seinem berühmt gewordenen Vortrag vom 1. Mai 1891 über den Achtstundentag konnte Filippo Turati   klagen, daß die Proletarierfrau dem Manne immer noch nichts anderes sei als politisch ein Hemm­schuh und ökonomisch eine Konkurrentin. Die italienische Bauern­schaft, meinte er, läge noch immer tief im mittelalterlichen Schlummer, und nur dann und wann einmal gäbe sie einen vagen Klagelaut, etwa wie den Ton eines im Traume Redenden, von sich. Tiefer aber noch als der Bauer", fügte er hinzu, schläft die Frau."

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Und doch stand das Erwachen beider schon sehr nahe bevor. Kaum ein halbes Jahr später konnte derselbe Filippo Turati   in einer Mailänder   Arbeiterversammlung von den Proletarierfrauen bereits ein Heldenlied singen. Bei Gelegenheit eines übrigens unglücklich ausgelaufenen Ausstandes der Mailänder   Metallarbeiter hatte das Arbeiterweib das erste große Beispiel von Solidarität gegeben. Lassen wir den auch als Lyriker bekannten Parteigenossen in seiner wunder­bar schönen Sprache selber erzählen: Wer von euch erinnert sich nicht mehr, wie reizend und rührend zugleich junge Botinnen euch, gebogen unter der schweren Last, den bis obenhin mit Soldostücken angefüllten Koffer brachten? Mit den Soldostücken, welche sie eines nach dem anderen in ihren dumpfen Werkstätten gesammelt hatten? Jedes von diesen Kupferstücken zeugte von einer Entbehrung bis­weilen eines Haarbandes oder eines Spielzeugs, öfter aber noch eines Stückchen Brotes oder eines Teller Suppe auf dem öden Tische eurer Arbeitsschwestern. Und kaum hatten sie die Last niedergelegt, da flogen sie auch schon wieder von dannen halb stolz und halb verschämt, sich schnell dem Beifall der Dankbarkeit entziehend, aber mit der Jnaussichtstellung neuer Kollekten für kommende Freitage."** Aber die Mailänder   Frauen halsen nicht nur ihren männlichen Ar­beits- und Leidensgefährten, sie begannen auch selber sich gegen die Übermacht des Kapitals zu wehren. Im August 1892 streiften in Mailand   die Weberinnen und auf dem Parteitag in Genua   wurde für sie gesammelt.*** So wechselten die Funktionen von Kämpfer und Helfer von Fall zu Fall.

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Zugleich mit dem weiblichen Stadtproletariat erwachte auch das ländliche. Brachten doch bei Gelegenheit desselben Mailänder Metall­arbeiterstreiks auch die Landmädchen von Pieve d'Olmi Haufen von Körben mit Eiern nach der nahegelegenen Stadt Cremona  , damit sie zu gunsten der Ausständigen als Beitrag der Agrarbevölkerung ver kauft würden.

Auch die Reismädchen im Bolognese waren wachgeblieben. Männer, wie Gregorio Agnini  , Giuseppe Massarenti   und der orts­ansässige Arzt Dottore Romeo Romei spannten alle ihre Kräfte an, diese geplagten Landmädchen zu organisieren. Jetzt richtete sich der Kampf hier zunächst vor allem gegen die Zwischenhändler zwischen Arbeitskraft und Kapital, die mit ihrer Vermittlung Wucher treiben­den sogenannten Unteroffiziere( caporali). 3um Kampfesmittel aber wurde die Agrargenossenschaft( Cooperativa agricola), an welche sich die Schutz- und Trußzvereine( Leghe di Resistenza) anschlossen.+ In der Stadt Bologna   sammelte die Società Operaia Femminile mit Hilfe der begeisterten Anhängerin des Sozialismus, Argentina Bonetti­Altobelli, fast 800 Arbeiterinnen unter ihren Fahnen.

Überall regte es sich. Die breiten Massen des darbenden Prole­tariats begannen allenthalben aufzuatmen. Die große Sonne der sozialistischen   Weltbefreiung hatte geschienen und dort Wunder getan, wo selbst die große Sonne des südlichen Himmels machtlos gewesen war. Die Göttin Hoffnung war aufgewacht und winkte ihren Söhnen.

Bericht der Berliner Beschwerdekommission für Arbeiterinnen.

Die Berliner   Beschwerdekommission für Arbeiterinnen, welche von den Genoſſinnen mit Unterſtüßung der Gewerkschaftskommission organisiert worden ist, kann für das vergangene Jahr wieder eine Zunahme ihrer Tätigkeit feststellen. Ist auch die Steigerung der Be­schwerden, welche der Fabritinspektion eingereicht wurden von 24 in 1901 auf 36 im verflossenen Geschäfsjahr, eine nur geringe, so darf nicht vergessen werden, daß dabei die häufigen Beschwerden der Heimarbeiterinnen leider unberücksichtigt bleiben mußten, weil die betreffenden Betriebe der Fabrikinſpektion nicht unterstellt sind. Be­achtung verdient ferner, daß die Arbeiterinnen in immer größerer

* Filippo Turati  : Le 8 ore di lavoro". 4. Aufl., Mailand   1897, S. 7.

** Filippo Turati  : ,, Il Dovere della Resistenza". 4. Auflage, Mailand   1898, S. 12.

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Angiolini, loco cit., S. 174.

+ ,, Resoconto del Primo Congresso delle Camere del Lavoro d'Italia." Parma  , 29. Juni bis 1. Juli. Parma   1893, S. 26 ff.

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Zahl zu den einzelnen Kommissionsmitgliedern kommen, um Rat in gewerblichen und privaten Angelegenheiten zu erbitten. Es braucht wohl nicht betont zu werden, daß die erbetenen Auskünfte sehr gern erteilt wurden.

Beschwerden gingen der Kommission überwiegend aus der Kon= fektion ein, doch hat es auch nicht an solchen aus der Metall, Leder, Holz und Beleuchtungsindustrie gefehlt. Die zu lange Arbeitszeit, namentlich an den Sonnabenden, wurde sehr häufig beanstandet. Es scheint, die Arbeitgeber wollen sich noch immer nicht mit dem Gedanken vertraut machen, daß sie mit der Zeit der Arbeiterinnen nicht nach Willkür wuchern dürfen. Be­zeichnend für die leider so selten öffentlich festgenagelten Herrscher­gelüfte der Unternehmer ist der Ausspruch, den ein Arbeitgeber nach der Recherche durch die Inspektion tat. Der Herr erklärte, er werde Beschwerde führen, daß man ihn in der Weise belästige! Der be= treffende Unternehmer beschäftigt junge Mädchen von 7 bis 9 Uhr mit den üblichen Pausen. Überstunden berechnet er nach dem Wochen­lohn, nicht um einen Pfennig höher. Dafür zieht er aber den Mädchen jede halbe Stunde ab, welche sie auf Arbeit warten müssen. Und solch einer spielt den sittlich Entrüsteten, wenn ihm einmal in seine Ausbeutungsfniffe hineingeleuchtet wird!

Aus anderen Beschwerden ersehen wir, wie leichtfertig die aus­beutenden Kapitalisten mit Gesundheit und Leben der Ausgebeuteten umspringen. So wurden in einem Betrieb für Präzisionsmechanik den Arbeitern nicht genügend gute und lange Handschuhe für die Hantierungen mit Säuren geliefert. Ein Lehrling zog sich infolgedessen eine Blutvergiftung zu. In einer Lederfabrik werden in einer Kellerlokalität, welche höchstens 40 Quadratmeter Luftraum hat, zehn bis zwölf Arbeiter beschäftigt. Der Raum ist weder heizbar noch ge­dielt. Bei der Polizei ist er als Lagerraum" angegeben. Abends ist in ihm so schlechte Luft, daß häufig die Petroleumlampen ausgehen! Sehr häufig kehren Klagen der Arbeiterinnen über rohe Bes handlung von seiten der Unternehmer wieder. Es gibt Betriebe, in denen die gemeinsten Schimpfworte an der Tagesordnung sind, und wo die Arbeiterinnen, Frauen wie Mädchen, noch immer geduzt werden. Es wäre endlich Zeit, daß sich die Arbeiterinnen gegen eine solche Be­handlung ganz energisch verwahrten.

Nicht selten sind die Beschwerden über das Fehlen von An­kleideräumen, sowie über gemeinsame Ankleideräume für Männer und Frauen. Wir brauchen nicht darauf hinzuweisen, zu welch unerträglichen Mißständen diese Mängel, ganz besonders aber der lettere, führen. Gegen die Unsauberkeit in den Arbeits­räumen und hauptsächlich die Unreinlichkeit der Aborte wurden viele Beschwerden laut. Wir hören zum Beispiel, daß in den Arbeits­räumen selbst Aborte abgeschlagen werden, und daß ein besonderer Luft­abzug für sie nicht vorhanden ist. Es gehört nicht zu den Selten­heiten, daß für 40 bis 70 Arbeiterinnen nur ein solcher Abort vor­handen ist. In einer Fabrik müssen sogar 100 Arbeiterinnen mit einem Abort auskommen, während die Direktion für sich allein ein Geheimkabinett verschlossen hält. In dem nämlichen Betrieb scheinen überhaupt ganz eigenartige Zustände zu herrschen. So wird zum Beispiel das Plaudern bei der Arbeit mit einer Strafe bis zu 50 Pfennig belegt. Der Schrank, in welchem die Arbeiterinnen ihre Speisen auf­bewahren müssen, starrt vor Schmutz und Schwaben, und doch kostet es Strafe, wenn die Arbeiterinnen ihre Stullen auf den Arbeitstisch legen. Für welche Zwecke die Strafgelder verwendet werden, das blieb leider unserer Kenntnis entzogen.

Konnten wir im vorigen Bericht konstatieren, daß die Fabrik­inspektion die übermittelten Beschwerden schnell und gut erledigte, so müssen wir diesmal bedauernd feststellen, daß sie nicht immer in gewünschter Weise arbeitete. Einigemale mußte die Beschwerde zwei­mal eingereicht werden Ein anderes Mal wurde überhaupt nicht kontrolliert. Aus einer Teppichfabrik hatten wir arge Mißstände ge­meldet; eine Recherche seitens der Gewerbeaufsicht erfolgte jedoch nicht. Die Zustände in der Fabrik waren derartige, daß sich nach einiger Zeit eine öffentliche Textilarbeiterversammlung damit beschäftigte. Einen Tag, nachdem der Bericht darüber im Vorwärts" veröffent­licht worden war, erfolgte prompt Nachforschung. Es scheint, die Flucht in die Öffentlichkeit" übte also auch hier einen Druck aus. In einem Falle stellte die Inspektion der Kommission anheim, auf Grund einer von ihr eingesandten Beschwerde Arbeiterinnen der be­treffenden Fabrit behufs näherer Ermittlung der Übelstände in die Sprechstunde der Assistentin zu senden. Um diese Anheimstellung richtig zu bewerten, bedenke man das Folgende: Die Fabrik liegt in der Neuen Königstraße und die Arbeiterinnen sollten in die Sprech­stunde der Assistentin des Bezirkes N., Prinzenallee 88, gehen. Der Weg ist weit, der Arbeitstag der Arbeiterinnen ist in der Regel lang und die meisten von ihnen haben häusliche Verrichtungen die Fülle. Wenn man es den Arbeiterinnen so schwer macht, ihre Klagen vor­