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gelten möge: Gehet hin und tuet desgleichen!

Aus der Bewegung.

Familienleben, für die Selbstbildung, für ein menschenwürdiges Dasein| Ich wünsche, daß vom Geiste dieser Lehre für ihn und seinesgleichen überhaupt zu erringen. Es ist schnöder Mißbrauch der Religion, es für sündhaft zu erklären, daß die Arbeiter sozialdemokratisch wählen, um durch die Gesetzgebung mehr Rechte, mehr Schuh, mehr Bildung zu erringen und die Lasten zur Erhaltung des Staates gerechter ver­teilt zu sehen. Solche Bestrebungen haben mit der Religion absolut nichts zu tun. Die Sozialdemokraten fordern die Erklärung der Religion zur Privatsache. Sie wollen also niemand seine Religion streitig machen, sich aber auch von niemandem in ihre eigenen reli­giösen Anschauungen, in ihr Seelenleben dreinreden lassen. Sie ver­werfen den auch von Ihnen vorhin so scharf kritisierten, scheußlichen Gewissenszwang."

" Bebel hat aber im Reichstag erklärt, die Religion müsse bekämpft werden", beharrte der Predigeramtskandidat.

,, Als Sie den Namen Bebel nannten", bemerkte ich, glaubte ich, Sie wollten daran erinnern, daß Bebel im Reichstag einmal den Heineschen Vers zitierte: Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen."

Ja, das kann auch ein gläubiger Christ nicht sagen", trium­phierte mein Gegenpart.

,, Bebel ist auch kein gläubiger Christ", war meine ruhige Er­widerung. Er ist Atheist und hat niemals ein Hehl daraus gemacht, aber auch von keinem gläubigen Christen verlangt, daß er ebenfalls Atheist werden müsse. Da es Bebel mit seinen Anschauungen sehr ernst nimmt, werden Sie ihm doch wohl zubilligen, was Sie vorhin für den sächsischen König gefordert haben: daß man ihn wegen seiner ehrlichen Überzeugung achten müsse."

Onein!" protestierte lebhaft unser angehender Prediger, jeden mit derartigen Anschauungen betrachte ich als meinen Feind, den ich zu bekämpfen habe."

Ei, da sind Sie ja weit intoleranter als Christus, der seinen Jüngern einen Heiden als Vorbild aufstellte, und ihnen empfahl, , gehet hin und tuet desgleichen', weil der Heide ein guter Mensch

war

"

Wurde da aber unser Reisegefährte aufgeregt! Wo, wo steht das?" rief er, ich habe zufällig das neue Testament bei mir."

" Ich bin fein Predigeramtskandidat", erwiderte ich und habe die einzelnen Kapitel der verschiedenen Evangelien nicht im Gedächtnis. Ich denke aber, die angeführten Worte sind im Gleichnis von dem barmherzigen Samariter zu lesen."

,, Sankt Jakob!" rief der Schaffner. Ich mußte aussteigen, ebenso mehrere der Frauen, die mit offenem Munde zugehört hatten. Ich empfahl mich dem Herrn Predigeramtskandidaten, indem ich ihm sagte, es sei etwas Schönes um die Lehre des Nazareners: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Das Wort atme förmlich Toleranz.

Also auch sie. Aber ihre natürliche Einfachheit stieg nicht in die Tiefen der unbefriedigten Seele. Sie blieb am Symbol haften. Der Weihnachtsbaum würde die Unruhe des Herzens be­schwichtigen. Das war ihr Glaube.

Fast zaghaft ergriff Breuer die Hand seiner Frau.

"!

Mußt du denn durchaus einen Baum haben?"

Er zog sie nieder aufs Sofa.

Ste antwortete nicht. Jezt, da sie seine Hand fühlte und seine Nähe auf sie einwirkte, erschien ihr der Wunsch fast kindisch. Und wie eine Erfenntnis tam es über sie.

Nach der Liebe verlangte sie, die dem Weihnachtsfest die Weihe gibt. Die Liebe, die wie der Lichttag, dessen Verjüngung man feiert, sich immer wieder erhebt, immer wieder erneut zu gleicher Stärke, zu gleicher Herzenserfüllung.

Wie ein Geschenk empfing Christine den Arm, der sich jetzt um ihre Hüfte legte. Es war lange her, als er es das letzte Mal tat.

Eng aneinander geschmiegt saßen die beiden Eheleute und schauten mit weit geöffneten sinnenden Augen in die Nacht, die nun hereingebrochen war. In beiden stieg das Gefühl der Zu­sammengehörigkeit, der gegenseitigen Unentbehrlichkeit mächtig empor. Damit auch zugleich jener Friede des Herzens, der uns den Kampf des Lebens tragen läßt, der Friede mit uns selbst, mit unserer Liebe und unserem Haß.

Stumm tauschten sie Zwiesprache und Gelöbnis. Und während in den Nachbarhäusern die Kerzen aufflammten, empfingen sie von­einander das Weihnachtsgeschenk, die Erweckung und Erneue rung einstiger reicher und lebensstarker Liebe.

Von der Agitation. Auf Veranlassung des Fabrik, Land, Hilfsarbeiter und Arbeiterinnenverbandes fanden im Gau 16, Rheinland   und Westfalen  , in folgenden Orten öffentliche Versamm lungen statt: Aachen  , Köln  , Kalk, Kuppersteg, Mülheim, Nippes  , Ehrenfeld  , Elberfeld  , Düsseldorf  , Duisburg  , Ober­ hausen  , Essen, Soest  , Dortmund  , Gevelsberg  , Hagen   und Bielefeld  . Genossin Kähler behandelte die Themata: Der Ar­beiterklasse Kampf um das Dasein";" Wer verschuldet das Elend der Massen?" Die Versammlungen erfreuten sich durchweg eines guten Besuchs. Das ist um so mehr anzuerkennen, wenn man bedenkt, daß gerade im laufenden Jahre betreffs des Versammlungs­besuchs große Ansprüche an die Arbeiterklasse gestellt werden mußten. Die entfaltete Agitation brachte dem Verbande zirka 160 Mitglieder und drei neugegründete Zahlstellen. Wer da weiß, wie ungemein schwierig die Situation in Rheinland   und Westfalen   für die Ent­wicklung der modernen Arbeiterbewegung ist, wie langsam sie in diesen Hochburgen der kapitalistischen   Ausbeutung vorwärts schreitet, der wird jeden neueroberten Fuß Boden schätzen. Die in den letzten Jahren erzielten Fortschritte sind aber sehr bedeutende. Trotz stark entwickelter, scharfmacherischer Unternehmerverbände, troß Dunkel­männerherrschaft! Nach dem Bericht der Agitationstommission für Rheinland- Westfalen   sind dort 852 Ortsgruppen der freien Gewerk­schaften vorhanden, ein erfreulicher Beweis dafür, daß die Auf­flärung der Massen rüstig vorwärts schreitet. Möchten die neu für die Gewerkschaftsorganisation gewonnenen Mitglieder voller Mut und Ausdauer den Kampf für mehr Brot und besseres Brot erfolg­W. K. reich führen.

Öffentliche Frauenversammlungen tagten Mitte November in Halle a. S. und in Schteudig. Genossin Kähler sprach über das Thema: Der Arbeiterfrauen Kampf um Brot und Recht." Die Ausführungen der Referentin über die elenden Lohn­und Arbeitsverhältnisse der weiblichen Arbeiter, sowie ihre Kritik des winzigen Arbeiterinnenschutzes und der noch winzigeren Arbeiterinnenrechte fanden bei den Anwesenden ungeteilte Zustimmung. Dieselben versprachen durch Annahme einer Resolution, treu und unentwegt in wirtschaftlichen und politischen Kämpfen die Bestrebungen W. K. der Männer des werktätigen Voltes zu unterstützen.

In Hamburg   fand am 3. Dezember eine Frauenversamm= lung statt, in der die Vertrauenspersonen der Genossinnen Be­richt erstatteten und Abrechnung ablegten. Ihre Einnahmen betrugen insgesamt 1138,59 Mark, die Ausgaben stellten sich auf 579,85 Mart. Etwa 1200 politisch organisierte weibliche Mitglieder zählen. die sozialdemokratischen Vereine Hamburgs  . 600 Abonnenten der ,, Gleichheit" bekommen diese durch die Genossinnen zugestellt. Den ausführlichen Jahresbericht veröffentlichen wir demnächst. Als zweiter Punkt stand Der Kampf der Grimmitschauer Weber und Weberinnen" auf der Tagesordnung. Genossin Ziet als Referentin wies zunächst die sozialpolitische Bedeutung des Kampfes nach, um dann diesen selbst in seinen einzelnen Phasen zu schildern. Sie forderte zur energischen Unterstützung der heldenmütigen Kämpfer auf und machte unter Hinweis auf die Leiden des Winters für die Armen und das bevorstehende Weihnachtsfest, das Fest der Liebe, im Namen der drei Vertrauenspersonen den Anwesenden den Vor­schlag, in allen Stadtteilen Annahmestellen für Klei­dungsstücke, Fußzeug, Spielsachen und solche Nahrungs­mittel, die das Aufbewahren und Verschicken vertragen, zu errichten, um so Weihnachtsgaben für die Grimmit­schauer zu sammeln. Einstimmig wurde dieser Vorschlag zum Beschluß erhoben. Es meldeten sich sofort eine Reihe von Genossinnen, die sich bereit erklärten, die Gaben in Empfang nehmen zu wollen. Genosse Zabel vom Wirtsverein versicherte, daß sämtliche Mitglieder dieser Organisation ebenfalls bereit seien, in ihren Lokalen Sammel­stellen zu errichten. Die organisierte Arbeiterschaft Deutschlands   und nicht zuletzt Hamburgs wird Sorge tragen, daß die braven Grimmit­schauer Kämpfer am Fest der Liebe" nicht zu darben brauchen, wie dies die Textilbarone in christlicher Nächstenliebe" sehnlichst wünschen. Im Gegenteil soll den Tapferen ein Weihnachtsfest bereitet werden, wie sie es noch nie gefeiert haben. Die Tellersammlung für die Aus­gesperrten ergab 23,50 Mart, denen noch 30 Mark aus der Kasse L. Z. beigefügt wurden.

Bericht über den Sozialdemokratischen Wahlverein der Frauen Berlins   und Umgegend für die Landtagswahl 1903. Sogleich nach Bekanntgabe des Termins für die preußischen Land­tagswahlen erfolgte am 24. September 1903 die Gründung der Organi­