der Schreiber
Und der Richter stand und sah und fragte: „ Wo die Eltern?"- ,, Unbekannt" Gravitätisch gab das Wort zurück. Und der Knabe hob die blassen, blauen Augen, zog das Tüchlein auf der nackten Brust zusammen, jäh mit einem Male Eisige Grabesöde haucht' ihn an. In Gedanken stand der Richter, senkte Seine Stirn und frug zum andern Male: " Ist im Dorfe eine Schule?"„ Nein." Mürrisch war der Schreiber meist im Amte, Doch die Frage klang so wunderlich Er befann ein Weilchen sich, ob schließlich Diese Antwort recht fürs Protokoll sei, Spreizte seine spitzen, steifen Finger, Leise trommelnd auf dem grauen Blatt. Und der Richter sah den Knaben zittern, Sah die Händchen, blau und abgemagert, Sah die eingefall'ne Brust, die Lumpen, Sah den Glanz der Augen, milchig gläsern, Wo des Himmels Blau sich spiegeln sollte, Sah das kleine Haupt, drin der Gedanke Dumpf, im Reime schon verkümmert, schlief. Und seltsamer Schatten hüllt sein Antlitz. Seine Brust erfüllt geheimes Beben, Ihm zum Thronsaal wird der öde Saal. Und die Zukunft mit der Wolkenstirne Läßt sich nieder auf dem Throne, donnernd, Wortgewaltig, aus der Fluthgewandung Hebt zwei Tafeln sie und zählt die Ernten Auf der Menschheit brachgelegtem Feld. Her zu mir, ihr menschlichen Geschlechter!" Finster füllt ihr herber Ruf sein Ohr, Und er sah in dichten, dunklen Massen, Sah sie ziehn und sah der Erde Bahnen Sie versperren, und er sah voll Bangen, Daß gen Morgen eine Riesenwolfe, Sie der Sonne Siegesdurchbruch wehrten, Und die Dämm'rung weilte tausend Jahre Und noch einmal tausend auf der Welt... Und er sah, daß diese dunkle Masse Jedem leuchtendgroßen Ziel verlor'ne
Kraft, und las im drohenden Blick der Zukunft,
Las die Rechnung über Millionen,
Und er sah mit plötzlichem Erschaudern, Daß die Glückenterbten leiden müssen
Für die Schuld der menschlichen Gesellschaft,
Und erbebend hört er in dem Raume, Wie Gerechtigkeit das Urtheil sprach... ,, Mag euch Christus" sprach die Stimme Wer die Schuld trägt? Jener, der nicht weiß, Wo der Weg führt, und im Finstern wandelt, Oder ihr, die selbstgerecht in dicke
Folianten ihr Gesetze schreibt, Unbekümmert, dieses Kind zu lehren,
,, richten!
Das doch arm und einsam!... Christus richte...!" Schweigend, unbeweglich auf dem Tische Stand das schwarze Kreuz, wie heiße Thränen Die Altäre schweigen, und der weiße Christus schwieg.... Aufstand der Richter, ging Langsam, wo, des harten Spruchs gewärtig, Bleich der Knabe stand, berührte sanft Mit der Hand sein blondes Haupt und sagte: ,, Komm', mein Kind, ich will dein Lehrer sein!" ( Frei nach dem Polnischen von Karl Hendell.)
Kleine Nachrichten.
* Ueber die deutsche Frauenbewegung berichtete Fräulein Dr. Käthe Schirrmacher kürzlich in der Pariser„ Revue feministe ". Die Verfasserin ist identisch mit jener Rednerin auf dem Berliner Frauentongreß, die das Lob der studirten Frau in allen Tönen sang und den Fortschritt der Frauenbewegung von dem Wissen ihrer Führerinnen abhängig machte. Wie es um dieses Wissen bestellt ist, dafür legt sie selbst in obengenanntem Artikel Zeugniß ab: sie weiß nämlich von der deutschen Arbeiterinnenbewegung nichts weiter zu sagen, als daß sie sich bisher nur mit der Lohnfrage beschäftigt
39
1
habe! Die weiblichen Doktoren sind, soweit sie in Bourgeoisschuhen stecken, ihren männlichen Kollegen durchaus ebenbürtig.
Das Kapitel der Hungerlöhne der Arbeiterinnen wird durch die folgenden Zahlen um einen Beitrag bereichert. Nach sehr forgfältig geführten Erkundigungen der„ Stuttgarter Vereinigten Gewerkschaften" erhielten in 9 Berufen, wo der Verdienst ermittelt werden konnte:
160 Arbeiterinnen je 12 Mt. Wochenlohn;
100
314 1290
450
M
=
=
= 10 M
M 9
V
M
8 M
M 7
=
M
:
M
M
Die Lohnsumme dieser 2314 Arbeiterinnen zusammen beträgt mithin 19216 Mt.; der wöchentliche Durchschnittslohn stellt sich also auf 8,30 Mt. Meint vielleicht Herr Eugen Richter , daß auch aus den Reihen dieser Arbeiterinnen eine„ Spar- Agnes" erstehen und ein ,, Kapitälchen" von 2000 Mt. auf die hohe Kante legen könne?
* Ueber die Frauenfrage hat in Tübingen der neuernannte Professor der katholischen Theologie eine Antrittsrede gehalten, die folgenden schönen Passus enthielt:„ Das Wahlrecht würde die Frau aus ihren Bahnen werfen. Warum soll sie in das rauhe Leben, den Stürmen ausgesetzt, geworfen werden, dort ihre Weiblichkeit, vielleicht ihre Sittlichkeit zu verlieren?" Ob wohl der christliche, barmherzige Herr Professor schon einmal etwas von dem Leben der Fabritarbeiterin gehört hat, die zwar das Wahlrecht noch nicht besitzt, aber ihm gewiß von dem rauhen Leben, seinen Stürmen und Gefahren mehr erzählen fönnte, als etwa die Bürgersfrau in Neu- Seeland , die ihren Wahlzettel in die Wahlurne wirft.
Ein neuer Vers zum alten Lied von der Ausnützung der Handlungsgehilfinnen wird durch die folgenden Thatsachen geliefert. Die Firma Leonhard Tieß, die in verschiedenen deutschen Städten Filialen hat, betreibt auch in Aachen ein Zweiggeschäft. In demselben sind etwa 130 Verkäuferinnen thätig. Diese haben eine tägliche Arbeitszeit von 12 Stunden, und zwar Vormittags von 8-1 Uhr und Nachmittags von 23-1/ 10 Uhr. Während dieser Zeit ist ihnen auch nicht die geringste Gelegenheit zum Sitzen gegeben. Für ihre Arbeitsleistungen erhalten die Damen ein Monatsgehalt von 40 bis 50 Mk.; nur die ersten Verkäuferinnen bringen es auf 70 Mt. monatliches Salär. Die kleinste Verspätung zieht eine Ordnungsstrafe von 25 Pf. nach sich. Angesichts solcher Auswucherung der Arbeitskraft ist es kein Wunder, daß die Handlungsgehilfinnen allmälig zum Bewußtsein ihrer proletarischen Existenz erwachen und durch die Theilnahme am Klassenkampf ihre Lage zu verbessern suchen. Wenn der Prozeß auch langsam vor sich geht, so doch unvermeidlich. Auch in der Schichte der Proletarierinnen im Schleierhut und Modekostüm vermag die Harmonieduselei auf die Dauer sich nicht zu behaupten, ganz gleich, ob sie durch männliche oder frauenrechtlerische Konfusionsund Beschwichtigungshofräthe vertreten wird.
Die Zahl der Arbeiterinnen in der deutschen Metallindustrie liefert eine lehrreiche Illustration für das Vordringen der Frauenarbeit. Nach der Berufszählung des letzten Jahres famen 1895 in der deutschen Metallindustrie auf 873 180 Lohnarbeiter überhaupt 38743 Frauen und Mädchen. Eine große Rolle spielen weibliche Arbeitskräfte in der Gruppe„ Klempnerei und Blechwaarenfabrikation". Hier sind 4673 Frauen und Mädchen beschäftigt, von denen 4145 allein in der Blechwaarenfabrikation arbeiten, wo sie fast ein Drittel aller daselbst thätigen Arbeitskräfte ausmachen. In der Gruppe„ Edelmetallindustrie" sind von 31875 Arbeitern überhaupt 9721 weibliche, also ebenfalls fast ein Drittel. Auch in der Gruppe„ Lampen und Beleuchtungsapparate" machen die Frauen und Mädchen annähernd ein Drittel aller beschäftigten Arbeitskräfte aus. Zu einem Viertel sind die Arbeitskräfte weibliche in der Gruppe Nadeln, Nadlerwaaren, Drahtgewebe und Drahtwaaren." Weibliche Grobschmiede zählte man 1895 nicht weniger als 374; ihre Zahl hat seit 1882 um 120 Prozent zugenommen. Die Gesetzgebung muß der Entwicklung, welche diese Zahlen anzeigen, Rechnung tragen, indem sie den Arbeiterschutz erweitert, weibliche Fabrikinspektoren anstellt und den Frauen die gleichen politischen Rechte wie den Männern verleiht. Das Proletariat wird die Gesetzgebung allmälig zwingen, diesen Weg zu gehen, mag sie sich aus Klasseninteresse und Vorurtheil auch dagegen sträuben.
"
* Die Zulassung der Frauen zur Rechtsanwaltschaft ist vom Kantonsrath in Zürich mit 120 gegen nur 22 Stimmen angenommen worden. Die Mehrzahl der Redner und die Regierungsvertreter standen auf Seiten der Frauen. Eine Beschränkung ist nur bezüglich der Ehefrauen gemacht, die für die Ausübung des Advokaturberufs der Zustimmung des Ehemannes bedürfen. Während der Ver