämmtlicher bürgerlicher Reichstagsabgeordneten zu dem Antrage der Sozialdemokratie ein unumwundenes Eingeständniß politischer Schwäche und Rathlosigkeit, wie es erdrückender kaum gedacht werden kann. Sogar der National liberale Marquardsen anerkannte die Dringlichkeit der geforderten Reform, noch kräftiger wurde diese von Polen und Welfen, von mehreren Freisinnigen und vor allem von dem Zentrumsmann Bachem betont. Dieser bedauerte, daß der Grundsatz:„ Gleiches Recht für Alle" bei Handhabung der Vereins- und Versammlungsgesetze nicht zur Geltung gelangt, er anerkannte, daß die Beschwerden der Sozialdemokratie berechtigte seien, daß es zu unhaltbaren Zuständen führe und die vorhandenen sozialen Gegensätze verschärfe, wenn man sich nicht entschließen könne, in den öffentlichen Verhältnissen der Sozialdemokratie zu geben, was der Sozialdemokratie gebühre. Kurz, die Vertreter sämmtlicher bürgerlicher Parteien, die zum Wort kamen, stimmten darin überein: eine durchgreifende politische Reform der Vereins- und Versammlungsgesetze von reichswegen ist dringend nöthig. Allein alle ihre Erklärungen flangen auch in dem elegischen Nachsatze aus: aber der gegenwärtige Moment ist für eine solche Reform nicht geeignet, weil ihr der Bundesrath, die reaktionäre Regierung, nun und nimmer zustimmen würde. Mit diesem Stoßseufzer spotteten die bürgerlichen Barteien ihrer, sie wissen nicht wie. In der That, wie kommt es, daß der Reichstag nicht eine volksthümliche, freiheitliche Regierung neben sich hat, sondern eine reaktionäre Regierung über sich? Doch nur daher, daß die bürgerlichen Parteien aus Furcht vor dem kämpfenden Proletariat ihre politische Einsicht und Kraft verloren haben, die Reaktion auf politischem Gebiete förderten und großpäppelten. Aus engherzigstem, furzsichtigstem Klaffenegoismus zog das deutsche Bürgerthum die Reaktion von oben der einsten Reform starke Organisation hinter sich haben. Diese Thatsache allein würde von unten vor, und wenn es nun neben dem Proletariat ab und zu die Früchte seiner politischen Abdankung kosten muß, so erntet es nur,
was es gefäet.
Der sozialdemokratische Antrag wurde abgelehnt gegen die Stimmen der Sozialdemokratie, der süddeutschen und der freisinnigen Volkspartei, der Polen und einiger Mitglieder der freisinnigen Vereinigung. Die von der Sozialdemokratie angeregten Debatten fügen sich als intereſſantes und wichtiges Blatt der Geschichte ein vom politischen Verkommen der Bourgeoisie und der aufsteigenden Entwicklung des Proletariats. Weiten Kreisen der werkthätigen Masse im Klassenstaat steht, und daß das Proletariat für jede Reform ausschließlich auf seine eigene Kraft zählen muß.
Jus primae noctis
im letzten Viertel des XIX. Jahrhunderts in Preußen. Br. Die Geschichtsforscher, die bewußt oder instinktiv ihre Forschungen im Dienste der herrschenden Klassen anstellen, haben öfters behauptet, daß das jus primae noctis nichts als eine Sage ſei, daß es weder in der Feudalzeit noch in sonst einer Epoche in deutschen Landen existirt habe. Daß das jus primae noctis( das des ersten Beischlafes vor dem ehelichen Manne bei allen Leibeigenen hatte, wissen wohl die meisten Leserinnen. Wir wollen nun hier nicht in die Zeiten des mittelalterlichen Feudalismus zurückschreiten, sondern Verhältnisse der Gegenwart an der Hand der Statistik beleuchten. Verhältnisse der Gegenwart aber auch des Feudalismus . Folgt man
Bei der Uebermacht des Unternehmerthums, bei der vollständigen Abhängigkeit der Arbeitskräfte erklärt es sich leicht, daß Uebergriffe des wirthschaftlich und rechtlich Starken gegenüber dem fast vollständig wehrlosen wirthschaftlich und rechtlich Schwachen möglich sind und auch vorkommen. Nur zu häufig sind solche Uebergriffe des Unternehmerthums den Industriearbeiterinnen gegenüber. Wir verweisen blos auf die mit fürchterlicher Regelmäßigkeit im„ Vorwärts" veröffentlichten Inserate der Buchbinderorganisation, worin sie bestimmte Kartonnagefabriken für gesperrt erklärt, weil die Arbeiterinnen dort unsittlichen Attentaten der Unternehmer ausgesetzt sind. Und das geschieht in der Stadt Berlin , wo die Arbeiter Selbstbewußtsein, Rückhalt in den Massen besitzen, über gute Organisationen aller Art und eine gefürchtete und einflußreiche Presse verfügen; geschieht speziell in einem Berufe, wo von patriarchalischem Verhältnisse nicht die Spur übrig geblieben ist, wo die Arbeiterinnen eine thatkräftige und
uns schon den Rückschluß gestatten, daß dort, wo die Arbeiter den bleiernen Druck der Gesindeordnung auf sich lasten fühlen, wo kein Koalitionsrecht existirt, wo die Arbeiterin über jede außer Hause verbrachte Minute Rechenschaft ablegen muß, wo sie also schutz- und
hilflos in die Hand ihrer Ausbeuter gegeben ist, daß dort die Ar
beiterinnen noch weit mehr Opfer der Sinnenlust ihrer Brotgeber"
sein müssen, als in irgend einem Berufe sonst. Und dies ist auch der Fall, wie unsere weiteren Ausführungen zeigen werden. Daher sei auf eine fürchterliche soziale Erscheinung aufmerksam gemacht, die im Gefolge der zahllosen Angriffe auf die„ dienenden" Mädchen eintritt, nämlich auf die ungeheure Sterblichkeit der Dienstbotenkinder, vor allem im Säuglingsalter.
Von je 10 000 Kindern starben im ersten Lebensjahre im Zeitraume 1880-1888 in Preußen:
"
beim Gesinde
3319
bei den ungelernten Arbeitern
2512
"
"
gelernten
2284
"
"
selbständigen
2159
"
11
"
Privatbeamten.
2111
.
"
"
öffentlichen Beamten
2031
Zirka ein Drittel aller Dienstbotenkinder stirbt somit schon im
ersten Jahre, während von den Kindern ungelernter Arbeiter erst ein
Viertel, von denen der Beamten blos zirka ein Fünftel vor vollendetem ersten Lebensjahre stirbt.
Vergleichen wir die Säuglingssterblichkeit beim Gesinde mit dem bei der Gesammtbevölkerung, und zwar getrennt für die einzelnen preußischen Provinzen, so ergiebt sich folgendes Schreckensbild: