um den Preis von Kompromissen mit der bürgerlichen Opposition. Wohl waren die Genossen Bernstein , Parvus, Arons 2c. im Jahre 1893 anderer Meinung und plädirten warm für die Betheiligung der Sozialdemokratie an den preußischen Landtags= wahlen. Allein ihre Gründe vermochten damals die Gegner der Wahlbetheiligung nicht zu überzeugen. Von den oben angezogenen Erwägungen ausgehend, beschloß der sozialdemokratische Kongreß zu Köln 1893 die Nichtbetheiligung der Partei an den preußischen Landtagswahlen, gleichzeitig aber auch eine Bewegung großen Stils zur Eroberung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für alle einzelstaatlichen Parlamente.
In den seither verstrichenen Jahren ist in Sachen dieser Bewegung auch nicht einmal ein Versuch gemacht worden; die Losung der Nichtbetheiligung an den preußischen Landtagswahlen wurde dagegen strikte durchgeführt. Die bürgerlichen Parteien blieben in der Folge in der Wahlkampagne und im Abgeordnetenhause hübsch unter sich. Kein ernster Wahlkampf rüttelte die Massen wach und warf seine Schatten, die Haltung der Abgeordneten beeinflussend, bis in das politische Paradies der Junker und Scharfmacher. Nicht der Pulsschlag modernen politischen Lebens klopfte im preußischen Landtage. In geistiger Bedeutungslosigkeit lebt er dahin, aber ausgestattet mit einer reichen Fülle politischer, sozialer Macht. Unfähig, unsere Zeit und die aus ihr geborenen staatsmännischen, gesetzgeberischen Aufgaben zu begreifen, die geschichtliche Entwicklung bewußt zu fördern, erweist er sich als machtvoll genug, den sozialen Fortschritt zu hemmen. Und diese seine Gewalt, zu schaden, wo er nicht nüßen kann, ist es, die aufs Neue innerhalb der Sozialdemokratie die Frage der Stellungnahme zu den preußischen Landtagswahlen aufgerollt hat.
Was denn hat sich geändert, daß die Aufhebung des so kategorisch lautenden Kölner Beschlusses heute so vielstimmig in Parteifreisen gefordert wird, gefordert wird auch von Genossen, die seiner Zeit nach reiflicher Ueberlegung diesem Beschlusse zustimmten? Das preußische Dreiflassenwahlrecht ist nicht verbessert worden. Umgekehrt, dank der steigenden Proletarisirung der Massen, der Wirtung des Miquelschen Schwindelhabers, Steuerreform benamset, dank anderer Umstände noch hat sich das Wahlunrecht der Masse gegenüber schärfer zugespitzt, haben sich die politischen Machtverhältnisse noch mehr zu Gunsten der Besizenden verschoben. Aber der Vorstoß der Reaktion im Landtag, das jämmerliche preußische Vereins- und Versammlungsrecht noch mehr zu beschränken, so gut wie aufzuheben, jener Borstoß, der nur von einer Zufallsmajorität zurückgeschlagen wurde, beleuchtete mit der Schärfe des Lichtwerfers eins: die bedeutende Macht des Junkerparlaments, die stete Gefahr, die von seiner Seite der fortschrittlichen Entwicklung, dem Befreiungsfampf des Proletariats droht.
Gleichzeitig trat eine andere Erscheinung zu Tage: der Interessengegensatz zwischen Junkerthum und Bourgeoisie machte sich stark geltend. Nimmersatte Begehrlichkeit ließ die Edelsten und Besten nach einer politischen Machtstellung ringen, die ihnen ermöglichen sollte, dem Racker Staat Begünstigungen abzuzwingen. Das Bürgerthum sah sich in seiner politischen und sozialen Herrschaftsstellung gefährdet, es befürchtete mit Recht eine Schädigung der industriellen Entwicklung, d. h. des Profits. Die Ungeheuerlichkeiten des Zickzackkurses, die Strömungen zur Stärkung einer absolutistischen Gewalt vermehrten die Gefahren, welche jenes Maß der politischen Entwicklung bedrohten, dessen die Bourgeoisie nicht entrathen kann. Eine Oppositionsstimmung regte sich im deutschen Bürgerthum, wie sie sich seit den Konfliktsjahren nicht offenbart hatte. Die Sozialdemokratie stand im Kampfe gegen Junkerthum und Absolutismus , im Kampfe für die Wahrung der politischen Freiheiten nicht allein auf der Schanze. Neben ihr, wenn auch zögernd und schwach, die bürgerliche Opposition. Und wie niedrig auch immer diese als geschichtliche Macht in Deutschland eingeschäßt werden muß, ein vorübergehendes Zusammenwirken zwischen ihr und der Sozialdemokratie zum Zwecke des Vereintschlagens bei Getrenntmarschiren erschien als möglich. So sah die Sozialdemokratie sich einer veränderten Situation gegenüber, welche die Frage der Betheiligung an den preußischen Landtagswahlen unter einem neuen Gesichtswinkel zeigte.
Gar verschiedenartig sind die Meinungen, welche zu der Frage
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in den Parteitreisen aufgetaucht sind und die in Hamburg in Für und Wider erwogen werden. Sie gehen in den mannigfachsten Spielarten von der unbedingten Gegnerschaft gegen die Wahlbetheiligung bis zur unbedingten Befürwortung derselben.
Uns scheint die Betheiligung der Sozialdemokratie an den preußischen Landtagswahlen dringend geboten. Die politische Entwicklung der letzten Jahre hat die Frage bei Seite geschoben: welche Vortheile kann die Partei durch ihr Eintreten in den Wahlfampf erzielen? Sie hat an ihre Stelle die Formel gesetzt: die Sozialdemokratie muß in den Wahlkampf eintreten, um bestimmte Nachtheile zu vermeiden.
Je mehr, dank des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts zum Reichstag, die politische Macht des Proletariats wächst, sein Einfluß auf die Reichsgefeßgebung steigt, um so mehr zieht die Reaktion sich auf die Einzellandtage zurück, um so größer wird die Neigung, wirkliche legislative Materien von dem Reichstag den Landtagen zuzuschieben. Die Bedeutung dieser, ihr Wirkungskreis wird auf Kosten jenes vergrößert. Mehr noch: von den reaktionären Einzellandtagen aus kann eventuell das Reichstags= wahlrecht bedroht werden. Da heißt es für das Proletariat abwehren, vorbeugen. Nicht aber das Abseits vom parlamentarischen Leben der Einzelstaaten ist das Mittel dazu, vielmehr das Mitten drin. Ganz besonders gilt das Gesagte mit Bezug auf den größten, einflußreichsten und reaktionärsten der Landtage, das preußische Abgeordnetenhaus. preußische Abgeordnetenhaus. Die Wahlenthaltung der Sozialdemokratie ist ja nicht gleichbedeutend mit ihrer Neutralität im Familienzwist der dort wohnenden bürgerlichen Parteien. Sie bedeutet vielmehr ein Verzichten auf zu erringenden Einfluß, sie führt zu einer Stärkung des erzreaktionären Junkerthums.
Deshalb Agitation zu den preußischen Landtagswahlen, womöglich auf der ganzen Linie! Deshalb Eintreten in den Wahlkampf mit eigenen Wahlmännern und auch für eigene Kandidaten in möglichst zahlreichen Kreisen. Wir meinen, daß den Genossen der einzelnen Wahlkreise die Entscheidung zustehen muß über die einzuschlagende Taktik, über die Form der Wahlbetheiligung.
Gewiß: die Schwierigkeiten, welche das elende Dreiklassenwahlsystem der Bethätigung der politischen Ueberzeugung entgegenstellt, sind sehr große. Allein sie sind nicht unüberwindliche, das lehren die Erfolge der österreichischen Parteigenossen in Landestheilen, wo gleichfalls indirekt und mit öffentlicher Stimmabgabe gewählt werden muß. Uebrigens: die Maifeier seßt unsere Genossen genau so der Maßregelung durch das Unternehmerthum aus, sie legt ihnen genau so den Verlust des Arbeitslohnes auf, wie die öffentliche Stimmabgabe bei den preußischen Landtagswahlen. Und doch fordern wir die Genossen zur Maifeier auf, und doch giebt es viele Zehntausende von ihnen, welche Gefahr und Opfer auf sich nehmen.
Gewiß: die positiven Erfolge des Wahlkampfes in Gestalt von Mandaten werden geringe sein. Wir schwören keineswegs auf die Berechnungen, die Zahl der Size im Landtag betreffend, die wir aus eigener Straft oder eventuell auf Grund von Wahlbündnissen zu erringen vermögen; die Zahl der Wahlkreise betref= fend, in denen unsere Wahlmänner den Ausschlag zwischen bürgerlicher Opposition und Reaktion geben sollen. Und Bernsteins Beurtheilung der bürgerlichen Demokratie und die an diese Beurtheilung anknüpfenden Schlußfolgerungen scheinen uns allzu sehr durch das Licht der englischen Verhältnisse gefärbt. Aber ebenso wenig beweiskräftig dünken uns die Berechnungen über unsere sicheren Schlappen. Des Weiteren verbürgt wohl das Klasseninteresse der Bourgeoisie, das politische Interesse der Demokratie ein gewisses Maß politischer Klugheit. Die Sozialdemokratie steht bei den preußischen Landtagswahlen dem Unbekannten gegenüber, und Ueberraschungen können nicht nur nach Seite des Mißerfolgs eintreten, sondern auch in der Richtung des Erfolgs. Die verrückte Abgrenzung der Urwählerbezirke kann es z. B. bewirken, daß hier und da die Sozialdemokratie auch in der zweiten WählerKlasse Siege erringt. Andererseits ist die Sozialdemokratie nicht mehr für alle bürgerlichen Elemente der ehemalige Wauwau, er scheint vielmehr neben der Junterpartei als das kleinere llebel.
Bei Weitem höher jedoch als die positiven Erfolge schäßen wir die agitatorische Wirkung unseres Eintretens in den Wahl