bürgerliche Jdealisten kräftig vorgebaut worden war, hatte Schritt für Schritt Boden gewonnen. Sinn für Solidarität, der sich zunächst in gegenseitiger Hilfe äußerte, sodann aber zu einem festen Zusammen­schluß in Schuß- und Trutzvereinen führte, war geweckt worden, und die eigentliche im sozialistischen   Sinne revolutionäre Bewegung hatte sich hier und dort bereits in Lohnerhöhungskämpfe umgesetzt, die sich zwar je nach dem verschiedenen Grade der sozialistischen   Bildung, den das Proletariat in den einzelnen Landschaften Italiens   sich an­geeignet hatte, wohl verschiedenartig gestalteten, immer aber die aus­gesprochene Tendenz von Klassenkämpfen in sich trugen.

In Mailand  , damals zweifelsohne das Zentrum der sozialistischen  Wissenschaft, fämpften Filippo Turati   und Anna Kulischoff in der von ihnen gegründeten und geleiteten Halbmonatsschrift La Critica Sociale" gemeinsam einen für die Befreiung des italienischen Prole­tariats nach zwei Seiten hin gleich wichtigen Kampf. Einmal wurde in ihr zum erstenmal in Italien   die theoretische Grundlage des Sozia­lismus wissenschaftlich erörtert und die so gewonnenen Erkenntnisse in der Partei verbreitet, so daß die italienischen Sozialisten, denen immer noch ein gut Teil Bakuninscher Revoltenmacherei im Blute steckte, zu einer ernsten und sachgemäßen Auffassung der sozialen Probleme im Geiste von Karl Marx   erzogen wurden und zweitens wurde gerade in jener Zeit zu dem besonders engen leider nur bis auf den heutigen Tag allzu einseitigen Gedankenaustausch Grund gelegt, der den italienischen Sozialismus mit der deutschen   Sozial­demokratie verbindet. Ferner erfüllte diese Zeitschrift aber auch noch die Aufgabe, das italienische Proletariat aus den Spalten der Leit­artikel heraus zur Selbsthilfe anzuhalten und zur Organisation an­zufeuern.

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Anna Kulischoff entwickelte aber auch noch neben ihrer ärztlichen und journalistischen Tätigkeit in fieberhaftem Eifer eine persönliche Propaganda. Wochenlang, so erzählte sie dem Schreiber dieses selber, besuchte sie tagaus tagein zur Mittagszeit eine kleine in der Nähe des Domplatzes gelegene Locanda, in welcher die Arbeiterinnen einer nahen Fabrit in der halbstündigen Zwischenpause ihr färgliches Mahl einzunehmen pflegten. Dort hielt Anna Kulischoff dann ihre Vorträge, und atemlos lauschten die Frauen und Mädchen ihren Worten. Die geistige Nahrung ging ihnen noch über die körperliche. Sie begannen erst ordentlich zu essen, wenn Anna mit ihrem Vortrag zu Ende war. -Auf diese Weise gelang es der tapferen Ärztin, welche hierbei auf das Trefflichste von der Arbeiterin Giuditta Brambilla unterstützt wurde, immer größere Scharen von arbeitenden Frauen der gewerk schaftlichen Organisation zuzuführen. Dieses heiße Bemühen der Anna Kulischoff um die edle Sache, welche sie verfocht, bedeutet zweifellos eines der größten Blätter des Lorbeerkranzes, den sie sich verdient hat, aber es sollte für sie auch zur größten Dorne in dem Dornenfranz werden, welchen ihr die bürgerliche Gesellschaft binnen kurzem aufs Haupt setzen sollte. Der erste Tramwaywagen, den die von der Polizei und den Soldaten gehetzte Menge in den Maitagen

In Abendsfille.

Von Mizzi Kirchner, Wiedergrün.

Juni war's, die Rosen blühten so schön, so rot und duftreich. Mit leichten Schwingen flogen die farbenprächtigen, goldumsäumten Schmetterlinge von Blume zu Blume, drückten einen süßen, liebe­glühenden Kuß auf die Blumenblätter, flüsterten in sehnsüchtigem Verlangen etwas in den Kelch der zarten Blüten und flogen darauf weiter, immer weiter, in Sonnenschein und Blütenduft.- Die Blumen aber lachten; lachten wie rosige, unschuldsfrohe Kinder frisch und lustig in die Welt hinein.

Langsam senkte sich der Abend nieder, während ich oben im Walde auf einem Felsen saß und traumverloren in die weite Welt blickte. Zu meinen Füßen streckte sich Vater Wald", der ewigjunge graubärtige Alte, mit seinen grünen Töchtern, die ihm das Schlummerliedchen zum Schlafe auf weichem Moosbett sangen. Hart am Rande des Waldes, im Tal gebettet, ein Dörfchen und weiterhin noch mehrere. Im Westen beleuchtete eben die scheidende Sonne die gigantischen Gipfel des Hoch­gebirges. Noch einmal blinkte das Licht empor, geradeso als winke es grüßend zurück um den Menschenkindern das letzte Lebewohl zu sagen. Dann war die Sonne gegangen und bloß noch müde, ersterbende Strahlen aus der Fülle des Glanzes huschten gespenstig über Blätter und Blüten, welche unter dem schmerzlichen Abschieds­tuß bebten und zitterten. Leise, leise kam die Nacht mit ihren Tränen, dem kühlenden Naß, und träufelte Balsam auf die brennenden Wunden des Tages.

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Süßer Friede lag nun über der Flur. Drunten in den Fichten und Tannen sangen die Drosseln ihr bald freudiges, bald wehmut­volles Lied. Auch der allzeit muntere Schwarzkopf ließ seine spru­delnde Weise ertönen.

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1898 zur Selbstverteidigung benutzte, wurde mit Beihilfe derselben Arbeiterinnen der Fabrik Pirelli   umgestürzt, welche Anna Kulischoff in der Locanda organisiert hatte. Dieser Umstand führte natürlich später zum Beweis", daß die eingewanderte Russin eine Revolu­tionärin in des Wortes bürgerlichster Bedeutung sei.

Auch zu den 1897 stattfindenden Wahlen entfaltete Anna eine bisher nie gesehene Tätigkeit unter den arbeitenden Frauen Mai­ lands  . In einer vom Gruppo delle Donne Socialiste Milanesi; heraus­gegebenen Broschüre feuerte sie die Frauen an, die lässigen Männer in den Wahlkampf hineinzuziehen und allenthalben eine kräftige Pro­paganda zu machen. Ihre Forderungen aber sollten sein:* 1. Achtstündiger Arbeitstag.

2. Für gleiche Arbeit gleiche Bezahlung.

3. Selbstbestimmung der Frau über ihren Lohn.

4. Enthaltung der Frau von aller Fabrik- und Landarbeit je zwei Monate vor und nach der Geburt eines Kindes.

Die Sympathie aller rechtlich denkenden Männer folgte dieser begonnenen Erlösungsarbeit mit ungeteiltestem Wohlwollen. Da wurde dem friedlichen Schaffen durch das böse Jahr 1898 eine jähe Unterbrechung.

Es hatte sich viel Zunder gehäuft. Die Regierung und die mit ihr verbündeten herrschenden und besitzenden Klassen hatten dem schnellen Wachstum des Sozialismus mit giftigstem Neide und mit blankem Schrecken zugeschaut. Die hier und dort erreichten besseren Arbeitsbedingungen des Proletariats, das starke Eindringen sozia­listischer Weltanschauung in die Kreise der moralisch und intellektuell besten der herrschenden Klassen, die Kreise der Gebildeten und Künstler, galten schon längst als Anzeichen einer kommenden Sintflut. Man tat deshalb von Regierungsseiten alles, dieses möglichst zu verhindern, und zwar glaubte man das am besten tun zu können, wenn man in diesem Punkte das Rezept der sonst nicht mit Unrecht selbst von der italienischen Bourgeoisie als roh und barbarisch bezeichneten Bismarck­schen Blut- und Eisenpolitik befolgte.

Äußere Veranlassung dazu gaben die zu Beginn des Jahres 1898 besonders häufig auftretenden und allerdings sich auch ziemlich heftig äußernden Streiks, an welchen wiederum das wahnwitzige Über- und gleichzeitig Unterproduktionssystem des Kapitalismus, in diesem Falle eine große Brotverteuerung, die Schuld trug.

Dabei lagen die Dinge so: Die herrschenden Klassen, zumal die Regierung mit ihrem ganzen Apparat, waren einer blutigen Lösung der sozialen Frage, wie bereits gesagt, keineswegs abgeneigt. Die Kapitalisten, die sich eben erst an die Tatsache, daß es außer ihnen bei Bestimmung des Lohnes noch einen zweiten Faktor gab, der mit­sprechen wollte, zu gewöhnen angefangen hatten, benutzten natürlich

* Anna Kulischoff: Alle Donne Italiane!" Per le Elezioni Poli­tiche. Mailand 1897, S. 9.

Träumend ruhte mein Auge auf all der Pracht, der Pracht und großartigen Herrlichkeit eines Abends, der mit seiner Stille und großen Erhabenheit uns so mächtig ergreift und fortreißt, uns die Brust vor Sehnsucht schwellt. Eine tiefe, heilige Ruhe umgab mich; jene süße, geweihte Ruhe, nach welcher sich das müde, von Sorgen gequälte Herz verzehrt, jene Ruhe, welcher wir nie im Weltgetriebe, in Kampf und Mühen habhaft werden können.

Es war so herrlich, so wunderbar schön draußen in Wald und Flur, wo alles Liebe atmete, alles so harmonisch ineinander griff in Werden und Gestalten, Vergehen und Entstehen. Ja, ein Band der innigsten Harmonie umschlang die Bäume, Gräser und Blüten, die Schmetterlinge und Drosseln, und all die tausendfältigen Dinge. Alle diese Wesen und Dinge lebten und wirkten, freuten sich als Glieder einer endlosen Kette, ihren Teil zur Harmonie der Gemeinschaft bei­tragen zu können. Sie alle, vom kleinsten Würmchen bis zum versteck­testen Blümchen, waren verzeichnet im Buche des Lebens, waren be­rechtigt, an Leben, Liebe und Freude Anteil zu haben. Wie glücklich, wie schön!

Da schweiften meine Blicke ins Tal hernieder, dorthin, wo die fleinen, ärmlichen Hütten standen, in welchen die Verzweiflung ihre Opfer würgt, und die Unwissenheit thront; in welchen Armut und Elend hausen und aus liebreizendem Kinderauge Träne um Träne pressen. Dort weiterhin ragten mächtige Fabrikschlote troßig ins Land hinaus und verkündeten schwarz und düster die Schreckensherrschaft des Kapitals, dessen Macht die Menschen zu harter Fron in kahlen Mauern zwingt. Ich sah die Schreckgestalt des Elends durchs liebliche Tal hinken; ich hörte den gellenden, markerschütternden Schmerzensschrei verzweifelnder Mütter; das leise, wehdurchzitterte Wimmern hungern­der Kinder; den harten, grausigen Fluch der Väter. Eine endlose Schar von Kranken, Krüppeln, siechen Greisen und zarten kleinen